Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

TODESGRÜSSE VON MR. X - AGENT OSS 117, BAND 1: Vier Romane in einem Band
TODESGRÜSSE VON MR. X - AGENT OSS 117, BAND 1: Vier Romane in einem Band
TODESGRÜSSE VON MR. X - AGENT OSS 117, BAND 1: Vier Romane in einem Band
eBook714 Seiten9 Stunden

TODESGRÜSSE VON MR. X - AGENT OSS 117, BAND 1: Vier Romane in einem Band

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nur eine Handvoll Männer wussten, dass seine Tage gezählt waren: Er musste sterben. Und darauf bauten sie ihren tollkühnen Plan auf. Sie gaben ihm Informationen, die kein anderer Agent vor ihm erhalten hatte. Dann spielten sie ihn geschickt in die Hände ihrer Gegner. Sie brauchten nur noch zu warten, dass der Todeskandidat sein Geheimnis preisgeben würde.

Und als alles verloren schien, holten sie OSS 117...

1949 schuf der französische Schriftsteller Jean Bruce (eigentlich Jean Alexandre Brochet, * 22. März 1921; † 26. März 1963) den CIA-Agenten Hubert Bonisseur de La Bath (alias OSS 117) – bis 1963 schrieb er 87 OSS-117-Romane; zwischen 1956 und 1971 wurden acht dieser Romane erfolgreich verfilmt: International gilt Hubert Bonisseur de La Bath als ebenso populär wie James Bond, Lemmy Caution oder Kommissar Maigret.

Der Apex-Verlag veröffentlicht die OSS-117-Romane von Jean Bruce als durchgesehene Neuausgaben und macht diese erstmals seit fünfzig Jahren wieder in Deutschland verfügbar. Der vorliegende erste Band enthält die spannenden und mitreißenden Agenten-Thriller Ein neuer Boss für Kalkutta, Roulette mit einem Killer, Todesgrüße von Mr. X und Mr. Smith vergibt einen Job.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum13. Feb. 2020
ISBN9783748729310
TODESGRÜSSE VON MR. X - AGENT OSS 117, BAND 1: Vier Romane in einem Band

Ähnlich wie TODESGRÜSSE VON MR. X - AGENT OSS 117, BAND 1

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für TODESGRÜSSE VON MR. X - AGENT OSS 117, BAND 1

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    TODESGRÜSSE VON MR. X - AGENT OSS 117, BAND 1 - Jean Bruce

    Das Buch

    Nur eine Handvoll Männer wussten, dass seine Tage gezählt waren: Er musste sterben. Und darauf bauten sie ihren tollkühnen Plan auf. Sie gaben ihm Informationen, die kein anderer Agent vor ihm erhalten hatte. Dann spielten sie ihn geschickt in die Hände ihrer Gegner. Sie brauchten nur noch zu warten, dass der Todeskandidat sein Geheimnis preisgeben würde.

    Und als alles verloren schien, holten sie OSS 117...

    1949 schuf der französische Schriftsteller Jean Bruce (eigentlich Jean Alexandre Brochet, * 22. März 1921; † 26. März 1963) den CIA-Agenten Hubert Bonisseur de La Bath (alias OSS 117) – bis 1963 schrieb er 87 OSS-117-Romane; zwischen 1956 und 1971 wurden acht dieser Romane erfolgreich verfilmt: International gilt  Hubert Bonisseur de La Bath als ebenso populär wie James Bond, Lemmy Caution oder Kommissar Maigret.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht die OSS-117-Romane von Jean Bruce als durchgesehene Neuausgaben und macht diese erstmals seit fünfzig Jahren wieder in Deutschland verfügbar. Der vorliegende erste Band enthält die spannenden und mitreißenden Agenten-Thriller Ein neuer Boss für Kalkutta, Roulette mit einem Killer, Todesgrüße von Mr. X und Mr. Smith vergibt einen Job.

    1. EIN NEUER BOSS FÜR KALKUTTA (Lila De Calcutta)

    Erstes Kapitel

    Christopher W. Lemmon lenkte seinen Wagen langsam über den dunklen Platz. Er hielt auf die Stelle zu, wo er immer zu parken pflegte: in die Lücke zwischen dem Austin eines englischen Kollegen und dem Jaguar eines ausländischen Konsuls. Er zog die Handbremse an, stellte den Motor ab und steckte den Zündschlüssel in seine Hosentasche.

    Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte zwanzig Minuten vor eins. Lemmon gähnte. Er war müde. Wie jeden Abend hatte er ein paar Whiskys mehr getrunken, als er vertragen konnte.

    Er schaltete die Scheinwerfer aus und überlegte sich, dass es eigentlich eine ganz gute Idee wäre, sich eine Freundin zu suchen. Sicher würde ihm eine Frau besser bekommen als die Abende im Club, wo man nichts anderes tun konnte, als mit heimwehkranken Landsleuten Bridge zu spielen und langweilige Gespräche über sich ergehen zu lassen - zwei Dinge, die ihm schon lange auf die Nerven gingen, die er aber dennoch immer wieder von neuem erduldete.

    Er nahm einige Zeitungen vom Nebensitz und stieg aus. Mit einem matten Klicken fiel die Wagentür ins Schloss. Wie gewöhnlich ließ er das Auto unversperrt. Man hatte ihm eingeschärft, dass das Benehmen eines Geheimagenten nie Anlass zu irgendeinem Verdacht geben dürfte; danach handelte er, so gut es ging. Unbefangen musste man sein, doch immer auf der Hut. Und unbewaffnet, aber immer abwehrbereit.

    Es war stockdunkel, und ein leichter Nebel machte die Finsternis noch undurchdringlicher.

    Der Platz war eigentlich nur ein größerer Hof, eingerahmt von mehreren drei- und vierstöckigen Mietshäusern, die alle nicht mehr ganz neu waren. Der Haupteingang zu diesem Platz befand sich auf der Park Street, aber man konnte mit dem Wagen ebenso gut auch von der Royd Street hereinfahren.

    Christopher W. Lemmon wohnte seit fast drei Jahren hier, aber er hatte selten erlebt, dass die Straßenbeleuchtung funktionierte. Jedes Mal hatten Diebe noch vor Morgengrauen die Glühbirnen mitgenommen. Es schien in Kalkutta Strolche zu geben, die ihre Sippe vom Verkauf gestohlener Glühbirnen ernährten, denn viele Straßen lagen praktisch immer im Dunkeln. Die Kerle gingen sogar so weit, dass sie ganze Lichtleitungen abmontierten, um an die begehrten Kupferdrähte zu kommen. Der Handel musste recht einträglich sein.

    Christopher Lemmon ging auf das Gebäude zu, in dem er wohnte. Er blickte die Fassade hoch - und da sah er es: Das Fenster seines Wohnzimmers war beleuchtet.

    Er blieb stehen und überlegte.

    Er war heute Morgen kurz nach neun aus dem Haus gegangen. Da hatte er kein Licht mehr gebraucht. Außerdem machte er morgens in seiner Wohnung nie Licht, allenfalls im Badezimmer zum Rasieren.

    Die Putzfrau? Sie war eine Hindu und hielt den elektrischen Strom für ein Machwerk des Teufels. Das ging sogar so weit, dass Lemmon eigenhändig den Staub von Schaltern und Lampenschirmen wischen musste, weil sie sich beharrlich weigerte, diese »Zaubergeräte« auch nur anzurühren.

