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... und da war noch sein letzter Wille: Komisch, ein Roman
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eBook307 Seiten3 Stunden

... und da war noch sein letzter Wille: Komisch, ein Roman

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Über dieses E-Book

 

 

Das viktorianische England. Der alte Earl of Greenwood ist verstorben und die Erben sind erschienen, um der Verlesung des Testaments zu lauschen. Jedoch wird, kaum ist der erste Satz verlesen, schon wieder unterbrochen. Für Rechtsanwalt Larry Longdon wird es ein langer Abend, eine endlose Nacht und auch am nächsten Tag sind alle noch nicht klüger.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum25. Aug. 2021
ISBN9783748792512
... und da war noch sein letzter Wille: Komisch, ein Roman

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    Buchvorschau

    ... und da war noch sein letzter Wille - Rolf Bidinger

    Kapitel 1

    „Ihr könnt mich alle mal ..."

    Rechtsanwalt Larry Longdon blickte von dem Dokument auf, aus dem er gerade diesen Satz vorgelesen hatte. Er sah in die verdutzten Gesichter der vier Anwesenden, die zur Testamentseröffnung ihres Onkels, des Earl of Greenwood, geladen waren.

    „Wie bitte! Was?", rief eine entrüstete Gwendolyn Tearbottom, die uneheliche Tochter des Earl.

    „So steht es da! Ich kann nur vorlesen, was der alte Earl auf dem Totenbett aufnotiert hat.", entschuldigte sich Rechtsanwalt Longdon.

    „Jetzt lesen sie halt weiter. Sie können den Teil mit den Beleidigungen und Beschimpfungen auslassen und gleich zu dem Wesentlichen kommen. Wer bekommt wie viel?", rief Linus Weatherling durch die geschlossene Tür. Ihm war von Rechtswegen der Zutritt verwehrt.

    Er, der nur für zwei Stunden Ausgang hatte, klimperte nervös mit den Handschellen, die Constable Theodore Redfield, ihm nicht abnehmen wollte.

    Das war sein Teil der Rache dafür, dass er draußen warten musste. Dies missfiel ihm, weil seine Frau Priscilla ihm auftrug, ihr alles genau zu berichten, wen der alte Earl bedacht hatte. Deshalb lauschten auch beide gespannt an der alten Eichentür. Weatherling, ob er etwas bekommen wird und Redfield, um seiner vor Neugier gepeinigten Frau etwas Entlastung zu verschaffen.

    Cynthia Hollingsworth, eine ältliche Dame, spielte nervös an ihrer Perlenkette. Sie war die ältere Schwester des greisen Earl und noch unverheiratet. Aber sie gab die Hoffnung nicht auf!

    Angus van Hall, der altgediente Diener des Earls, saß kerzengerade auf seinem Platz und enthielt sich jeglicher Stellungnahme, so wie er es dereinst auf der Butlerschule gelernt hatte. Niemals würde er seiner Empörung Ausdruck verleihen. Er war schon dankbar dafür, überhaupt hier sein zu können und auf eine kleine Zuwendung zu hoffen. Heimlich hatte er es sich natürlich gewünscht, denn immerhin hatte er fast fünfzig Jahre seinem Herrn treue Dienste geleistet. Den drei anderen war er zwar ein Dorn im Auge, denn sie empfanden es als skandalös, dass ein Bediensteter überhaupt zur Testamentseröffnung geladen wurde.

