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Gillermanns Tod
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eBook232 Seiten2 Stunden

Gillermanns Tod

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Über dieses E-Book

Voller Unruhe verläßt Hans Falkenbüttel die kleine thüringische Stadt. In Birkhalde, in seiner Sommerlaube, hofft er Ruhe zu finden. Doch es ist nicht Sommer, sondern der Tag nach Weihnachten. Und auch die Ruhe ist trügerisch: In seinem Schuppen liegt zwischen Brennholzstapeln eine alte, prallvolle Ledertasche. Die Tasche und die vielen gebündelten Geldscheine darin gehören Gillermann, den seit Tagen die Kriminalpolizei sucht, weil ihn ein Nachbar als vermißt gemeldet hat. Zwischen Weihnachten und Neujahr wird aus der Vermißtenmeldung ein Fall für die MUK, die sich durch einen Wust von Widersprüchen und Lügen hindurcharbeiten muß. Alle, die mit Gillermann zu tun hatten, versuchen offensichtlich, etwas zu verbergen.
SpracheDeutsch
HerausgeberDas Neue Berlin
Erscheinungsdatum15. Juli 2015
ISBN9783360501134
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    Buchvorschau

    Gillermanns Tod - Wolfgang Kienast

    Impressum

    eISBN 978-3-360-50113-4

    © 2015 (1975) Das Neue Berlin, Berlin

    Cover: Verlag

    Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

    www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

    Wolfgang Kienast

    Gillermanns Tod

    Das Neue Berlin

    I. Kapitel

    1

    In dieser Nacht hatte Karl Romund schlecht geschlafen. Wilde Träume hatten ihn bedrängt, und in jedem war Maximilian einen anderen Tod gestorben; hatte sich überfressen, war einen Hang hinuntergestürzt, oder die Witwe Trotzig unten aus dem Dorf hatte ihn vergiftet, weil Romund, sein Herr, ihrem Liebeswerben so hartnäckig widerstand: Ach was, ich habe mich überfressen, dachte Karl Romund. Das Eisbein gestern abend im »Paradies« ist einfach zu fett gewesen.

    Er war vor dem Weckergeschrei erwacht, schleppte sich durch die eisige Wohnung, und nichts ging ihm heute von der Hand.

    Als das Zeitzeichen tickte und die nüchterne Frauenstimme im Radio acht Uhr ansagte, schnitt sich der kommunale Ziegendecker der Gemeinde Trebendorf. Da war er erst beim Rasieren, während er sonst um diese Zeit bereits das Haus verließ.

    Ein verkorkster Tag, dieser Sonnabend, dachte er. Und morgen ist Heiligabend.

    Romund starrte durchs Verandafenster auf die stille Straße hinaus. Sie lag grau und verlassen im Frost des Frühwinters, und irgend etwas wirkte verändert an ihr. Etwas fehlte, und das hing mit dieser merkwürdigen Verspätung zusammen, die Romund sich nicht erklären konnte.

    Doch was sollte anders sein in der Birkhalder Straße? So war sie im Winter. Hier hatten die Gernegroße aus der Stadt ihre Sommerhäuser. In der warmen Jahreszeit quollen sie heraus, hockten sich auf ihre Terrassen oder in den Schatten ihres französischen Lavendels. Häuser, Gärten und auch die Städter glichen sich wie die Wartburgautos und Škodas, mitdenen sie kamen. Da war nur Gillermann, der sich von ihnen unterschied, und der kam auch nicht mehr nur zum Wochenende aus der Stadt. Seit er seine Rente bekam, lebte er ständig hier. Gillermann?

    Natürlich! Der signalisierte sonst morgens seine Anwesenheit mit einer blassen Rauchfahne über drei hohen Fichten. Im Frost stand der Hölzfeuerrauch fast regungslos in der Luft. Aber er war da, unauffällig und unscheinbar, jedoch gegenwärtig; jeden Morgen.

    »Dieses verdammte Eisbein«, knurrte Romund ingrimmig und tupfte mit einer Papierserviette über sein zerschundenes Kinn. Warum sollte der Alte einmal nicht geheizt haben? Einmal seine Regelmäßigkeit unterbrochen haben? Doch das war es gerade. Man hatte sich daran gewöhnt. Just dieses eine Mal fiel auf, weil die Rauchfahne sonst immer über den Fichten stand.

