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VERSUCHSREIHE 17: Im Dunkel der Nacht - Krimis aus der DDR, Band 5
VERSUCHSREIHE 17: Im Dunkel der Nacht - Krimis aus der DDR, Band 5
VERSUCHSREIHE 17: Im Dunkel der Nacht - Krimis aus der DDR, Band 5
eBook331 Seiten4 Stunden

VERSUCHSREIHE 17: Im Dunkel der Nacht - Krimis aus der DDR, Band 5

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Über dieses E-Book

In einer Kleinstadt an der Ostsee kommt es zu einer Explosion in einem Chemiebetrieb. Den Kriminalisten Olsen und Knecht erscheinen die Ursachen zunächst rätselhaft. Ungeklärt bleibt anfangs auch das Verschwinden der Chemiker Dr. Kiefer und Dr. Banger, bis deren mysteriöser Tod festgestellt wird. Im Laufe der Ermittlungen verdichtet sich immer mehr die Vermutung, dass beide Wissenschaftler eine Entdeckung gemacht haben, die sich zu einer Bedrohung der Menschheit ausweiten könnte. Ein Einbruch in der Wohnung der Doktoren zeigt, dass sich bereits andere für die Forschungsunterlagen interessieren...

Versuchsreihe 17 von Rainer Fuhrmann (* 11. September 1940; † 3. November 1990) ist ein Klassiker aus der Spätphase der DDR-Krimi-Literatur und erschien erstmals im Jahr 1988: ein spannender Kriminalroman mit Science-Fiction-Elementen und verblüffender Lösung.

Versuchsreihe 17 erscheint in der Reihe Im Dunkel der Nacht – Krimis aus der DDR im Apex-Verlag.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum30. Nov. 2020
ISBN9783748766308
VERSUCHSREIHE 17: Im Dunkel der Nacht - Krimis aus der DDR, Band 5

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    Buchvorschau

    VERSUCHSREIHE 17 - Rainer Fuhrmann

    Das Buch

    In einer Kleinstadt an der Ostsee kommt es zu einer Explosion in einem Chemiebetrieb. Den Kriminalisten Olsen und Knecht erscheinen die Ursachen zunächst rätselhaft. Ungeklärt bleibt anfangs auch das Verschwinden der Chemiker Dr. Kiefer und Dr. Banger, bis deren mysteriöser Tod festgestellt wird. Im Laufe der Ermittlungen verdichtet sich immer mehr die Vermutung, dass beide Wissenschaftler eine Entdeckung gemacht haben, die sich zu einer Bedrohung der Menschheit ausweiten könnte. Ein Einbruch in der Wohnung der Doktoren zeigt, dass sich bereits andere für die Forschungsunterlagen interessieren...

    Versuchsreihe 17 von Rainer Fuhrmann (* 11. September 1940; † 3. November 1990) ist ein Klassiker aus der Spätphase der DDR-Krimi-Literatur und erschien erstmals im Jahr 1988: ein spannender Kriminalroman mit Science-Fiction-Elementen und verblüffender Lösung.

    Versuchsreihe 17 erscheint in der Reihe Im Dunkel der Nacht – Krimis aus der DDR im Apex-Verlag.

    Der Autor

    Rainer Fuhrmann,  (* 11. September 1940; † 3. November 1990).

    Rainer Fuhrmann war ein deutscher Science-Fiction-Schriftsteller.

    Fuhrmann erlernte den Beruf des Drehers, arbeitete als Mechaniker, erwarb den Meisterbrief als Mechaniker-Meister, brach ein Studium der Maschinenbautechnologie ab, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben, und arbeitete als wissenschaftlich-technischer Mitarbeiter und Konstrukteur, bevor er 1980 freischaffender Schriftsteller wurde. Viele Jahre seines Berufslebens war er in der Orthopädietechnik tätig, und seine dabei gewonnenen Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen sind in einigen seiner Werke spürbar.