    Sein Herz schlug schneller, und er fühlte einen leichten Druck in der Magengegend. Es war ungewohnt. Im Laufe der letzten Jahre war er sicherer geworden, hatte er sich einem gewissen Gefühl der Sicherheit hingegeben. Informationen weiterzuleiten war für ihn eine Beschäftigung wie jede andere geworden, nicht mehr und nicht weniger interessant, nicht mehr und nicht weniger gefährlich als sein eigentlicher Beruf: Importeur und Exporteur.

    Er schaute sich um und machte dann ein paar Schritte nach rückwärts. Sein Appartement lag im zweiten Stock. Wenn er noch weiter zurückging, konnte er vielleicht sehen, ob jemand in der Wohnung war.

    Mit einem heftigen Ruck stieß er an die gegenüberliegende Hausmauer und blieb stehen. Er vergaß beinahe zu atmen; das beleuchtete Rechteck dort oben jagte ihm plötzlich Angst ein.

    Nichts rührte sich weit und breit. Kein Schatten, kein Lebewesen. Vielleicht hatte es sich der Eindringling inzwischen bequem gemacht und wartete in einem Lehnsessel...

    Christopher Lemmon wusste nicht, was er von der mysteriösen Sache halten sollte.

    Er schrak zusammen, als er irgendwo rechts ein unheimliches Rascheln hörte. Er blickte sich um. Einige geparkte Wagen standen da, größere und kleinere, die er nur nach ihrer dunklen Masse unterscheiden konnte. Er hielt den Atem an und wartete gespannt. Er dachte: es muss der Whisky sein. Etwas streifte sein Bein. Beinahe hätte er geschrien. Doch dann erkannte er, was es war: kämpfende Ratten, die sich wütend ineinander verbissen hatten.

    Lemmon versuchte zu lachen, aber es wurde nur ein erbärmliches Krächzen daraus. Ärgerlich zog er sein Taschentuch heraus, um sich den Schweiß abzuwischen, der ihm über das Gesicht rann. Er verstand selbst nicht, wie er nur so verrückt sein konnte, wegen dem Licht, das in seinem Zimmer brannte, an Gefahr zu glauben. Vielleicht war er selbst, ohne es zu merken, beim Hinausgehen an den Schalter gekommen, oder die Putzfrau... Eine unkontrollierte Bewegung. Es gibt ja die verrücktesten Dinge. Er atmete tief durch und löste sich von der Mauer, um nach Hause zu gehen. Schließlich konnte er - vielleicht einer Lappalie wegen - nicht im Freien schlafen.

    Er befand sich in der Mitte des Platzes, als er merkte, wie sich seine Rückenmuskeln spannten. Es war sicher schon gute fünfzehn Jahre her, seit er dies das letzte Mal gehabt hatte. Aber er wusste noch genau, wie unfehlbar sein Instinkt auf die Reflexe seines Körpers wirkte. Und schon ließ er sich nach vorn fallen, drehte sich um, packte den Angreifer, der gegen ihn geprallt war, und warf ihn mit einem Schleudergriff hinter sich.

    Um sich besser bewegen zu können, ließ der Unbekannte seinen Dolch los, der knapp neben Lemmons Kopf aufs Pflaster klirrte. Der Zusammenstoß war nicht lautlos gewesen. Lemmon ergriff das Messer und sprang auf. Auch der andere hatte sich blitzschnell aufgerichtet. Unbeweglich standen sich die beiden Männer gegenüber. Sie starrten sich einen Augenblick lang schweigend und lauernd an. Lemmon übersah jetzt die Situation. Er war sehr zufrieden mit seiner Leistung.

    »Hierher!«, befahl er.

    Der Angreifer rührte sich nicht. Er war nackt bis auf ein paar dunkle Shorts, die ihm um die mageren Beine schlotterten. Seine Hautfarbe war in der Dunkelheit kaum zu bestimmen. Lemmon fiel auf, dass sein Schädel völlig kahl war.

    »Komm her!«

    Mit gezücktem Dolch machte Lemmon zwei Schritte nach vorn. Er fühlte sich völlig sicher. Dieser Zwischenfall erinnerte ihn lebhaft an den Krieg im Pazifik und die Nahkämpfe mit den Japanern. Er glitt noch einen Schritt weiter. Der andere wich zurück, starr wie eine Marionette.

    »Na, warte, Bursche, du kommst mir nicht so billig davon!«, zischte Lemmon.

    Motorengeräusch ließ ihn innehalten. Ein Auto kam von der Park Street her, schaltete und ging in die Kurve, um in den Platz einzubiegen. Lemmons gespannte Haltung lockerte sich, und er verbarg den Dolch lässig hinter seinem Bein. Ohne es zu wollen, ließ er seinen Gegner für Sekundenbruchteile aus den Augen. Und schon rannte der Unbekannte wie eine gejagte Gazelle im Schutz der parkenden Autos davon.

    Christopher Lemmon, der inzwischen im Scheinwerferlicht des näherkommenden Autos stand und geblendet war, musste auf die Verfolgung verzichten. Der Flüchtling hatte auch schon die Royd Street erreicht, und es bestand kaum die Aussicht, ihn jetzt noch einzuholen. Lemmon steckte das Messer in die Tasche und stieg zu seiner Wohnung hinauf.

    Die Eingangstür war zweimal versperrt, ganz so, wie er sie am Morgen verlassen hatte. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte und ihn umdrehte, dachte er noch einmal daran, wie unnötig es gewesen war, dass er sich so aufgeregt hatte. Dass in seinem Zimmer Licht brannte, konnte wirklich ein Zufall sein, und der kleine Zwischenfall, der sich soeben abgespielt hatte, war wohl nichts anderes gewesen als einer der üblichen Raubüberfälle, wie sie die Polizei von Kalkutta jede Nacht zu Dutzenden registriert.

    Er öffnete die Tür, machte im Flur Licht und schloss hinter sich ab. Dann warf er einen flüchtigen Blick in die Küche und ging ins Wohnzimmer. Zum Schluss ging er ins Schlafzimmer.

    Nichts.

    Er kehrte um, wollte die Wohnung noch ein zweites Mal und genauer durchsuchen. Er schaute in alle Schränke, hinter alle Türen, sah sich in der Küche die Tür zum Dienstbotenaufgang an, doch er entdeckte nichts Besonderes. Nichts ließ darauf schließen, dass jemand in der Wohnung gewesen war.

    Immer darauf bedacht, keine auffälligen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, welche die Vermutung nahelegen könnten, er habe etwas zu verbergen, hatte Lemmon sich weder ein Sicherheitsschloss noch eines jener optischen Gläser in der Tür einbauen lassen, durch das man einen Besucher schon auf dem Treppenabsatz erkennen kann, ohne erst öffnen zu müssen. Eigenhändig hatte er innen an der Tür einen schweren Riegel angebracht, den er jeden Abend vorschob, um ruhig schlafen zu können. Tagsüber, wenn er ohnehin nicht zu Hause war, machte er sich nichts daraus, dass jemand bei ihm eindringen konnte. Er bewahrte nie irgendwelche verräterischen Unterlagen bei sich auf.

    Er schob den Riegel vor, schloss die Fensterläden und zog die Gardinen zu. Danach holte er sich aus der Küche ein Glas und ein paar Eiswürfel und gönnte sich einen ordentlichen Whisky on the rocks.