    »Der Alte wird auch unzuverlässig«, brummte Romund.

    Das Blut rann am ihm herab, die Frau im Radio weissagte neuen Frost durch ein Islandhoch über der Nordsee, was auch die Hoffnung auf Schnee zerstörte, und das Eisbein von gestern abend rumorte im Magen. Gestern abend hatten die »Freien Sänger« von Trebendorf ihr Weihnachtsvergnügen gehabt, und erst nach Mitternacht war Karl Romund in die Siedlung hinaufgepilgert, wo der Mond die einzige Straßenbeleuchtung darstellte.

    Ich bin zu spät dran, dachte er. Maximilian wird warten. Und dann: Ich werde alt. Jede Unregelmäßigkeitwirft mich um!

    »Ja, zum Teufel, der Alte wird wirklich unzuverlässig!« brummelte Karl Romund. Ihm war eingefallen, daß Wilhelm Gillermann sonst jeden Morgen pünktlich zehn vor acht das Haus verließ, um im Laden neben dem Sportplatz einzukaufen. Man konnte die Uhr danach stellen, und es war ein Teil des Romundschen Lebensrhythmus geworden, das Frühstück abzubrechen, wenn er den Alten sah.

    Gillermanns Person genoß legendären Ruhm in der Siedlung. Über sein Leben lagen sich widersprechende Mitteilungen vor. Demnach hatte der Rentner entweder fünfzehn Jahre lang im Zuchthaus gesessen oder im KZ, hatte in Amerika Gold gesucht, war Matrose auf einem schwedischen Tanker gewesen, hatte in Australien ein Totogeschäft für Hunderennen geführt und so weiter und so fort.

    Romund war bereit, alles für ein Gerücht zu nehmen, und dachte nicht daran, auch nur eine der Informationen weiterzutragen. Die Leute schwätzten sowieso schon viel zuviel, besonders über Gillermann. Und dieser Mann hatte von allem etwas. Er besaß das Mißtrauen eines Verfolgten, das Air des Weltenbummlers und die wortkarge Lebendigkeit eines Trappers, wie sie in den Büchern beschrieben wurden, die Romund in seiner Jugend gelesen hatte.

    Bewiesen war nur, daß Gillermann ein Eremitendasein mit seinen Enten führte, seit er vor fünf Jahren aus der Kreisstadt hergezogen war, und sich den Deubel um Nachbarn und deren Tratsch kümmerte. Ganz selten tauchte einer seiner Verwandten auf, öfter der Freund oder ehemalige Kollege aus dem Nachbardorf. Gillermann und Romund pflegten nicht mehr Verkehr miteinander, als daß sie sich freundlich »Guten Tag« wünschten.

    Da hat er nun bis weit nach Mitternacht Vorweihnacht gefeiert und heute verschlafen, dachte Romund mit leiser Schadenfreude, die nicht mehr als ein Frohlocken darüber war, daß auch Gillermann unpünktlich sein konnte wie er selbst. Eine halbe Stunde über der Zeit verließ Romund das Haus.

    2

    Karlheinz Ahnert, der Abschnittsbevollmächtigte Trebendorfs, war in seinem Garten und machte sich Bewegung. Er war ein junger, drahtiger Mann, Sportler aus Passion und Mittelstreckenmeister im Bezirksmaßstab. An diesem Morgen trug er seinen grauen Trainingsanzug aus der Armeezeit und war damit beschäftigt, Holz zu spalten. Mit wachsendem Vergnügen spürte er, wie der Schweiß aus den Poren trat. Die Muskeln wurden weich und elastisch, er fühlte ein angenehmes Prickeln auf der Haut. Die Kälte nahm er nur in Gestalt der weißen Dampfwolken wahr, die aus seinem Munde aufstiegen.