    Rainer Fuhrmann galt als einer der herausragenden Autoren der Science Fiction in der DDR. Er thematisierte 1977 unter anderem Gen-Manipulation am Menschen in dem Roman Homo Sapiens 10-2, in welchem das Experiment eines skrupellosen Wissenschaftlers dazu führt, dass eine Gruppe von Menschen miniaturisiert wird, bis sie an die Grenzen der Physik stoßen.

    Zu Fuhrmanns bekanntesten Werken zählen die SF-Romane Homo Sapiens 10-2 (1977), Das Raumschiff aus der Steinzeit (1978), Planet der Sirenen (1981), Medusa (1985) sowie Kairos (1996), der erst nach dem Tod des Autors erschien und welcher gemeinhin als Fuhrmanns Abrechnung mit der DDR gilt.

    Darüber hinaus schrieb er – neben zahlreichen Kurzgeschichten und Erzählungen – die utopischen Kriminalromane Per Kippschalter (1981), Herzstillstand (1981),  Zweimal vierundzwanzig Stunden (1982) und Kantharidin (1985), die allesamt in der legendären Reihe Blaulicht erschienen.

    Der Apex-Verlag widmet Rainer Fuhrmann eine umfangreiche Werkausgabe.

    VERSUCHSREIHE 17

    Erstes Kapitel

    Olsen schob die leere Kaffeetasse an den Rand des Schreibtisches, lehnte sich zurück. Wickelte einen in grellfarbenes Papier verpackten Kaubonbon aus und steckte ihn in den Mund. Gnautschte. Betrachtete das Büro, als hätte er es soeben zum ersten Mal gesehen, obwohl sein Name auf dem immer noch provisorischen Schild an der Tür bereits seit Jahren vergilbt war. Es hatte sich nichts verändert, von gelegentlichen Renovierungen abgesehen. Neben der Tür stand ein Garderobenschrank, ein Terminal, auf der anderen Seite ein Aktenschrank und zwei Hängeregale. Zwischen den Fenstern zwei mit der Stirnseite aneinandergeschobene Schreibtische, davor zwei Besucherstühle. Im Übrigen ein Telefon, eine Wechselsprechanlage, ein grünlackierter Panzerschrank und ein dahinsiechender Gummibaum. Nüchtern, ungemütlich. Der Gedanke, in diesem Büro sein Leben bis zum Ruhestand zu verbringen, hatte wenig Erhebendes an sich. Und trotzdem war es eine Art Zuhause. Vielleicht, weil man zwischen seinen Ansprüchen eine scharfe Grenze zog: Zu Hause war es zu gemütlich, um zu arbeiten - und hier wollte man nicht wohnen.

    Er betrachtete den emsig schreibenden, keine Sekunde aufblickenden Kollegen gegenüber. Der zweiunddreißigjährige Joachim Knecht war erst vor vier Wochen aus der Hauptstadt gekommen. Versetzt worden. Wohl kaum freiwillig, denn welchen Grund könnte es für den durch die Mittel eines gut ausgerüsteten Apparates verwöhnten und von einer Vielzahl von Experten und Kriminaltechnikern unterstützten Kollegen geben, sich in ein ereignisloses Kreisstädtchen an der Küste versetzen zu lassen? Von den Annehmlichkeiten einer Großstadt mit ihren Theatern, Kinos, Restaurants, Konzerten und sonstigen Veranstaltungen abgesehen! Wegen der - zugegeben - schönen Landschaft war der sicherlich anspruchsvolle Mann gewiss nicht gekommen. Warum dann? War Knecht den Kollegen in der Hauptstadt unangenehm aufgefallen, hatte er etwas verbockt? Ein Mann, der so sachlich und mit preußischer Akribie seine Aufgaben erledigte? Schwer vorstellbar. Jedenfalls stellte sich der Chef, Hauptmann Packer, auf vorsichtige Fragen kurz angebunden. Also wusste er auch nichts.