    Genüsslich trank er einen tiefen Schluck, packte dann sein Glas und ging ins Badezimmer hinüber, um sich die Hände zu waschen. Eigentlich waren seine schmutzigen Hände nur ein Vorwand; er wollte vielmehr in den Spiegel schauen und den Helden bewundern, der er seiner Meinung nach wieder geworden war. Er war stolz und zugleich überrascht, dass seine Reflexe noch nach 15 Jahren so ausgezeichnet reagierten.

    »Wenn ich auch nur eine halbe Sekunde gezögert hätte, wäre ich verratzt gewesen«, murmelte er befriedigt und betrachtete voll Sympathie das Bild, das ihm aus dem Spiegel entgegenstrahlte.

    45 Jahre alt, den Kopf voll kastanienbraunen Naturwellen (man hielt ihn deswegen meist für einen Engländer), dunkle Augen, betonte Backenknochen, das Gesicht von der Sonne des letzten Urlaubs noch bronzefarben, charmante kleine Fältchen in den Augenwinkeln - das war er, Christopher W. Lemmon, und er fand sich gar nicht so übel.

    Langsam trocknete er sich die Hände ab, legte das Handtuch weg und warf noch einen letzten Blick in den Spiegel.

    Dann nahm er sein Glas und kehrte wieder in das mit Korbmöbeln eingerichtete Wohnzimmer zurück. Die bleierne Müdigkeit von vorhin war wie weggeblasen. Seine Nerven waren noch immer angespannt von der Aufregung und dem anschließenden Überfall auf dem Platz vor seinem Haus.

    Schlagartig packte ihn eine unwiderstehliche Lust, noch einmal wegzugehen. Er konnte zum Beispiel noch einen kleinen Abstecher ins Maxim machen, der Bar im Great Eastern Hotel, wo eine rassige französische Sängerin auftrat, die ihm keineswegs missfiel.

    Wie lange hatte er keine Frau mehr im Arm gehabt? Zwei Jahre? Drei Jahre? Er wusste es nicht mehr genau. Sogar den Namen und das Gesicht seiner letzten Geliebten hatte er vergessen.

    Er trank sein Glas aus und sagte dann laut zu sich selbst: »Idiot!«

    Sicher war es idiotisch. Mit seinen 45 Jahren und - wie sich heute gezeigt hatte - im Vollbesitz seiner Kräfte, war er für eine Frau sicherlich noch recht attraktiv. Soviel er wusste, trat die Französin um ein Uhr zum letzten Mal auf. Aber er war sich nicht ganz sicher.

    Warum sollte er nicht dort anrufen und fragen?

    Er hob den Telefonhörer ab und wartete auf das Amtszeichen.

    Das Telefon war tot. Ungeduldig schüttelte er den Hörer.

    »Hallo! Hallo...«

    Und dann sah er es: Das Kabel war fein säuberlich abgeschnitten, kurz hinter dem Apparat selbst und über der Schaltdose am Fuß der Mauer. Einige Sekunden lang starrte er ungläubig auf die Bescherung. Die Haut auf seinem Rücken begann zu kribbeln, und er schluckte krampfhaft. Dann suchte er die fehlenden drei Meter Kabel.

    Er fand sie nicht. Die Person, welche die Leitung durchschnitten hatte, musste auch gleich den Draht mitgenommen haben.

    Blitzartig überfiel ihn ein schrecklicher Verdacht, und er fühlte, wie sich sein Magen dabei zusammenzog. Während er im Büro saß, war jemand hier eingedrungen, hatte das Telefonkabel zerschnitten und dann vergessen, das Licht auszumachen, bevor er sich wieder aus dem Staub machte. Und dann der Überfall. Jetzt war ihm alles klar: man wollte ihn ermorden.

    Sicherlich nicht wegen der paar belanglosen Dinge, die man bei ihm hätte finden können. Er behielt nie etwas bei sich. Die Liste der Informanten, ihre Adressen und Telefonnummern hatte er im Kopf; sein Gedächtnis war verlässlicher als jedes Notizbuch. Seine Berichte schrieb er im Büro, als Geschäftsbriefe getarnt und nach einem Code, der regelmäßig alle drei Monate nach einem bestimmten System ausgewechselt wurde. Ein Exemplar seiner Meldung übergab er jeweils einem Angestellten des Konsulats, wo er aufgrund seiner kaufmännischen Tätigkeit täglich ein- und ausgehen konnte, wenn er wollte, ohne dadurch aufzufallen oder Verdacht zu erregen.

    Während der drei Jahre, die er nun als ständiger Agent des amerikanischen Geheimdienstes CIA in Kalkutta lebte, war er nie mit einer wirklich wichtigen Aufgabe betraut worden. Wahrscheinlich hielt man ihn in Washington nicht für einen besonders tüchtigen Mann, der Außergewöhnliches zu leisten imstande war. Im Grunde genommen schämte er sich deswegen ein wenig vor sich selbst, doch musste er seinen Vorgesetzten wohl oder übel recht geben, wenn er an seinen letzten Versager dachte: Der Dalai Lama war geflohen, und man wusste nicht, wo er sich befand. Wie alle anderen Bürger auch, hatte er erst durch die Zeitung erfahren, dass sich das Oberhaupt der Tibetaner nur ein paar Kilometer von Kalkutta entfernt aufhielt.

    »Aber wer will mich denn umbringen?«

    Da gab es wohl diese unglaubwürdige Geschichte, die Wadhwani erzählt hatte und die tatsächlich so nach Märchen klang, dass er sie eigentlich nur aus Pflichtbewusstsein weitergegeben hatte, mit der Note D versehen, der schlechtesten, die es überhaupt gab.

    Ein lautes Knacken, das aus der Küche kam, ließ ihn aufspringen. Kalter Schweiß erschien auf seiner Stirn, als er hinüberging in sein Zimmer, um den Colt zu holen, den er in seiner Nachttischschublade aufbewahrte.

    Der Colt war nicht mehr da. Lemmon riss sämtliche Schubladen auf und wühlte hastig unter seiner Wäsche, weil er dachte, die Putzfrau hätte in ihrer kindlichen Furcht vor unbekannten Dingen die Waffe vielleicht an einen anderen Platz gelegt. Doch der Revolver war verschwunden. Ein zweites Knacken drang an sein Ohr, ebenso stark und eindringlich wie das erste. Da zog er den Dolch aus der Tasche, den er vorhin seinem Angreifer abgenommen hatte, und schlich zur Küche.

    Die Tür des Dienstboteneingangs war in ihrem unteren Teil sonderbar verbogen. Und starr vor Entsetzen sah Christopher Lemmon zwischen Türfüllung und Tür die Spitze eines Brecheisens, das jemand von außen her anhob. Die klassische Methode, der sich seit Jahrhunderten alle Einbrecher der Welt bedienen: man zwängt einen Korken in die so entstandene Ritze, setzt das Brecheisen weiter oben an, platziert einen zweiten Korken und so weiter, bis man schließlich in die Nähe des Schlosses kommt, das dann durch den Druck der Korken gesprengt wird.

    Einen Augenblick lang empfand Christopher Lemmon die Methode einfach als eine unerhörte Beleidigung. Seine Furcht und alle Vorsicht vergessend, schrie er dem unsichtbaren Gegner wütend zu: »Hören Sie sofort auf, oder ich schieße!«

    Im Nu war das flache Ende des Brecheisens verschwunden. Lemmon hielt den Atem an, um besser hören zu können, was auf der anderen Seite der Tür geschah.