    Ahnert fühlte sich wohl, denn ein angenehmer Sonnabend stand in Aussicht und ein Fußballspiel zwischen Trebendorf und dem Erzrivalen Beatendorf, das die Trebendorfer wohl endlich mal gewinnen sollten. Dann sah er Romund an seinem Zaun stehen. Der Mann keuchte, als wäre er schnell und angestrengt gelaufen, er fuchtelte mit den Armen und rief etwas, was Ahnert nicht verstehen konnte.

    Er lief mit lockeren Knien, wie er es von den Trainingsstunden seines Sportvereins gewohnt war, zum Tor und ließ den Ziegendecker ein. Er war gespannt und etwas mißtrauisch, sein Beruf brachte es mit sich; daß die Leute nicht ohne Anlaß eilig zu ihm kamen. Und Karl Romund war doch schon etwas zu bejahrt, als daß er morgens individuelle »Lauf-dich-gesund«- Übungen von der Siedlung ins Dorf hinunter absolvierte.

    Zudem war gerade im Winter die Wochenendsiedlung Ahnerts Sorgenkind. Wenn etwas geschah, dann war es meist ein Einbruch in die leerstehenden Sommerhäuser. »Verpusten Sie sich erst einmal, Herr Romund«, sagte er, als der Ziegendecker atemlos sofort losplatzen wollte. Romunds Gesicht war von der Aufregung gerötet. Er schnappte nach Luft, und seine Hände fuhrwerkten mit hastigen, unkontrollierten Bewegungen vor dem Gesicht herum.

    »Kommen Sie herein.«

    Im gemütlichen Wohnzimmer schob ihm Ahnert einen Sessel hin. »Und nun erzählen Sie.«

    Romund nickte. Sein Atem hatte sich beruhigt, und gleichzeitig war die Fahrigkeit gewichen. Ahnert, der Polizist, saß in Griffweite vor ihm. Romund konnte die Verantwortung, die ihn drückte, an ihn loswerden, und das gab ihm einen Teil seiner Sicherheit zurück. Alles hatte wieder seine Richtigkeit.

    »Es geht um meinen Nachbarn, um den Wilhelm Gillermann«, sagte er. »An die zehn Jahre kennen wir uns. Seit fünf Jahren sind wir die einzigen ständigen Nachbarn.«

    »Und was ist mit diesem Gillermann?« Der Wachtmeister versuchte sich den Mann vorzustellen, aber es blieb nur ein ungenaues Bild. Er hatte nie mit ihm zu tun gehabt.

    »Mit den Jahren, wenn man so allein beieinander lebt, entwickelt sich eine Art Instinkt, müssen Sie wissen. Man kennt einander kaum und nimmt sich doch auf besondere Weise wahr, richtet sich nach den Gewohnheiten des anderen …«

    »Und …?«

    »Mit Gillermann muß etwas geschehen sein!«

    Ahnert stand auf und ging zu einem Schrank, dem er einen Schreibblock und einen Kugelschreiber entnahm. Dann kam er zurück und setzte sich an den Tisch.

    »Was ist mit Gillermann?« fragte der Wachtmeister noch einmal.

    »Er hat sehr feste Gewohnheiten, steht früh auf und geht zeitig ins Bett. Jeden Morgen verläßt er Punkt zehn vor acht das Haus, um einkaufen zu gehen. Nie ist er nach neun zurück.«

    Ahnert sah auf die Uhr. Es war einige Minuten über neun. »Gestern kam ich erst gegen Mitternacht nach Hause. Der Gesangverein, wissen Sie …«

    Der Wachtmeister wußte. »Und was haben Sie nun beobachtet?«

    »Licht. Alle Lampen brannten. Im Haus, vor dem Haus, den Weg herunter. Alle, die Gillermann hat.«

    »Und das ist ungewöhnlich?«

    »Ja, es ist ungewöhnlich. Vielleicht hat er mal seine Gewohnheiten durchbrochen, das ist ja möglich. Er hat nämlich einen Freund, der ein Grundstück in Birkhalde besitzt. Vielleicht ist der bei ihm gewesen. Aber …«