    Olsen löste den Blick von dem über sein Papier geneigten dunkelblonden, bereits schütteren Haarschopf gegenüber, stand auf und trat zum Fenster. Obwohl es in der ersten Etage lag, war es überflüssigerweise vergittert. Das zweistöckige Gebäude lag an der Haupt- und Geschäftsstraße des Städtchens, das man mit dem Wagen innerhalb von fünf Minuten in voller Länge durchfahren konnte. Die Querstraße auf der anderen Seite führte zur Mole hinunter. In dem schmalen Durchblick, den die niedrigen Häuser gestatteten, sah Olsen zwei Kutter der Küstenfischerei einlaufen.

    Er blickte auf die Uhr. In einer Viertelstunde war Dienstschluss. Die Sonne stand noch hoch über der See, aber über Land zogen bereits die ersten niedrig hängenden Abendwolken heran. Es stand ein langes Wochenende bevor. Kein Dienst. Mal sehen, was man anstellen konnte. Nachher rüber zur Mole gehen und den Fischern der Genossenschaft für morgen Mittag einen interessanten Beifang abschwatzen. Wäre kein Problem, da jeder jeden kannte. Abends vielleicht ins einzige Kino des Ortes oder in die Disco, ein bisschen tanzen und - mit ein wenig Glück - 'ne Freundin an Land ziehen. Wäre allerdings ein Problem, weil jeder jeden kannte. Es wäre sofort herum, von einem Ende zum anderen, dass diese oder jene jetzt mit Olsen, dem Bullen, ging. Darin unterschied sich dieses Städtchen nicht von seinem Geburtsort, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Hier wie dort interessierten sich die Menschen zunächst für fremde und erst später für die eigenen Belange. Wobei dieses Interesse durchaus gute Seiten zeigte. Es verlieh den Menschen das Gefühl, zu einer großen Familie zu gehören. Das war wärmer als die Anonymität in einer Großstadt, gab das Empfinden, daheim zu sein. Er könnte sich aus diesem Grunde niemals an eine Großstadt gewöhnen. Seine Welt waren Orte wie dieser, auch wenn sie zuweilen langweilig schienen, weil nichts geschah. Ja, was geschah hier schon: Tötung nachbarlicher Hühner, weil sie in fremden Beeten gescharrt hatten. Dagegen wirkte ein kürzlich aufgeklärter Scheckbetrug wie der absolute Gipfel krimineller Verworfenheit. Vor fünfzehn Jahren soll es zwischen zwei Fischern wegen einer Frau - natürlich wegen einer Frau! - zu einer Auseinandersetzung gekommen sein, die zu einer schweren Körperverletzung führte. Und im Dezember des vergangenen Jahres gab es angeblich sogar einen missglückten Entführungsversuch. Ausgerechnet als er sich in Urlaub befand! Ein paar dürftige Beweise, Zeugenaussagen... Aber hier wurde ja alles aufgebauscht, jeder noch so lächerliche Vorfall in den Rang einer Sensation gehoben, jeder Möwenschiss zur Staatsaktion gemacht.

    Im Nordosten, über der im weichen Bogen verlaufenden Küstenlinie, leuchtete für den Bruchteil einer Sekunde die Wolkendecke auf, als wäre sie von unten mit einem Blitzlicht angestrahlt worden.

    Einen Augenblick später rollte ein gedämpfter, aber scharfer Knall über das Städtchen hinweg.

    Olsen riss das Fenster auf.

    Das war im Chemiewerk!

    Nach einer Atempause schwang sich irgendwo eine Sirene zu einem nervtötenden Dauerton auf. Aus dem Friseursalon auf der anderen Straßenseite stürzten zwei Männer. Einer trug noch einen Latz und wirre nasse Haare, der andere versuchte sich im Laufschritt den Kittel vom Leib zu reißen. Die freiwillige Feuerwehr. Aus allen Richtungen hetzten noch einige Männer heran, folgten dem Friseur und seinem Kunden um die Ecke in die Querstraße. Gleich darauf grellte ein Signal und ein Löschzug bog auf die Hauptstraße in nördlicher Richtung ein.