    Entsprechend unwohl fühlte sich Angus van Hall, der, was noch schwerer wiegte, einer alten holländischen Schifferfamilie entstammte. Er entkam, noch als Kind einer Schiffskatastrophe und wurde, in einer Wiege liegend, an Land gespült. Dort wurde er am Strand von zwei Fischern aufgefunden. Sie brachten das schreiende und nicht zu beruhigende Kind zu Eida Hopkins, die sofort eine volle Windel, als Grund für das Geschrei ausmachte und handelte, als wäre es ihr eigenes Kind. Ohne das Amulett, was das der Säugling um den Hals trug und auf dem sein Name stand, wüsste heute niemand, wie sein wahrer Name ist. Als der kleine Angus gerade einmal fünfzehn Jahre alt war, starb Eida Hopkins im Kindbett, in das sie ein schottischer Whiskyvertreter auf Durchreise, gebracht hatte. Ab da war Angus auf sich alleine gestellt und begann eine Ausbildung an der renommierten „Butlerschule für höhere Töchter", die er mit Prädikat abschloss. Gleich seine erste Anstellung fand er bei dem Earl of Greenwood, der ein Auge auf den jungen gutgebauten Butler geworfen hatte. Offiziell wurde er als Diener und Butler eingestellt. Der Earl of Greenwood war nicht nur unverheiratet, er hatte auch kein Interesse, an dieser Situation etwas zu ändern. Nachts schlich er, in Frauenkleider gewandet, in die Stube des Butlers und machte ihm eindeutige Avancen.

    Und da der Earl in Frauenkleidern und Perücke sehr attraktiv war, ließ sich Angus nicht zweimal bitten und kam dem Drängen von Melissa, so nannte der Earl sich nachts, gerne nach. Fast fünfzig Jahre hielt diese Beziehung, von der niemand etwas wissen durfte, da es damals noch als unschicklich galt. Doch da beide sehr verschwiegen waren, konnten sie ihrer hemmungslosen Lust frönen.

    Für Angus war diese tiefe Liebe nur dadurch möglich, weil er den Earl als vollkommene Frau ansah. Sonst wäre es für ihn niemals möglich gewesen, ihn zu lieben.

    Tagsüber ließen sie sich nichts anmerken, was vor allem daran lag, dass der Earl als Mann und Herr auftrat. Damit war er für Angus sexuell absolut uninteressant, da für ihn nur Frauen infrage kamen. Ein Verhältnis mit einem Arbeitgeber, dazu noch von hohem Adel, war für ihn zeitlebens undenkbar.

    Auch der Earl sah dies ähnlich. Eine Beziehung zu einem Mann und dann auch noch zu einem niederen Angestellten zu unterhalten, war für seinen Stand unakzeptabel. In der Nacht jedoch konnten sie ihrer zügellosen Begierde nachgehen. Am nächsten Morgen, da brachte Angus in vollendeter Perfektion, das Tablett mit Tee und Gurkensandwiches an das Bett des Earls, aus dem er sich erst vor wenigen Minuten erhoben hatte. Dabei verlor Angus kein Wort über das, was sich noch vor Kurzem zwischen den Laken abgespielt hatte. Ein Verhalten, das der Earl sehr schätzte!

    Besonders bei Ostwind bedrückte Angus, dass er so niemals Vater werden würde und somit sein Name eines Tages untergehen wird. So erging es dereinst seiner ganzen Familie. Ohne deren Mitwirkung wäre er wohl nie zu dem Leben gekommen, das er nun schon so lange leben konnte. Dafür war er ihnen in jeder Minute seines Lebens dankbar. Hätten seine Eltern das Schiffsunglück überlebt, könnte er nun nicht in der Kanzlei sitzen und dem Anwalt lauschen, was der alte tote Earl noch zu sagen hatte. Besonders gespannt war er darauf, was die anderen drei potenziellen Erben bekommen würden. Trotz seiner vornehmen Zurückhaltung war er innerlich aufgewühlt. Er sah sich als natürlichen Universalerben an, da niemals einer der drei Anderen sein Bett mit dem Earl geteilt hatte. Nach Angus Meinung, waren sie daher keine würdigen Erben. So war es nur seiner berufsbedingten Contenance zu verdanken, dass er ihnen nicht unverzüglich ein Messer in den Rücken rammte, wenngleich er stets ein Käsemesser mit sich führte.