    Stille.

    Dann räusperte sich jemand auf dem Treppenabsatz, als ob er zu einer Rede ansetzen wollte.

    »Ich zähle bis drei, dann schieße ich«, sagte Lemmon. »Eins - zwei - drei...«

    In aller Ruhe erschien das Brecheisen wieder unter der Tür, und der Eindringling fuhr, ohne von Lemmons Drohungen beeindruckt zu sein, gemächlich in seiner Arbeit fort. Wieder knackte es unheimlich. Christopher Lemmon fühlte sich verhöhnt. Sein Gegner musste sich sehr sicher fühlen, sonst würde er irgendeine Reaktion zeigen.

    Lemmon hatte diese Wohnung gewählt, weil sie zwei Ausgänge besaß. Wenn der Gegner vom hinteren Ausgang her angriff, konnte man immer noch vorn hinaus die Flucht ergreifen und umgekehrt. Sein Entschluss war schnell gefasst. Das Telefon war tot, und er konnte niemand um Hilfe rufen. Und sich hier in der Falle fangen zu lassen wie eine Maus, lag auch nicht gerade in seiner Absicht. Er würde es ihnen schon zeigen.

    Entschlossen begab er sich zur Haupteingangstür. Den Dolch fest in der Hand, wollte er gerade vorsichtig den Riegel zurückschieben, als es klingelte.

    Da stand jemand vor der Tür und drückte anhaltend auf den Klingelknopf. Von einer verzweifelten Hoffnung getrieben, fragte Christopher Lemmon hastig: »Wer ist da?«

    Keine Antwort.

    »Wer ist da?«, wiederholte er.

    Wieder keine Antwort.

    Einige Sekunden verstrichen in absoluter Stille. Darm ein diskretes, kaum hörbares Räuspern. Und wieder das Knacken am Dienstboteneingang.

    Da sie offenbar zu mehreren gekommen waren, hatten sie es natürlich nicht versäumt, beide Ausgänge zu besetzen. Das hätte er sich ja denken können. Sie begannen ihre Arbeit am Dienstboteneingang einfach deshalb, weil sie dort keine Störung befürchten mussten.

    Lemmon kehrte in die Küche zurück. Er war schweißgebadet, und die Kleider klebten ihm unangenehm auf der feuchten Haut. Er wischte sich mit einem Hemdsärmel übers Gesicht und starrte auf die Tür. Die ersten Korken waren von selbst wieder herausgefallen; der zuletzt eingesetzte befand sich gut einen halben Meter über dem Fußboden. Und wieder bewegte sich das Brecheisen. Die Tür gab ein wenig nach, und Lemmon sah, wie zwei braune Finger einen weiteren Korken, einige Zentimeter über dem vorigen, in den Spalt zwängten.

    Lautlos schlich er ganz nahe an die Türfüllung heran und wertete, den Dolch fest in der Hand und bereit, ihn jederzeit losschnellen zu lassen. Das Stahlwerkzeug arbeitete weiter, das Holz knackte, der Spalt an der Tür wurde immer länger, ein Korken fiel herunter...

    Lemmon sah eine Fingerspitze und stieß mit aller Kraft zu. Aber er hatte schlecht gezielt. Die Spitze des Dolches bohrte sich tief ins Holz hinein, genau zwei Millimeter neben dem Finger, der sich blitzschnell zurückzog.

    Keinerlei Reaktion von Seiten des Gegners. Kein Wort, kein Fluch, nichts. Gerade diese Gleichgültigkeit und die Kaltblütigkeit waren es, die Christopher W. Lemmon von Sekunde zu Sekunde in eine immer heftiger werdende Panik trieben. Er fühlte, das sein Körper wie gelähmt war und dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

    Plötzlich war ihm alles egal. Das einzige, was er noch tun konnte, war, um Hilfe zu rufen. Er stürzte zum Fenster, riss die Vorhänge auseinander, öffnete mit fieberhafter Eile Fenster und Fensterladen und begann wie ein zum Tode Verurteilter zu schreien, so laut er konnte: »Hilfe! Man will mich ermorden! Hilfe!«

    Er konnte den Mann, der unten stand und die Waffe auf ihn angeschlagen hatte, in der Dunkelheit nicht sehen...

    Die Kugel, die aus einem Jagdgewehr abgeschossen wurde, traf ihn über den Augen mitten in die Stirn. Die Wucht des Aufpralls warf ihn zurück. Er machte taumelnd zwei, drei Schritte ins Zimmer hinein und schlug der Länge nach aufs Bett.

    Christopher Lemmon war tot.

    ANWEISUNG

    GEHEIM

    Betr. Mortimer 2.38

    Beschreibung des Ortes

    Kowloon-Werft. Das Lager L befindet sich gegenüber der Haiphong Road, die an der Südseite der Whitfield-Kaserne vorbeiführt. Zwei bewaffnete Wachtposten machen genau alle dreißig Minuten eine Runde. Vorsicht - der Rhythmus ihrer Patrouille wechselt jede Nacht. Die großen Tore des Lagers L sind mit Ketten gesichert, die von schweren Vorhängeschlössern zusammen gehalten werden. Ein kleiner Diensteingang auf der Nordseite trägt ein gewöhnliches Schloss. Dieser Eingang führt in das Kontrollbüro, in dem nachts ein von der »Pacific Pharmaceutical & Chemical Company« angestellter Wächter schläft. Er lässt den Schlüssel zu diesem kleinen Diensteingang immer innen an der Tür stecken. Er ist bewaffnet.

    Vorbereitung

    George, Louis und Paul treffen sich um zwei Uhr morgens an der Nordecke der Kreuzung Canton Road - Saigon Street. Kleidung: Shorts und dunkelbraunes Hemd. Peter erwartet sie mit einem Boot am Nordkai der Saigon Street. Sie nehmen den Wasserweg, um zur Kowloon-Werft zu gelangen, und legen im Schatten des panamaischen Frachters Kermit an. An einem Poller befestigt hängt unter dem Bug des Schiffes eine Strickleiter an der Pier. George, Louis und Paul klettern in einem Abstand von zwanzig Sekunden einer nach dem anderen hinauf. Paul trägt den Sack, der das Werkzeug enthält.

    Ein schwarzer Lieferwagen, Marke Austin, mit einer grauen Plane gedeckt, die den Firmennamen »South China Trading Co.« trägt, steht geparkt vor der Nordfront des Lagers M. Die drei Männer nähern sich unter allen Umständen getrennt diesem Lieferwagen und passen auf, dass sie nicht den Wachtposten in die Hände laufen. Dann verstecken sie sich im Heck des Wagens. Von hier aus kann man bequem und ohne gesehen zu werden die Nordfassade des Lagers L beobachten. Sobald eine Runde vorüber ist, gehen sie an die Arbeit. Genau eine Minute, nachdem die Wachen vorbei sind, verlassen die drei Männer einer nach dem anderen den Wagen, diesmal in einem Abstand von je zehn Sekunden. Sie treffen sich wieder vor der Tür des Diensteingangs zu Lager L. Wenn der Schlüssel von innen steckt, wird die Tür mit einem Dietrich geöffnet. Der Wächter ist bei seinen Kollegen dafür bekannt, dass er einen tiefen Schlaf hat. Es muss aber trotzdem mit aller Vorsicht ans Werk gegangen werden. Wenn der Schlüssel nicht im Schloss steckt, was unwahrscheinlich ist, darf die Tür nicht auf gebrochen werden. Die drei Männer gehen dann zum nächsten Tor und versuchen dort, die Ketten mit Hilfe von starken Blechscheren durchzuschneiden.