    Es war kein Rauch zu entdecken, obwohl Olsen starrte, bis ihm die Augen zu schmerzen begannen. Er spürte neben sich eine Bewegung.

    Knecht war zu ihm getreten. »Sagen Sie, könnte etwas geschehen sein?«

    Olsen warf ihm einen kühlen Blick zu. »Vermutlich macht die Feuerwehr einen Betriebsausflug.«

    »Sie standen die ganze Zeit am Fenster. Es läge doch im Bereich des Möglichen, dass Sie etwas gesehen haben«, erwiderte Knecht.

    Olsen schämte sich einen Moment für die patzige Antwort. Warum rutscht mir so was raus, fragte er sich, ich kann mich doch über Knecht nicht beklagen. Jedenfalls gibt er mir niemals solche Antwort. »Anscheinend hat's im Chemiewerk geknallt. Im Ort sind wir uns alle darüber einig, dass die Bude eines Tages in die Luft fliegen wird, auch wenn dort nur Pflanzenschutzmittel hergestellt werden.« Er blickte auf die Uhr. »Fünf Minuten vor Dienstschluss. Schätze, das Wochenende dürfen wir getrost streichen.«

    Aus den Seitenstraßen ertönte ein Signal und wenig später fuhr ein Krankenwagen im hohen Tempo die Hauptstraße hinunter in die gleiche Richtung, die der Löschzug eingeschlagen hatte.

    Die Wechselsprechanlage auf dem Tisch knarrte. Die Stimme des »Alten«: »Olsen - zu mir!«

    Er seufzte. »Bitte, was habe ich gesagt?«

    Als sie vor dem zurückgeschobenen Gitter am Pförtnerhäuschen hielten, fuhr gerade der Löschzug vom Gelände. Der Pförtner trat heran, lehnte sich ins offene Wagenfenster, streifte Knecht mit einem uninteressierten Seitenblick, reichte Olsen die Hand. »Ah - der Herr Kriminalhauptdirektor!«

    »Puh«, sagte Knecht und kurbelte hastig das Fenster hinunter.

    »Tag, Bertold. Was ist bei euch los?« Olsen wandte das Gesicht zur Seite, denn er kannte den Pförtner als einen Menschen, der durch den Umstand, dass Zwiebeln und Knoblauch den ersten Platz seiner Lieblingsspeisen hielten, für seinen Atem eigentlich einen Waffenschein benötigte.

    Bertold blies die Backen auf. »Es hat mächtig gewaltig gescheppert.« Er zeigte auf den Löschzug. »Aber nicht gebrannt, Gott sei's gelobt. Unsere Betriebsfeuerwehr ist auch schon wieder abgerückt.«

    »Wo ist das geschehen?«, fragte Knecht mit verkniffenem Mund.

    »Drüben, in der Forschungsabteilung«, erwiderte Bertold, als hätte Olsen die Frage gestellt. »Ziemliche Hektik gerade.«

    Quer über den Rasen eilte ein untersetzter Mann im offenen weißen Kittel heran, riss die hintere Wagentür auf und schob sich auf den Rücksitz. »Tag, Olsen! Ich habe schon auf Sie gewartet. Wahrscheinlich 'ne Bombe. Gebäude Nummer vier. Fahren Sie, schnell!«

    Die Chemiefabrik Alfred Nobel befand sich außerhalb des Ortes in einem parkähnlichen Gelände, das sich parallel zum Strand auf eine Länge von fast einem Kilometer erstreckte. Es war von einem hohen Zaun umgeben, von vielen kleinen betonierten Fahrbahnen durchzogen. Auf der einen Seite befand sich ein Kindergarten, zweihundert Meter weiter ein barackenähnlicher Verwaltungsbau, danach ein lichter Buchenhain, hinter dem das Produktionsgebäude lag. Viele Springbrunnen und Gartenbänke. Am Nordende des Geländes, als würde es nicht dazugehören, stand ein Flachbau von etwa dreißig mal zehn Metern, mit der schmalen Seite zum Strand. Dort war eine Terrasse vorgelagert, auf die in der vollen Breite des Hauses die Glasfront des Sitzungssaales blickte.