    »Aber?«

    »Die Lampen brennen noch immer.«

    »Alle?«

    »Alle!« sagte Romund mit Nachdruck. »Gillermann hat weder heute morgen seinen Ofen geheizt noch die Enten aus dem Stall gelassen, was er sonst zuerst tut. Er ist auch nicht einkaufen gegangen. Seine Gartenpforte ist versperrt, er reagiert nicht auf die Klingel. Er ist ein alter Mann und nicht mehr gesund. Es muß ihm was passiert sein.«

    »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

    »Das ist so eine Frage«, sagte Romund. Er dachte nach. »Als ich gestern abend hinunter bin ins Dorf, kramte jemand im Schuppen herum. Das wird er gewesen sein. In der Veranda brannte die Lampe. Abends, das heißt um Mitternacht, brannte alles.«

    Der Wachtmeister machte eifrig Notizen. Dann sah er Romund an. »Ich werde mir das ansehen, aber Sie müssen mich begleiten. Ich brauche einen Zeugen. Ich darf nicht so ohne weiteres in ein fremdes Haus eindringen.«

    Romund nickte. Er dachte an Maximilian, der noch immer ohne Frühstück war.

    »Ich will nur vorher noch zur Frau Trotzig. Wissen Sie, mein Maximilian …«

    »Natürlich, Ihr Ziegenbock«, unterbrach ihn Ahnert lächelnd. »Ich ziehe mich derweile um.«

    Romund verließ das Haus des ABV. Es würgte in seinem Halse. Das Eisbein, dachte er. Hätte ich doch nur nicht das Eisbein gestern abend gegessen!

    3

    Ahnert saß auf der Veranda des Gillermannschen Hauses. Faszinierend, dachte er. Hier sitzen sie, und Trebendorf liegt zu ihren Füßen. Wir müssen zu ihnen aufsehen, wenn wir den Böhlerberg angucken wollen.

    Die beiden Kriminalisten kamen aus dem Wohnzimmer und plazierten sich rechts und links vom Abschnittsbevollmächtigten.

    »Schreib auf, Peter«, sagte Hauptmann Fester. Er runzelte die Stirn. »Kein Hinweis dafür, daß der Bewohner des Grundstücks Trebendorf, Birkhalder Straße zehn, sein Haus unfreiwillig verlassen hat. Das Haus besitzt vier Räume, und zwar eine Veranda, ein großes Zimmer, eine Schlafkammer und eine Küche. Der Boden ist unbewohnbar und dient als Abstellkammer. Auf dem Grundstück gibt es außerdem einen Holzschuppen, an den ein Entenstall angebaut ist. In dem Stall waren dreizehn Enten. Punkt. Absatz.

    In der Veranda befand sich ein Aschenbecher, darin vier Zigarettenstummel der Sorte ›Pall Mall‹; der einzige Anhaltspunkt dafür, daß der Besitzer Wilhelm Gillermann Besuch hatte. Er selbst raucht nach Aussage des Nachbarn Karl Romund, Trebendorf, Birkhalder Straße einundsiebzig, ausschließlich Tabak in der Pfeife.

    Das Wohnzimmer hat zwei Fenster zur Ostseite. Von dem gehen auch die Türen zur Schlafkammer und Küche ab, Es ist möbliert mit einem Tisch, vier Stühlen, zwei Korbsesseln, einer Rosenholzkommode, einem Kleiderschrank und einem selbstgezimmerten Bücherregal, welches eine ganze Wand, die Nordwand, bis zur Decke einnimmt. Darin befinden sich, grob geschätzt, tausend Bände, vorwiegend aus den Jahren neunzehnhundertzehn bis -vierzig; kaum DDR-Literatur. Schränke und Laden sind nicht aufgeräumt, es fehlt aber jeder Hinweis darauf, daß sie durchwühlt wurden. In einer Lade der Kommode fanden wir Papiere des als vermißt Gemeldeten, Personalausweis, Schwerbeschädigtenausweis, Rentenversicherungsausweis und eine Kennkarte für ein Girokonto bei der Bank für Handwerk und Gewerbe.

    Küche und Schlafkammer waren in bemerkenswerter Unordnung, jedoch wahrscheinlich auch ohne fremde Einwirkung.