    Deckung

    Paul führt den Einbruch aus. George und Louis sind während dieser Zeit für seine Deckung verantwortlich. Paul übernimmt diese Aufgabe erst, wenn die beiden anderen die Kiste aus dem Lager herausholen. Wenn im Lauf des Unternehmens Alarm geschlagen wird, flüchten die drei Männer jeder in eine andere Richtung und sehen zu, dass sie möglichst auf dem Wasserweg verschwinden. Dabei müssen sie damit rechnen, dass Peter inzwischen schon wieder weg ist, und eventuell schwimmend entkommen.

    Zweck des Unternehmens

    Aus einem Kontingent von einhundert Kisten soll eine Kiste herausgeholt werden. Die Sendung ist an der Westseite des Lagerhofes auf gestapelt, am nördlichen Ende der langen Mauer. Kistenmaße: 40 x 40 x 60 cm. Material: helles Holz. Erkennungszeichen: eingebrannter Firmenname »Hooghly Laboratories« - P.O.B. g8 - Kalkutta. Bestimmungsort: »Cheong Medicine Co.« - Kowloon. Paul bleibt im Quartier des Wächters zurück, bis George und Louis den Lagerhof wieder verlassen haben. George nimmt die Kiste an sich. Louis sorgt für die Beleuchtung.

    Rückzug

    George trägt die Kiste sofort zum bereitstehenden Lieferwagen. Louis folgt ihm, und beide verstecken sich im Heck. Paul verlässt das Lagerhaus genau eine Minute später. Vorher muss er dafür sorgen, dass der Wächter nicht so schnell Alarm schlagen kann. Er schließt die Tür von außen ab und wirft den Schlüssel über die Mauer. Dann geht er auf schnellstem Wege zu Tor Nr. 4, das zur Canton Road hinausführt, und zerschneidet mit seiner Blechschere die Verschlusskette. Als nächstes geht er die 120 Meter zum Lieferwagen zurück, um seinen Kameraden Bescheid zu sagen. Daraufhin begibt er sich wieder zu dem Tor, um die Türflügel aufzumachen. George setzt sich inzwischen ans Steuer des Lieferwagens - der Zündschlüssel liegt unter dem Sitz - und startet den Motor genau fünf Minuten, nachdem Paul weg ist. Paul öffnet die Torflügel erst in dem Augenblick, wo er den Motor des Lieferwagens hört. Er geht auf die Canton Road hinaus und stellt sich links auf, um nachher auf das fahrende Auto aufspringen zu können. George muss folgenden Weg nehmen: Haiphong Road - Hankow Road - Peking Road, dann nach zwanzig Metern rechts abbiegen in die Ashley Road. Gleich am Anfang der Ashley Road bleibt er hinter einem schwarzen Chevrolet stehen, der das polizeiliche Kennzeichen HK 42614 trägt. Louis übergibt die Kiste Paul, der sie in den Kofferraum der Limousine legt. Der Kofferraum ist offen. Er drückt den Deckel vorsichtig zu, bis das Schloss einschnappt. Der Fahrer des Chevrolet fährt sofort los. Der Lieferwagen bleibt stehen, und die drei Männer entfernen sich in verschiedene Richtungen.

    Utensilien

    Ein paar starke, verstellbare Blechscheren; mehrere Dietriche; eine feuchte Zeitung; drei Taschenlampen; drei Schlagringe; drei Paar Nylonhandschuhe; ein Baumwolltuch; eine Zehnmeterrolle dünne, unzerreißbare Schnur.

    Wichtiger Hinweis

    Es ist verboten, den Wächter zu verletzen oder gar zu töten, es sei denn, es handle sich um Notwehr, das heißt, wenn akute Gefahr besteht, selbst verletzt oder getötet zu werden. Weder auf dem Weg zum Lagerhaus noch während des Rückzugs darf irgendein Licht, auch nicht eine Taschenlampe, benützt werden. Die Lampen finden nur im Lagerhaus und nur während des Einbruchs Verwendung, sonst nirgends.

    Achtung!

    Für den Fall, dass einer der drei Männer gefasst wird, hat er sich als einfacher Dieb auszugeben. Das ist ein Befehl. Code-Wort für das Unternehmen ist »Medizin«.

    Zweites Kapitel

    Im Zeitlupentempo schob George den Kopf an der Kaimauer hoch, bis seine schwarzen Schlitzaugen die Kante erreicht hatten. Es war Neumond. Dunkle Wolken fegten über den Himmel. Der Sturm hatte das Meer bis in den Hafen hinein aufgewühlt, und die Kermit zerrte ächzend an ihren Ankerketten, als ob sie sich jeden Augenblick losreißen wollte.

    Lange stand George unbeweglich auf der engen Eisenleiter über dem Wasser und beobachtete die Uferstraße. Ein paar trübe Straßenlaternen warfen da und dort verschwommene Lichtflecke zwischen die riesigen Lagerschuppen. So kümmerlich diese Beleuchtung auch war, George war sich darüber im Klaren, dass sie eine nicht zu unterschätzende Gefahr für das Unternehmen bedeuten konnte. Zum Glück wusste er, aus welcher Richtung die Wachtposten anmarschierten, so dass er sich einigermaßen darauf einstellen konnte, nicht gerade im Licht zu stehen, wenn sich die Patrouille näherte.

    Als er sah, dass die Luft rein war, kletterte er behende die letzten Sprossen hoch und drückte sich blitzschnell auf das schmierige feuchte Pflaster. Noch zögerte er einen Augenblick, doch dann rannte er los.

    George hatte in dem flachen Boot, in dem Peter ihn und seine beiden Komplizen von der Saigon Street herübergerudert hatte, noch einmal eine Generalprobe abgehalten, um zu prüfen, ob Paul und Louis den Plan ebenso gut auswendig konnten wie er. Dann hatten sie ihre Uhren fast auf die Sekunde genau aufeinander abgestimmt.

    Es war das erste Mal, dass George mit Paul und Louis zusammenarbeitete. Sie waren, wie er, Chinesen und kamen ebenfalls aus der Special Training School der amerikanischen Armee in Okinawa. Ihre richtigen Namen waren ihm unbekannt, wie auch sie den seinen nicht wussten. Decknamen, ein vager Eindruck der Gesichtszüge und Stimmen - das würde die einzige Erinnerung sein, die sie von diesem nächtlichen Abenteuer auf den Docks der Kowloon-Werft behalten würden. Die Aussicht, dass die Organisatoren für diese Art von Spezialaufträgen das gleiche Team ein zweites Mal zusammenstecken würden, war gleich Null.

    Plötzlich sah George ziemlich weit links zwei Silhouetten auftauchen. Mit einigen Sätzen war er bei einem Entladekran, der auf Schienen montiert war, und ließ sich darunter gleiten.

    Louis sollte ihm nach zwanzig Sekunden folgen. Wenn er die Wachtposten nicht sah, war alles umsonst. George drehte sich vorsichtig zwischen den Schienen um und spähte zur Kermit hinüber. Weiter links funkelten die vielen tausend Lichter von Hongkong über den riesigen Schiffen. Das Horn einer Fähre durchbrach mit einem tiefen, unheimlichen Heulen die drückende Stille der Tropennacht.