    Bevor nun Rechtsanwalt Greenwood fortfahren konnte mit dem Verlesen des letzten Willens, ging er zum Fenster und schloss es. Dunkle tiefschwarze Wolken waren aufgezogen. Sie brachten einen windigen Wind mit, der heftig gegen die Fensterjalousien blies, was diese, mit einem lautstarken Klappern der Empörung, nicht guthießen. Grollender Donner kündigte zuckende Blitze an, die durch die Wolkendecke auf die Erde stürzten. In späteren historischen Niederschriften wird man für diesen Tag zu berichten wissen, es sei ein Sauwetter gewesen. Niemand, der an diesem Tag dabei war, würde dem wohl widersprochen haben. Doch eben nicht jeder, denn nicht alle kamen lebendig aus diesem Tag heraus.

    Die Umstände, wie es dazu kam, kann man getrost als mysteriös bezeichnen, wenn nicht sogar als geheimnisumwittert, seltsam, okkult und nicht zuletzt sibyllinisch. Letzteres wurde insbesondere für das hochgebildete Bildungsbürgertum hinzugefügt. Alle anderen, die bildungsbefreiten, die mögen sich an den erstgenannten Begrifflichkeiten erfreuen.

    Ein lauter Knall unterbrach die Stille. Ein Knarzen und Knacken war zu hören, als ob der Blitz in einen Baum gefahren war. Rechtsanwalt Greenwood eilte zum Fenster und sah hinaus.

    „Nein! Nicht du!", stieß er aus.

    Ein Schaudern überkam alle Zeugen dieses Moments. Tränen, die sein Make-up verwischten, liefen über die mit Rouge eingefärbten Wangen des Rechtsanwalts. Schwarze Kajalflecken tropften auf sein weißes Hemd, die ihm einen interessanten Look verliehen.

    „Mein geliebter ... mein geliebter Apfelbaum brennt lichterloh!", schluchzte er, als ob er der biologische Vater jedes einzelnen Apfels sei.

    Nur der, der selbst einen freilaufenden Apfelbaum sein Eigen nennt, kann empfinden, welchen Schmerz er wohl verspürt haben muss. Alle anderen dürften wohl nur an einen Strudel mit gedünsteten Äpfeln denken, wenn gleich man dies als pietätlos verurteilen muss. Doch dies war alles erst der Anfang. Jetzt nahm das Gewitter erst richtig Fahrt auf. Der Wind brachte die Dachschindeln richtig in Wallung. Einige sahen ihr nahendes Ende voraus und entschieden sich, dem zuvorzukommen und stürzten sich freiwillig in den Tod.

    Es war eine krachende Niederlage für den Wind, als sie am Boden zerbarsten. Der blasende Geselle ließ sich jedoch davon nicht entmutigen und versuchte nun das gesamte Dach abzutragen. Doch mit diesem Vorsatz hatte er sich deutlich verhoben. Gute alte Dachdeckerhandwerkskunst zeigte ihm, was eine Harke ist. Der Wind erwies sich als schlechter Verlierer und zog beleidigt weiter Richtung Küste, wo er mit einer unschuldigen Segeljolle sein perfides Spiel weitertrieb.

    Er gab sich erst zufrieden, als sich die Jolle entschied, auf dem Meeresboden ihr Glück zu suchen.

    Das Licht im Büro des Rechtsanwalts begann zu flackern. Mühsam hatte er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle gebracht und entschied für sich, den Rest des Testaments, trotz widrigster Umstände, zu einem guten Ende zu bringen.

    Doch dabei sollte dies erst der Anfang sein und alles andere als gut!

    „Ihr könnt mich alle mal ...!", wiederholte Rechtsanwalt Larry Longdon überflüssigerweise die ersten Worte aus dem earlschen Testament, die bereits zuvor auf wenig Gegenliebe gestoßen waren. Entsprechend waren auch die Reaktionen der Erbwilligen, die zwar erben, aber sich keinesfalls beleidigen lassen wollten, nicht einmal von einem Toten.