    Es muß angenommen werden, daß Wilhelm Gillermann, die vermißte Person, sein Haus und Grundstück freiwillig verlassen hat. Einzige verdächtige Umstände sind eine unverschlossene Tür zur Veranda und nicht gelöschte elektrische Lampen. Merkwürdig dabei, daß alle Lampen sowohl inner- wie außerhalb des Hauses brannten. Punkt, Punkt, Punkt!«

    Der Hauptmann fuhr sich nervös durch sein kurzes graues Kraushaar. Er war groß, massig und hatte unverhältnismäßig kleine, tiefliegende Augen, die den ABV mißmutig anschauten.

    »Ein bißchen voreilig, die Anzeige, nicht wahr, Genosse Wachtmeister?«

    Ahnert zuckte hilflos die Achseln. »Er ist nirgends«, antwortete er. »Der Werkbus verkehrt an Feiertagen nicht, und mit dem Zug ist er nicht gefahren. Ich habe alle Leute befragt, die Freitagabend oder Sonnabend mit dem Zug gefahren sind. Wir haben außerdem die Gegend um den Böhlerberg abgesucht, weil wir einen Unglücksfall befürchteten. Ohne Erfolg.«

    »Lenken Sie nicht ab«, sagte der Hauptmann schroff. »Es gibt andere Verkehrsmittel als Autobus und Eisenbahn …«

    »Zum Beispiel Flugzeug.« Leutnant Haug feixte und fing einen vorwurfsvollen Blick von seinem Vorgesetzten ein.

    »Es gibt private Kraftfahrzeuge. Zum Beispiel!«

    Fester angelte eine Zigarette aus seiner Manteltasche und entzündete sie. Nachdenklich starrte er auf die Flamme, dann schnipste er das Streichholz in den Ascher. »Ja. Es ist schon so: Ein Wäschemann, der eine Woche nicht auftaucht, ist nicht verschwunden. Aber ein Rentner …« Er dachte daran, daß sich zum vorigen Fest eine ältere Frau in der Werra ertränkt hatte.

    Dieses Fest ist schön und gefährlich, dachte er. Wenn sich jemand im Kreis das Leben nahm, geschah das meist in der Weihnachtszeit. Vor zwei Jahren war es ein junges Mädchen gewesen. Sie hatte Leuchtgas geschluckt, während ihr Geliebter zu Hause bei seiner Frau Bescherung machte.

    »Es war richtig, doch ich glaube, daß nichts dahintersteckt. Der Mann ist keine zwei Tage fort. Wahrscheinlich kam ihm just zu Heiligabend sein Dilemma zum Bewußtsein, und er hat sich in die Gesellschaft geflüchtet. Der Mensch ist von Natur ein geselliges Wesen. Freiwillige Einsamkeit ist unnatürlich.«

    Fester rieb seine Nase und starrte wieder auf die Zigarettenstummel im Aschenbecher, um dessen Rand sich eine Reklameschrift für Bommerlunder Liköre zog. Der mochte irgendwo mal in einer Kneipe auf dem Tisch gestanden haben.

    Die Bommerlunder Reklame und Pall-Mall-Reste störten in dieser Umgebung, doch die Zigaretten gab es in der Kreisstadt in jedem besseren Restaurant.

    Wer mochte den Mann besucht haben, den sein Nachbar als menschenscheu und eigenbrötlerisch beschrieben hatte? Wie kam dieser Romund zu seiner eigensinnigen Behauptung, Gillermann habe nicht freiwillig seine Enten im Stich gelassen?

    »Also gehen wir noch mal rüber«, seufzte er. »Und das am Heiligen Abend.«

    Hauptmann Fester und Leutnant Haug klommen vorsichtig die steilen Serpentinen hinab, die zur Straße führten. Auf dieser Seite waren die Häuser in den Hang gebaut und nur mit mehr oder weniger halsbrecherischen Klettertouren zu erreichen. Der Blick über das ganze Tal machte die Grundstücke teuer. Der Serpentinenweg war abgestuft und die Stufen durch alte Eisenbahnschwellen befestigt. Dazwischen wuchs es, wie die Natur es zugelassen hatte; die höchsten Fichten unten am Zaun hatten bereits das Niveau des Hauses erreicht. Gillermann

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