    Die Wachtposten näherten sich nur langsam. Sie durchschritten einen der Lichtflecken. George konnte ihre Gesichter erkennen. Eine Minute später patrouillierten sie in einem Abstand von zwanzig Metern an dem Kran vorbei, dann waren ihre gedämpft murmelnden Stimmen nicht mehr zu hören.

    George wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren, dann machte er sich wieder auf den Weg. Nach den Erfahrungen, die er bis jetzt mit Wachen gemacht hatte, konnte er nun so gut wie sicher sein, keiner weiteren Patrouille mehr zu begegnen. Er lief schnell weiter, dicht an den Mauern und sorgsam darauf bedacht, nicht in einen der Lichtkreise hineinzurennen.

    Der Lieferwagen stand am angegebenen Platz. Ein letzter Blick in die Runde, und George schlüpfte hinten hinein. Lautlos fiel die Plane wieder zu. Dreieinhalb Minuten waren vergangen, seit George seinen Fuß auf den Kai gesetzt hatte.

    Einen Augenblick später kam Louis. Er hatte die Posten gerade noch rechtzeitig gesehen und war auf der Leiter stehen geblieben. Noch dreißig lange Sekunden vergingen, bis Paul mit dem Jutesack auftauchte, der das Material enthielt. Um unbehindert laufen zu können, hatte er ihn über den Rücken gehängt.

    Schweigend, bewegungslos warteten die drei bis vierzehn Minuten vor der nächsten Runde der Wachtposten. Sie sahen, wie die beiden Männer auf eine Kontrolluhr deuteten und wieder weggingen, in die entgegengesetzte Richtung. Es war 2 Uhr 44.

    Um 2 Uhr 45 verließ George, ohne ein Geräusch zu machen, das Lieferauto und wandte sich in Richtung Lagerhaus L, zum Diensteingang, Zehn Sekunden später folgte auch Louis und nach noch einmal zehn Sekunden war Paul mit dem Werkzeug unterwegs.

    Sie blieben einen Augenblick stehen und horchten. Alles schien ruhig. George und Louis drückten sich zu beiden Seiten der Tür an die Mauer; sie behielten die Umgebung im Auge. Paul ließ den Sack von der Schulter gleiten, legte ihn auf den Boden und öffnete den Verschluss. Die Tür vor ihm war aus dickem Blech. Er tastete prüfend den unteren Rand ab und fand einen gleichmäßigen, zentimeterbreiten Spalt über der Schwelle. Dann zog er eine feuchte Zeitung aus dem Sack, faltete sie auseinander und schob sie vorsichtig unter die Tür. Er arbeitete langsam und konzentriert. Bald war von der Zeitung nur noch ein kleines Ende zu sehen, der Rest war im Inneren des Raumes verschwunden. Dann nahm er den Schlüsselbund mit den Dietrichen, entfernte von einem, der ihm passend schien, die Plastikhülle, und steckte den Haken in den oberen Teil des Schlosses. Vorsichtig bohrte er in der Öffnung, um das Ende des Schlüssels zu finden, der von innen im Schloss steckte.

    Die Schwierigkeit bestand darin, den Schlüsselbart zu fassen zu bekommen und so fest einzuklemmen, dass man ihn umdrehen konnte. Aber entweder steckte der Schlüssel nicht richtig, oder Paul war zu nervös. Auf jeden Fall hörten die drei plötzlich ein metallisches Klicken. Glücklicherweise wurde das Geräusch durch die nasse Zeitung gedämpft - der Schlüssel war innen heruntergefallen.

    Paul zog den Dietrich zurück. Die drei Männer horchten angespannt. Vielleicht hatte der fallende Schlüssel den Wächter aufgeweckt. Aber noch rührte sich nichts.

    Der grelle Ton einer Sirene ließ sie zusammenfahren. Dann war wieder Stille. Paul steckte den Dietrichbund ein und kniete sich nieder, um die Zeitung aus der Türritze herauszuziehen.

    Ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter, bewegte er das Papier. Seine auf solche Kunstgriffe trainierten Finger spürten plötzlich auf der linken Seite einen Widerstand. Er verschob die Zeitung etwas nach rechts, dann zog er weiter, bis er es schließlich geschafft hatte.

    Es war ein großer, massiver Eisenschlüssel. Paul hob ihn auf. Dann legte er die Zeitung zusammen, drückte sie Louis in die Hand und machte sich daran, die Tür zu öffnen.

    Louis nahm den Sack vom Boden auf und legte die Zeitung hinein. Inzwischen hatte Paul den Schlüssel geräuschlos ins Schloss gleiten lassen und zweimal umgedreht. Er packte den Sack und zog sich ein paar Schritte zurück. Man konnte ja nicht wissen, was dahinter auf einem wartete. George hielt bereits seinen Schlagring in der rechten Hand, in der linken die Taschenlampe. Louis drehte vorsichtig am Türknopf und stieß die Tür auf, die sich ohne Quietschen bewegen ließ. Jetzt musste alles sehr schnell gehen.

    George betrat als erster den Raum. Er knipste seine Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über den Boden wandern. Das Büro hatte nur ein Fenster. Auf einem Feldbett lag reglos der schlafende Wächter. Doch schlagartig kam Leben in den Mann. Er richtete sich halb auf und tastete nach dem schweren Revolver, der auf einem Hocker neben dem Bett lag. Ein Fußtritt Georges, und das kleine Möbelstück lag am Fußboden. Gleichzeitig versetzte er dem Wächter einen gezielten Schlag. Der Mann kippte bewusstlos nach hinten, fiel aus dem Bett und schlug dumpf auf dem Boden auf.

    Louis und Paul waren inzwischen ebenfalls eingetreten.

    Sie sahen den reglosen Körper des Mannes am Boden, stellten aber keine Fragen.

    George überzeugte sich, dass die Metalltür geschlossen war, und gab Paul ein Zeichen, den Wächter zu fesseln und ihm einen Knebel in den Mund zu stecken. Paul öffnete den Sack und entnahm ihm das Kopftuch und eine Rolle Schnur. Ohne eine Sekunde zu verlieren, verließen George und Louis das Büro, um weiter in das Depot vorzudringen.

    Die Kisten waren leicht zu finden. Louis leuchtete einen Augenblick die Schrift an: Hooghly Laboratories, und die Adresse des Empfängers: Cheong Medicine Co.

    Um die Hände freizubekommen, hatte George Lampe und Schlagring in die Taschen seiner Shorts gesteckt. Er hob eine der Kisten an und wog sie prüfend. Sie war nicht sehr schwer, vielleicht zehn Kilogramm. Eine Kopfbewegung, und Louis verschwand in der Dunkelheit. Die Uhr zeigte 2 Uhr 49.

    2 Uhr 53. Paul stand unbeweglich im Schatten eines Schilderhäuschens, einige Meter vom Eingang Nr. 4 entfernt. Es war ein schweres, aus zwei Türflügeln bestehendes Metallgitter.

    Er zwang sich dazu, noch einige Sekunden zu warten und die Augen offenzuhalten, um festzustellen, ob die Luft rein war. Bis jetzt war alles glatt gegangen, so wie es in der Anweisung gestanden hatte. Es gab keinen Grund, warum jetzt noch etwas dazwischenkommen sollte.