    Doch Longdon ließ sich von rollenden Augen, dem Verziehen der Mundwinkel und dem Klackern der Perlenkette nicht aus der Ruhe bringen. Stets hielt er sich einen Spruch seines Mentors vor Augen, der ihn mühevoll durch das Staatsexamen gelotst hatte: „Die Eröffnung eines Testaments ist ein würdevoller Akt, der den letzten Wunsch eines Verblichenen widerspiegelt. Larry, entweihen sie niemals diesen festlichen Moment!"

    Es waren die letzten Worte, die ihm sein alter Dozent mit auf den Weg gab, ehe sich dieser ebenfalls auf den Weg machte, dorthin wo seine Ahnen ihn bereits erwarteten. Bis zuletzt hatte er noch für seinen Mandanten gekämpft, aber gegen das Messer in seinem Rücken half auch die beste Verteidigungsrede nichts mehr. Und so war es auch für ihn unmöglich, den Mandanten auf seinem Gang zum Galgen zu begleiten. Es war, in seiner langen juristischen Karriere sein einziger Makel, dem man ihm jedoch, angesichts seines persönlichen Schicksals, nachsehen sollte. Der Wille war zwar da, doch das Messer zu einschneidend. Unnachgiebig steckte es in der Lunge und unterbrach so die Luftzufuhr, welche nicht ganz unwesentlich für einen Menschen ist.

    Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Larry Longdon, nachdem ihm diese reizende Anekdote wieder ins Gedächtnis kam. Die Miniatur-Big Ben-Uhr, die auf seinem Schreibtisch stand, schlug Mitternacht und mahnte ihn mit der Zeremonie fortzufahren. Regentropfen, in beträchtlichem Ausmaß, prasselten gegen die Fensterscheibe und auch der ein oder andere Blitz zeigte sich. Vom dumpfen Donnergrollen ganz zu schweigen, der ein nächtliches Unwetter, apokalyptischen Ausmaßes, anzukündigen drohte. Dies entging auch den Erbaspiranten nicht. Entsprechend ihrer Natur, brachten sie dies auch lautstark zum Ausdruck, was der feierlichen Stimmung etwas abträglich war.

    Gwendolyn, der es von jeher an Contenance fehlte, stöhnte vor sich hin, rollte ihre Augen und stampfte eher undamenhaft, mit den Stilettos kleine tiefe Löcher ins Parkett. Ihre Tante Cynthia, lächelte seltsam vor sich hin. In Gedanken war sie wohl bereits damit beschäftigt, was sie mit dem Vermögen anfangen soll. Gerade in ihrem Fall war Eile geboten, da demnächst ein dreistelliger Geburtstag vor der Tür stand.

    „Wurde schon gesagt, was ich bekomme?", erkundigte sie sich und rasselte dabei mit ihrer Perlenkette, ein Verlobungsgeschenk eines bereits verblichenen Geliebten, der ihr im Ersten Weltkrieg abhandengekommen war. Diesen Verlust konnte sie bis heute nicht überwinden und entsagte ab da der Männerwelt, die es dankbar zur Kenntnis nahm und ihrem Wunsche entsprach.

    „Nein Lady Cynthia, die Veranstaltung hier zieht sich gerade etwas in die Länge!", antwortete Angus van Hall, mit einer tiefen Verbeugung, so wie es die Butlerschule lehrt.

    „Hier draußen ist es kalt! Kann ich nicht doch reinkommen?", meldete sich nun auch noch Linus Weatherling, der sich allmählich als Erbe zweiter Klasse vorkam.

    Larry Longdon legte seine Stirn in Falten. Etwas, was er immer tat, wenn er vor einem kniffligen Problem stand. Nun begann er auch noch rhythmisch mit den Fingern auf seinem Schreibtisch zu klopfen. Für gewöhnlich beruhigte ihn dies und für normalerweise machte es andere Leute nervös.