    Der schmale Weg endete vor dem Forschungsgebäude auf einem Parkplatz. Eine Anzahl Menschen lief scheinbar ziellos in der Umgebung herum. Auf dem Geländer der Terrasse saß ein Mann und ließ sich von einem Sanitäter ein Heftpflaster an die Stirn kleben. Zwei andere fochten auf dem Rasen trotz der unübersichtlichen Situation scherzhaft mit ihren Besen. In mehreren Gruppen standen Neugierige herum, gafften und debattierten heftig.

    Die Terrasse war in die mit Büschen und hohen Gräsern befestigten Dünen hineingebaut. Ein Schild forderte auf, nur die Wege zu benutzen.

    Der weißbekittelte Mann sprang aus dem Wagen und hastete vor ihnen die aus Wegeplatten gefügte Treppe zur Terrasse hinauf.

    Knecht blickte ihm nach. »Wer ist eigentlich dieser Herr?«

    »Lindert, der Hauptabteilungsleiter Forschung und Entwicklung«, antwortete Olsen. »Wenn Sie ein paar Jahre hier sind - falls Sie bleiben -, werden Sie es auch nicht mehr nötig haben, sich die Personalausweise zeigen zu lassen.«

    Knecht presste die Lippen zusammen.

    Lindert blieb oben stehen und breitete theatralisch die Arme aus.

    Die Türen vom Konferenzraum zur Terrasse standen offen und waren alles, was heil geblieben schien. Die gesamte Front der von der Decke bis zum Boden reichenden Fenster bestand aus leeren Höhlen. Der Boden der Terrasse war bis zum Geländer voller Glasscherben, Papierfetzen und zerbrochener Stühle. Einige waren sogar bis in die Dünen geflogen.

    Sie blieben in der Eingangstür stehen. Der Konferenzsaal sah verwüstet aus: Umgeworfene Stühle und Tische, zerbrochene und unversehrte Gläser und Flaschen - aber keine Splitter von den Fenstern. Die Tür zum Korridor hing in einer Angel - seltsamerweise in den Saal hinein. An der Wand daneben befand sich ein schwarzer Fleck, der sich kegelförmig bis zur Decke hinaufzog und dort ein kreisförmiges Feld bildete.

    Durch die Terrassentür drängte eine Anzahl Mitarbeiter, offenbar mit der Absicht, aufzuräumen. Lindert scheuchte sie mit einer Handbewegung zurück. »Unangenehme Sache«, sagte er, »ausgerechnet eine Stunde vor Schluss der Veranstaltung musste das passieren. Verdammt unangenehm.«

    »Was für einer Veranstaltung?«

    »Eine Konferenz, ein Symposium mit internationaler Beteiligung«, erwiderte Lindert.

    Knecht räusperte sich. »Sagen wir treffender: Eine Tagung, ein Erfahrungsaustausch auf halb offizieller, halb privater Ebene, zu dem einige ausländische Gäste geladen wurden. Die Zusammenkunft Konferenz zu nennen, wäre zu hoch angebunden.«

    Olsen drehte ihm steif den Kopf zu. »Woher wissen Sie das?«

    »Es stand in der Zeitung.«

    Olsen nickte. Er konnte sich zwar nicht erinnern, darüber eine Notiz gelesen zu haben, aber das wollte nichts besagen. Er blätterte eine Zeitung stets nur von hinten auf, las zuerst den Witz, die Sportseite und die Lokalnachrichten mit gespanntem, das übrige Weltgeschehen mit erlahmendem Interesse und schließlich nur noch die Schlagzeilen. Gut möglich, dass ihm dadurch der Bericht über die Tagung durch die Lappen gegangen war. »Die Explosion hat in diesem Raum stattgefunden«, sagte er, »daran ist nicht zu zweifeln. Die Fenster sind nach außen gedrückt worden.« Er wandte sich an den Hauptabteilungsleiter und zeigte auf den schwarzen Fleck. »Was stand hier?«