    Er zog eine starke Blechschere aus dem Sack und näherte sich dem Tor. Vor ihm, auf der anderen Straßenseite, sah er die Umzäunung der Whitfield-Kaserne. Er fragte sich, ob hier nicht vielleicht doch Soldaten Wache hielten und Alarm schlagen würden, wenn sie sahen, was am Tor vor sich ging. Doch seine Bedenken waren überflüssig.

    Ein Wagen fuhr aus der Salisbury Road heraus, und Paul sprang in den Schatten des Schilderhäuschens zurück, um nicht entdeckt zu werden. Es war ein Taxi. Er sah das Auto vorbeifahren und wieder verschwinden. Dann nahm er einen neuen Anlauf.

    Die Kette war widerstandsfähiger als er gedacht hatte, und er zog vor, es zuerst an den Vorhängeschlössern zu probieren. Die Blechscheren funktionierten gut, aber er musste trotzdem viel Kraft anwenden, um den Stahl zu zertrennen. Vorsichtig löste er die Ketten und legte sie auf den Boden. Dann steckte er sein Werkzeug in den Sack zurück, den er am Boden liegen ließ, und huschte davon, um den anderen Bescheid zu geben.

    Er war noch keine zwanzig Meter gelaufen, als ihn das helle Lichtbündel eines Scheinwerfers erfasste.

    »Halt!«

    Er schlug einen Haken und rannte auf eines der Verwaltungsgebäude zu, die in der Nähe standen. Die Wachen brüllten ihm nach, er solle stehen bleiben. Dann schossen sie. Die Kugeln pfiffen Paul nur so um die Ohren. Der letzte Schuss ging neben ihm in die Mauer, gerade in dem Augenblick, als er um die Ecke bog. Der ärgsten Gefahr entgangen, war sein erster Gedanke. Die anderen mussten gesehen haben, was passiert war, sie würden nun versuchen, mit dem Lieferwagen zu flüchten. Schnell lief er weiter, um einen der Lagerschuppen herum, und wandte sich dann wieder in Richtung Tor 4.

    Kaum dort angekommen, hörte er das Brummen eines Automotors. Schnell öffnete er einen Torflügel, doch beim zweiten gab es Schwierigkeiten. Eine Stange ließ sich nicht lösen, und er verlor wertvolle Sekunden, bis er das Hindernis beseitigt hatte.

    Da tauchten die Wachen wieder auf. Sie waren nur noch knapp dreißig Meter von Paul entfernt. Hinter ihnen erschien der Lieferwagen, der mit immer größerer Geschwindigkeit heranbrauste. Doch die beiden Männer schienen ihn nicht zu bemerken.

    »Halt!«

    Endlich war das Tor offen. Da wurden die Wachen stutzig und blieben stehen, um nach hinten zu sehen. Ohne Scheinwerferlicht raste der Lieferwagen mit Vollgas auf den Ausgang zu. Einer der Männer sprang zur Seite, der andere blieb stehen, streckte den Arm aus und schoss. Frontal wurde er vom Lieferwagen erfasst und in die Luft geschleudert. Entsetzt sah Paul, wie der Körper auf die Kühlerhaube fiel und dort liegen blieb. Der Wagen brauste in vollem Tempo an Paul vorbei und bog nach rechts in die Canton Road ein. Die Reifen quietschten schrill, als er um die Ecke fuhr. Durch die abrupte Wendung rollte der leblose Körper des Wächters vom Auto und blieb am Straßenrand liegen.

    Paul wurde am Kragen gepackt. Jemand drückte ihm die Mündung eines Revolvers unter das Kinn.

    »Hab ich dich, du Schweinehund!«

    Dabei zitterte der Wachtposten so sehr, dass Paul befürchtete, der Schuss könne unversehens losgehen. Mit eiskalter Ruhe holte Paul seinen Schlagring aus der Tasche, warf sich zur Seite und schlug dem anderen ins Gesicht, bevor dieser überhaupt merkte, was los war.

    Paul stieg über den reglos daliegenden Posten hinweg und lief, so schnell er konnte, in Richtung Haiphong Road davon.

    Drittes Kapitel

    Umständlich klemmte Mr. Smith seine Brille auf die Nase, was ihm das Aussehen eines griesgrämigen alten Frosches verlieh. Die Tür öffnete sich, und OSS 117, Hubert Bonisseur de la Bath, betrat das Büro.

    »Wie geht es Ihnen?«, fragte er höflich.

    Mr. Smith antwortete nicht. Der Agent, derzeitig der beste CIA-Mann, ließ sich in einen der bequemen, lederbezogenen Besuchersessel fallen. Mr. Smith, der seinen Besucher genau beobachtete, stellte wohl zum hundertsten Male den Vergleich mit einem Tiger an. Der junge Mann besaß in der Tat den elastischen, wiegenden Gang, die sorglose Ungezwungenheit, aber auch die beängstigende Ruhe dieser großen Raubtiere, was dem alten Herrn jedes Mal ein wenig unheimlich war.

    »Wie geht es Ihnen?«, fragte Mr. Smith schließlich.

    »Ausgezeichnet.« Bonisseur grinste. »Die letzte Mission ist erfolgreich abgeschlossen, und ich bin noch am Leben. Mehr kann man doch gar nicht verlangen.«

    Mr. Smiths aufgedunsenes Gesicht verzog sich zu der Andeutung eines Lächelns.

    »Umso besser«, sagte er. »Ich habe nämlich etwas Neues für Sie.«

    »Das dachte ich mir. Oder haben Sie mich vielleicht schon einmal rufen lassen, um sich mit mir zu unterhalten?«

    Mr. Smith tat, als habe er diese Bemerkung nicht gehört.

    »Bestimmungsort Kalkutta«, verkündete er.

    »Eine scheußliche Stadt, aber irgendwie mag ich sie. Worum geht es?«

    »Wir hatten dort drei Jahre lang einen ständigen Mitarbeiter. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn: Christopher W. Lemmon. Er betrieb eine Import-Export-Gesellschaft. Ein verlässlicher Mann, aber nicht mehr. Er brachte eigentlich nie etwas Sensationelles. Bis vor vierzehn Tagen - da gab er eine Meldung durch, allerdings mit D 4 versehen und dreimal unterstrichen. Er hat von einem Impfstoff Wind bekommen, der in Kalkutta hergestellt wird und nach Rotchina exportiert werden soll. Dieses Serum enthält angeblich besonders ansteckende Grippeerreger, die innerhalb kürzester Zeit eine Epidemie verursachen. Wahrscheinlich hätten wir die Information nicht so ernst genommen, wenn - nun, wenn Lemmon nicht einige Stunden, nachdem er seinen Bericht abgeschickt hatte, erschossen worden wäre.«

    »Also doch kein Ammenmärchen.«

    »Das haben wir uns auch gedacht. Dank einiger Details, die Lemmons Bericht enthielt, ist es uns gelungen, eine dieser Mordkisten aus einem Lagerhaus in Hongkong herauszuholen.«

    Mr. Smith nahm seine Brille wieder ab und begann sorgfältig die dicken Gläser abzureiben.

    »Und was geschieht jetzt?«, fragte OSS 117.

    Mr. Smith setzte die Brille auf.