    „Sir, wenn ich bitten darf! Dieser infernalische Krach ist ja eine Vorstufe zur Unmenschlichkeit, wenn nicht gar der inquisitatorischen Folter!", befand Angus van Hall mit wohlgewählten Worten und in distinguiertem Ton.

    „Angus! Mäßigen sie sich. Bedenken sie ihre Stellung, die ihnen nur gestattet, sich auf Aufforderung zu äußern", entrüstete sich Lady Cynthia, die sich für die rechtmäßige Nachfolgerin und Alleinerbin des verblichenen Earl fühlte. Laut ihrer Vorstellung gehörte der Butler zur Erbmasse. Alleine schon, dass Angus van Hall überhaupt zur Testamentseröffnung eingeladen war, empfand sie als Vorstufe zum Untergang der britischen Empire.

    Doch Angus, der sich mit Leib und Seele dem Wohl des Earl verschrieben hatte, ging überhaupt nicht auf sie ein und strafte sie mit Missachtung und einem verschämten und lautlosen: „Pah!"

    Nur Larry Longdon bemerkte es mit einem Schmunzeln. Er war der Einzige, der überhaupt Notiz von ihm nahm.

    „Vor Gott und Gericht sind alle gleich!", war seine Devise.

    Er selbst kam aus einfachsten Verhältnissen und wuchs als Findelkind auf. Die Nonnen, bei denen er lebte, gaben ihm den Namen Larry London, weil er unter der Tower Bridge gefunden wurde. Der Name Longdon geht auf einen Beamten des Einwohnermeldeamtes zurück, der mehr dem Alkohol als der Rechtschreibung zugetan war. Und so blieb es bei Longdon.

    „Darf ich jetzt endlich hereinkommen?"

    „Moment Herr Weatherling. In dieser Angelegenheit habe ich noch nicht abschließend entschieden. Zunächst muss ich die Rechtslage überprüfen."

    Der Anwalt ging zu seinem Schrank und öffnete unter einem lauten Knarzgeräusch die Tür und nahm ein Buch heraus. Er öffnete es und begann darin zu blättern. Beäugt wurde er dabei von den anwesenden Erbanwärtern, die von Minute zu Minute unruhiger wurden. Ab und an vernahmen sie ein: „Aha – Oh – mmmm", oder ein leises Pfeifen durch die Zähne.

    Eine Tendenz war nicht zu erkennen. Erst als er das Buch mit einem lauten Knall zuschlug, flammte ein Fünkchen Hoffnung auf, die jedoch sofort wieder zunichtegemacht wurde, indem der Anwalt zu einem weiteren Buch griff. Pünktlich zum zweiten Glockenschlag von Big Ben, Lady Cynthia war längst entschlafen, kam ein erleichtertes: „Da ist er ja, der passende Paragraf!"

    Allenthalben machte sich Erleichterung breit.

    „Herr Weatherling, sie dürfen hereinkommen!"

    Die Tür ging auch sofort auf und Linus Weatherling trat, gefolgt von Theodore Redfield, in das Zimmer.

    „Stop! Der Constable muss draußen bleiben."

    „Aber Sir, wie soll das denn gehen? Wir sind doch mit den Handschellen miteinander verbunden. Wo ich hingehe, da muss auch Constable Redfield hingehen", erklärte Linus Weatherling wahrheitsgemäß, was für einen verurteilten Straftäter nicht so oft vorkommt.

    Larry Longdon sah durchaus das Problem. Doch sein Blick sagte, dass er noch meilenweit von einer Lösung dessen entfernt war.

    „Das Lösen der Handschellen ist mir ausdrücklich untersagt. Bei Zuwiderhandlung der Dienstvorschriften, die den Umgang mit Sträflingen, besonders den Gemeingefährlichen, könnte mich meine ohnehin karge Constablepension kosten", erklärte Redfield.

    „Es tut mir leid, aber es haben nur die folgenden eingeladenen Personen ein Anrecht auf die Verlesung des Testaments:

    Gwendolyn Tearbottom, Cynthia Hollingsworth, Angus van Hall und Linus Weatherling. Constable sie müssen leider mein Büro verlassen und vor der Tür warten."