    »Das Rednerpult«, erwiderte Lindert. Er wies mit dem Kinn auf den Pfeiler zwischen zwei Fenstern. »Dort liegt es. Sieht nicht gut aus.«

    Olsen stieg über einige umgeworfene Tische hinweg und hockte sich nieder. Die innere, dem Redner zugewandte Seite des Pultes war rußgeschwärzt. Es war massiv gebaut und, obwohl es mit gewaltiger Kraft an den Pfeiler geschmettert wurde, nicht zersplittert.

    Er fasste mit spitzen Fingern zu, zog einen elastischen dünnen Fetzen vom Holz und betrachtete ihn. Er hinterließ einen hellen Fleck auf dem unbeschädigt aussehenden Furnier.

    »Das ist ein Stück Stoff«, sagte er. »Könnte von einem Kleidungsstück stammen.«

    Lindert zog schweigend die Schultern hoch.

    »Wir sollten nichts berühren, bevor Herr Doktor Brambach, den uns der Chef nachzuschicken versprach, die Untersuchung nicht abgeschlossen hat.«

    Als hätte er auf dieses Stichwort gewartet, trat Doktor Brambach durch die Tür. Ein Mann, dem schalkhaft nachgesagt wurde, dass, wenn er sich aus dem Fenster beuge, seine Frau im Zimmer das Licht einschalten müsse. Eine Gestalt, die alle Menschen neben ihm als kleinwüchsige Vertreter derselben Spezies erschienen ließ: Zwei Meter zehn Körperhöhe, das Format einer Betonmischmaschine, breites, freundliches Gesicht mit geröteter Nase, Arme wie der Ausleger eines Autokranes, Hände wie Schaufeln, ein ungeheurer, vorquellender Bauch. Der Boden dröhnte unter seinen Schritten. Ein menschlicher Berg. Aber mit einer hellen, pfeifenden Fistelstimme, die man bei ihm zuletzt erwartet hätte. Kriminaltechniker, seit zwei Jahren im Ruhestand. Er bewohnte ein kleines Haus auf der Anhöhe, mit Blick knapp über die Dächer des Städtchens und auf das Meer. An sein Grundstück grenzte das Gelände der vier Touristenhotels, der sogenannten Hotelstadt - geschmackvoll in die hügelige Küstenlandschaft gestellte Zweiundzwanziggeschosser im freundlichen Grau, die von weitem wie Felsen wirkten. Wegen Brambach wurde ihnen bisher die Zuweisung eines Kriminaltechnikers verweigert. »Ihr habt doch Brammi«, hieß es stets aus der Bezirkshauptstadt. »Er ist zwar im Ruhestand, aber für die Bagatellen, die bei euch passieren, könnt ihr ihn auf Honorarbasis verpflichten.«

    Brammi - Brambach warf einen prüfenden Blick in die Runde, schniefte und drückte Knecht den Bereitschaftskoffer, den er wie ein Reisetäschchen geschwenkt hatte, in die Hand. Knecht ging mit einem Ruck in die Knie.

    »Hübsch hässlich, min Jung«, sagte Brambach mit einem spöttischen Blick zu Knecht, der sich mit knallrotem Kopf bemühte, den Koffer anzuheben. »Na, an die Arbeit.« Er richtete einen umgestürzten Tisch auf, nahm den Koffer wie eine Feder, stellte ihn auf die Platte und klappte ihn auf. »Mir wäre lieber, ihr schleicht euch.«

    »Was liegt dahinter?«, fragte Olsen und zeigte auf die in nur einer Angel hängende Tür.

    »Ein Korridor. Von ihm gehen die Labors, das Archiv, ein Lagerraum und Doktor Kiefers Büro ab«, erwiderte der Hauptabteilungsleiter.

    Olsen blickte sich suchend um. »Was muss man hier tun? Es hochziehen und ausspucken?«

    »Ich glaube, die Toilette...«, begann Knecht mit erhobenem Zeigefinger, verstummte jedoch nach einer heftigen Handbewegung Olsens.

    Lindert stieg über einige mit gekreuzten Beinen am Boden liegende Tische hinweg und öffnete eine Tür deren Umrisse in der Holztäfelung nur schwach zu erkennen waren. Olsen blickte hinein. Ein kleiner Toilettenraum, schwarz gefliest. Unbeschädigt. »Kiefer ist der Forschungsleiter, nicht wahr? Wo finde ich ihn?«

    Lindert kehrte die Handflächen nach oben und schob die Unterlippe vor. »Keine Ahnung. Nach der Explosion ging hier alles drunter und drüber. Wir hatten ein paar Verletzte, die ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Vielleicht befindet er sich unter ihnen. Auch seinen Mitarbeiter, Doktor Banger, habe ich nicht gesehen. Übrigens sind sie nicht verpflichtet, sich bei mir abzumelden.«

    »Wo hielten Sie sich auf, als es passierte?«

    Lindert drehte sich um und zeigte in die entfernteste Ecke. »Dort saß ich, am Ende der Tischreihe. Ich hatte zwar weder etwas zu sagen noch sonst beizutragen, musste aber als offizieller Vertreter des gastgebenden Betriebes präsent sein.«

    »Wieviel Leute hielten sich im Raum auf?«

    »Zwölf Gäste, Kiefer und ich, also vierzehn.«

    »Und Banger?«

    »Der ging einige Sekunden vor dem Big Bang raus. Doktor Kiefer hatte ihn nach hinten geschickt, um irgendwelche Unterlagen oder eine Notiz zu holen.«

    »Nach hinten? Ins Büro?«

    »Ins Büro.«

    »Aha. Was war der Zweck der Veranstaltung?«

    »Doktor Kiefer hatte im Herbst vergangenen Jahres zu einer Tagung beziehungsweise zu einem Erfahrungsaustausch eingeladen. Thema: Der gegenwärtige Stand im Modus der Schadinsektenbekämpfung und Ablösung klassisch-chemischer durch chemisch-biologische Maßnahmen und Verfahren. Es waren Wissenschaftler aus allen Himmelsrichtungen gekommen, sogar ein Physiologe und ein Biologe.«

    »Bei einem Erfahrungsaustausch von Chemikern? Das finde ich aber merkwürdig«, sagte Olsen.

    »Ich habe es aufgegeben, mich über irgendetwas zu wundern«, gab Lindert zurück. »Doktor Kiefer gab mir eine Namensliste, ich ließ die Einladungen drucken und verschicken. Ich habe keine Fragen gestellt. Er würde sie mir auch nicht beantwortet haben.«

    »Ihnen - als Hauptabteilungsleiter? Ich meine...«

    Lindert seufzte tief. »Der Initiator der Veranstaltung war Doktor Kiefer. Er ging den offiziellen Weg, holte zuerst das Einverständnis der Betriebsleitung ein - für ihn problemlos -, danach das der Behörden und schließlich die Befürwortung des Forschungsministeriums. Alles ein bisschen großartig für die vergleichsweise kleine Gesprächsrunde, aber - nun ja. Sie sehen also, dass der Betrieb nichts mit der Tagung zu tun hatte und lediglich die Räume bereitstellte. Die Organisation freilich blieb mir überlassen. Ich ließ die Zimmer in den Hotels reservieren, die Mahlzeiten in den Restaurants sichern und sorgte für sonstige Zerstreuungen der Herren Wissenschaftler. Ich nenne mich zwar Hauptabteilungsleiter, und so steht es auch in meiner Kaderakte und auf dem Schild an meiner Bürotür, aber das ist nichts als ein Titel, um meine Gehaltsgruppe zu rechtfertigen. Die übliche Praxis, um subalterne Positionen zumindest finanziell attraktiver zu machen. Ein Kollege von mir - Ingenieurökonom wie ich - nennt sich Hauptabteilungsleiter für Investitionen, obwohl sämtliche Abteilungen nur aus ihm selbst bestehen und seine Arbeit die eines normalen Ökonomen ist. Doch als Hauptabteilungsleiter steht ihm natürlich eine höhere Gehaltsstufe zu. Punkt. Und bei mir musste sich die Leitung ebenfalls eine Lösung einfallen lassen, weil sie sonst niemanden gefunden hätte, der dämlich genug wäre, meine Arbeit zu machen.«