    „Ich verstehe Sir, aber dann muss Mr. Weatherling auch mit vor die Tür."

    Larry Longdon blickte Theodore Redfield tief in die Augen, als ob darin die Lösung zu finden wäre. Redfield seinerseits, tat es ihm gleich. Für einen Moment trat eine unheimliche Stille ein, die nur von dem entfernten Donnergrollen, einem gleißenden Blitz und dem sanften Schnarchen von Lady Cynthia gestört wurden.

    „Ich bleibe jedenfalls!", stellte Linus Weatherling fest und untermauerte seine Aussage, indem er sich in einen freien Clubsessel fallenließ.

    Bei dieser unabgesprochenen Aktion wäre Constable Redfield beinahe zu Fall gekommen. Er konnte sich gerade noch an Lady Cynthias Schulter festhalten, wobei er unabsichtlich ihre Perlenkette vom Hals riss. Wie kleine Hagelkörner fielen sie herab und verteilten sich auf dem Boden. Zum Glück bekam Lady Cynthia, die einen beneidenswerten tiefen Schlaf hatte, nichts mit. Nur eine der Perlen hatte sich auf ihre leicht vibrierende Zunge verirrt. Dort lag sie und drohte bei einem plötzlich auftretenden Schluckreflex die Speiseröhre hinunterzurutschen.

    „Niemand bewegt sich, damit es keine Erschütterung des Parketts gibt. Wir befinden uns hier auf einem Schwingboden, ähnlich dem eines Tanzbodens!", reflektierte Angus van Hall die heikle Situation.

    Zum Glück hatte er auf der Butlerschule gelernt, professionell jedwedes außergewöhnliche Ereignis schnell zu erfassen, zu analysieren und lösungsorientiert zu handeln. Er zog aus seiner Livree eine Pinzette hervor, die zur Grundausstattung eines jeden Butlers Englands gehört. Vorsichtig und mit ruhiger Hand entfernte er die speicheltropfende Perle aus dem Mundinnenraum. Die Gefahr, nun das Erbe nur noch durch Drei teilen zu müssen, war gebannt. Lady Cynthia wäre sicherlich unendlich dankbar gewesen, wenn sie etwas davon mitbekommen hätte, doch dem war eben nicht so. Auch von anderer Seite erhielt er keine Komplimente für sein schnelles Reagieren. Wenn er die Blicke der Umstehenden richtig deutete, stieß sein forsches Auftreten auf wenig Gegenliebe. Da also nicht mit einem kollektiven Lob zu rechnen war, zog der Butler sich diskret zurück auf den Fußboden, von wo er die ganze Perlenpracht zusammensuchte. Dann begann er seelenruhig die Perlen wieder einzufädeln, verknotete die Enden miteinander und legte das reparierte Schmuckstück Lady Cynthia um den Hals.

    „Sir, während des Einfädelns kam mir eine Idee, wie es gelingen könnte, dass der Constable vor der Tür verweilt und Mr. Weatherling hier im Kreis der Erbanwärter bleiben kann", warf Angus van Hall wie nebenbei ein.

    Larry Longdon sah zu ihm hin.

    „Dann reden sie doch Angus! Weisen sie uns den Weg aus der Misere. Denn wir wollen doch alle nur noch eins, ins Bett!"

    „Sehr wohl, Sir. Zur Grundausstattung, die jeder Butler, der etwas auf sich hält, mit sich führt, gehört unter anderem Nützlichem auch ein Fuchsschwanz. Damit könnte ich eine kleine Ecke aus der Tür heraussägen. Gerade so groß, wie wir für die Kette brauchen, die die Handschellen miteinander verbindet."

    Lange, sehr lange, ließ Larry Longdon die Worte des Butlers auf sich wirken.

    Intensiv wog er das für und wider ab und kam schließlich zu einer abgewogenen und ökonomischen, als auch ökologischen Schlussfolgerung, die man als durchaus wegweisend bezeichnen konnte. Entsprechend war die Stimmung unter den Anwesenden, mit Ausnahme von Lady Cynthia, die immer noch in ihrem Sessel schlief.

    „Angus, so beeindruckend ihr Vorschlag auch sein mag und sicherlich viele Fürsprecher und Nachahmer finden mag, so muss ich ihn dennoch kategorisch ablehnen. Diese meine Bürotür ist aus einer Jahrhunderte alten Eiche gezimmert worden. Es wäre ein Sakrileg, dort nun ein Loch herauszuschneiden, nur um dieses Handschellenproblem zu lösen, was mit mir persönlich aber auch so gar nichts zu tun hat. Deshalb bitte ich meinen abschlägigen mündlichen Bescheid zu akzeptieren. Zudem möchte ich sie inständig bitten, von weiteren Vorschlägen dieser Art Abstand zu nehmen. Als passionierten Baumumarmer kränkt es mich zutiefst, wenn es mich nicht sogar aus dem seelischen Gleichgewicht bringt, was ungeahnte psychische Folgen mit sich bringen könnte."

    „Ich verstehe Sir und bitte Sie, meinen unqualifizierten und nicht bedachten Vorschlag ad acta zu legen!"

    Mit diesem Eingeständnis zog sich Angus van Hall in eine der vier Ecken des Zimmers, mit dem Gesicht zur Wand und ließ nur noch ein leises Winseln vernehmen, Dies war ein Ausdruck seines vollkommenen Versagens. Zwar war nun Angus van Hall in seine Schranken gewiesen, doch das allgegenwärtige Problem stand immer noch ungelöst im Raum. Das herbeigeeilte Gewitter hatte sich derweil in seiner ganzen Pracht ausgeweitet. Mit heftigem Donnergrollen brachte es seinen Unmut zum Ausdruck. Bedrohliche Blitze schwirrten um das Haus und suchten nach einer geeigneten Stelle, in die sie hemmungslos einschlagen könnten. Doch die dunkle sternenlose Nacht und der heftige Regen erschwerten es, eine günstige Einschlagstelle zu finden. Für jedes anständige und sozialisierte Gewitter eine frustrierende Erfahrung!

    „Ich sehe nur eine einzige Möglichkeit, wie wir aus diesem Dilemma herauskommen könnten. Constable Redfield, dafür bedarf es jedoch ihrer uneingeschränkten Mitarbeit."

    „Selbstverständlich stehe ich in voller Solidarität zur Verfügung, Sir!"

    „Ungewöhnliche Situationen erfordern nun einmal noch ungewöhnlichere Maßnahmen. Angus, verbinden sie ihm die Augen und verschließen sie seine Ohren", befahl Larry Longdon.

    „Lady Gwendolyn, darf ich bitte um ihren Schal ersuchen?"

    Mit diesen Worten trat Angus van Hall wieder in den Mittelpunkt der Ereignisse.

    „Mein Schal? Erbstück meiner über alles geliebten Großmutter? Dieses Prunkstück aus Meisterhand? Feinstes Seidentuch, durchwirkt von Goldfäden, die einen auffliegenden Kranich darstellen!

    Mit diesem Relikt fernöstlicher Kultur, wollen sie die Augen, dieses einfachen Constablesverschließen?"

    „Ja Mylady!", entgegnete Angus van Hall.

    „So nehmt es hin und besudelt es mit einem Bürgerlichen!", gab sie dem erbitterten Ansinnen nach, wenngleich auch widerwillig, was die abschätzige Handbewegung versinnbildlichte, mit der sie den Schal von ihren Schultern riss.

    „Im Namen aller Erbwilligen danke ich von ganzem Herzen", beeilte sich Larry Longdon, zu versichern, der das unaufhaltsame Aufkommen einer negativen Stimmung verspürte.

    Sofort begann Angus van Hall mit der Verhüllung des Constable, der es

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