    »Junge, Junge«, sagte Olsen, »bei Ihnen hat sich allerlei angestaut.«

    Lindert tat einen wütenden Schnaufer. »In Wirklichkeit bin ich Mädchen für alles und Laufbursche der Doktoren Kiefer und Banger. Ich erledige den organisatorischen und verwaltungstechnischen Kram, der die Herren Akademiker über die Maßen belästigt, und ich schaffe herbei, was sie wünschen. Wenn mir Kiefer gesagt hätte, ich solle ihm ein paar Steine vom Planeten Pluto besorgen, wäre ich vom Betriebsdirektor abgebürstet worden, hätte ich nicht innerhalb von vierzehn Tagen geliefert.«

    »Raus jetzt«, fistelte Brambach.

    Olsen schob die in der Angel hängende Tür zur Seite und trat in den Korridor. Ihm auf den Fersen folgte Lindert. Knecht trottete wie ein Hündchen schweigend hinterher.

    Der zwei Meter breite Gang zog sich durch die gesamte Länge des Gebäudes. Am oberen Ende leuchtete das Rechteck der Eingangstür. Sie war vollständig aus dem Rahmen gerissen und lag auf dem Rasen. Die Lampen waren sämtlich zersplittert. Überall auf dem Boden lagen Scherben.

    Olsen blieb an der nächsten Tür stehen. Sie stand weit geöffnet. Das Holz des Rahmens war in der Höhe der Klinken ausgerissen, als hätte sich jemand dagegen geworfen.

    »Sie geht nach innen auf«, sagte Knecht, »sonst wäre sie wahrscheinlich ebenfalls aus dem Rahmen gedrückt worden. Ich nehme an, dass die Druckwelle der Explosion auch durch den Korridor fegte.«

    »Scharf beobachtet«, erwiderte Olsen. »Aber wie erklären Sie, dass die Eingangstür«, er zeigte auf das vordere Ende des Korridors, »nach draußen geflogen ist, aber die Tür zum Konferenzsaal nach innen, also in Richtung zur Explosion, steht?«

    »Vielleicht schwang sie zurück. Auch könnte die Druckwelle aus dem Saal die Tür zunächst in den Korridor gepresst und der anschließend entstandene Unterdrück sie wieder zurückgezogen haben.«

    »So ein starker Unterdrück?«, fragte Olsen spöttisch. »Obwohl alle Saalfenster auf der Terrasse lagen? Wo soll der Unterdrück hergekommen sein - bei dem Ventil? Das glauben Sie wohl selbst nicht.«

    »Oh - das habe ich nicht erwogen.« Knecht rieb sich die Nase.

    Olsen blieb auf der Schwelle stehen und blickte sich um. Ein normales chemisches Labor. Die Verwüstungen waren gering, die Fenster heil. Der Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors war ebenfalls ein Labor. Auch hier stand die Tür innen an der Wand. Der Anblick war der gleiche. Einige Meter weiter befand sich ein drittes Labor und auf der anderen Seite ein Vorratsraum. Im Labor war der quer zur Tür stehende Experimentiertisch leergefegt worden. Alles, was darauf gestanden hatte, bildete zwischen Fenster und Tisch ein Durcheinander von heilen und zerbrochenen Laborgläsern, Halterungen, Flaschen und Bunsenbrennern.

    Ein warmer Windstoß fegte durch den Korridor, wirbelte kleine Stofffetzen, Staub

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