    »Die Information war richtig. Wenn die Chinesen diesen Impfstoff verwendet hätten, wäre eine grauenhafte Seuche ausgebrochen, die dann, wie Seuchen das eben so an sich haben, in kürzester Zeit auf die Nachbarländer übergegriffen hätte, wahrscheinlich sogar über die ganze Erde verschleppt worden wäre.«

    »Sind Sie sicher, dass davon nicht schon etwas verwendet wurde?«

    »Nun, die Sache ist so schwerwiegend, dass wir die englischen Behörden in Hongkong verständigt haben. Die Lieferung konnte beschlagnahmt werden. Wir haben übrigens vorher ein Muster davon aus dem Lagerhaus, in dem die Fracht auf die Abfertigung wartete, holen lassen. Dann wurde der Transithändler ermittelt. Es war die erste Sendung, aber vermutlich sind weitere in Vorbereitung.«

    »Weiß man denn, wo dieses Teufelszeug hergestellt wurde?«

    »Ja. Es kommt aus den Hooghly-Laboratorien in Kalkutta. Die Auskünfte, die wir über diese Firma bekommen haben, sind ausgezeichnet. Es handelt sich um ein anglo-indisches Unternehmen, das auf dem pharmazeutischen Markt den besten Ruf genießt.«

    »Gut. Wie sieht das Programm aus?«

    »Lemmon hatte fünf ständige Mitarbeiter, die ihn auf dem Laufenden hielten. Mit ihnen müssen Sie sofort Kontakt aufnehmen, um zu erfahren, wer die Geschichte von diesem Impfstoff überhaupt ausgegraben hat. Gleichzeitig sollte man diese Laboratorien etwas genauer unter die Lupe nehmen. Vielleicht lässt sich feststellen, was hinter dem Fall steckt. Lind dann hätten Sie wie üblich völlig freie Hand, die Sache zu Ende zu führen.«

    Das alles klang ziemlich vage, aber OSS 117 wusste, dass er noch einen Bericht bekommen würde, in dem Näheres über die bisherigen Recherchen stand und den er, wie immer, auswendig zu lernen hatte.

    »Tarnung?«, fragte er sachlich.

    »Import-Export. Die Firma, die Lemmon in Kalkutta bis zu seiner Ermordung leitete, ist die Filiale eines großen panamesischen Unternehmens, an dem wir beteiligt sind - mit Aktienmehrheit übrigens. Sie werden einfach als Lemmons Nachfolger dort ankommen.«

    Viertes Kapitel

    OSS 117, Hubert Bonisseur de la Bath, verließ den Aufzug im vierten Stock und betrachtete das polierte Kupferschild auf der schwarzen Holztür:

    Jack Robinson & Co.

    Import - Export

    Er öffnete die Tür, und ein Glöckchen klingelte freundlich seine Ankunft. Der Flur war quadratisch und nicht sehr groß. An den hellgetünchten Wänden hingen ein paar Fotografien; sie zeigten Frachtdampfer.

    In der Nähe des Fensters war ein Hindu-Junge damit beschäftigt, Aschenbecher in einen Papierkorb zu leeren und mit einem Tuch auszuwischen. Er unterbrach seine anregende Beschäftigung.

    »Sie wünschen, Sir?«

    OSS 117 lächelte.

    »Ich heiße Tony Burton«, sagte er. »Ich bin der neue Chef dieses Hauses. Ich komme als Nachfolger des bedauernswerten Mr. Lemmon. Wie heißt du?«

    »Bell, Sir.«

    »Bell - hm. Willst du mich ins Büro von Miss Cox führen?«

    Der Junge ging zu einem weißen Tischchen, auf dem ein Telefon stand.

    »Ich will ihr gleich Bescheid sagen, dass Sie angekommen sind, Sir.«

    »Das ist nicht nötig, Bell«, sagte Bonisseur, der aus bestimmten Gründen nicht angemeldet werden wollte.

    »Verzeihung, Sir«, antwortete der Junge unterwürfig. »Bitte, kommen Sie mit. Miss Cox’ Büro ist hier in diesem Gang, die erste Tür rechts.«

    OSS 117 blieb vor der angegebenen Tür stehen, klopfte und trat ein, als er keine Antwort hörte. Eine junge Frau in einem engen weißen Leinenkleid drehte ihm den Rücken zu. Sie stand am Fenster und zog sich mit einem Stift die Lippen nach. Ein Lastwagen, der unten vorbeifuhr, machte so einen Lärm, dass die Scheiben vibrierten. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb sie auf sein Klopfen nicht reagiert hatte.

    »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Bonisseur charmant.

    Sie zuckte zusammen, drehte aber sofort geistesgegenwärtig den Spiegel ihrer Puderdose so, dass sie ihn als Rückspiegel benutzen konnte. Als sie Bonisseur darin erblickte, wandte sie sich mit einem zornigen Ruck um.

    »Sie können wohl nicht anklopfen, wie jeder halbwegs gut erzogene Mensch, was?«

    »Ich habe geklopft«, antwortete Bonisseur liebenswürdig. »Sie haben nur nicht geantwortet.«

    »Ich habe nichts gehört. Wo ist Bell?«

    »Da, wo er hingehört.«

    »Warum hat er Sie nicht angemeldet?«

    »Ich bin Tony Burton, Ihr neuer Chef.«

    Das schien sie zu beeindrucken. Unbeweglich stand sie da, die geöffnete Puderdose in der halberhobenen Hand, und starrte ihn überrascht an. Sie hatte ein angenehmes Gesicht mit klaren Zügen, große grün-graue Augen, die Haare glatt nach hinten gebürstet und im Nacken zu einem lockeren Chignon gedreht. Die Haare waren von einer ganz eigenartigen Farbe: blassblond mit Grau gemischt. Sie war mittelgroß, schlank und wohlproportioniert. Keine aufregende Schönheit, aber nett und sympathisch.

    »Verzeihung«, sagte sie schließlich, »ich wusste nicht, dass Sie heute schon kommen. Wenn man mir Ihre Ankunft mitgeteilt hätte, wäre ich zum Flughafen gefahren, um Sie abzuholen.«

    »Das ist nicht schlimm. Ich bin in der Nacht gelandet und gleich im Great Eastern abgestiegen.«

    »Wollen Sie nicht Lemmons Wohnung übernehmen?«

    »Ja, sicher. Aber das ist im Augenblick nicht so wichtig. Ich fürchte, ich habe Sie bei einer sehr wichtigen Tätigkeit unterbrochen. Bitte, lassen Sie sich nicht stören.«

    Sie verzog ihr Gesicht zu einem mokanten Lächeln und beendete ihr Make-up.

    »Ich werde Ihnen gleich Ihr Büro zeigen und Sie mit den Angestellten bekannt machen.«

    »Ach, lassen wir uns doch noch ein wenig Zeit damit.« Er lächelte. »Ich weiß, dass Sie eine hervorragende Kraft sind, und möchte gern, dass Sie die Geschäfte noch einige Zeit so selbständig weiterführen wie in den vergangenen Wochen. Ich muss mich erst eingewöhnen, bevor ich mich an die Arbeit mache.«

    Sie atmete erleichtert auf. Während der drei Wochen nach Lemmons Tod hatte sie alle Entscheidungen selbst getroffen. Und der Gedanke, jetzt wieder die kleine Angestellte spielen zu müssen, war ihr ganz und gar nicht angenehm.

    »Nehmen Sie doch Platz und erzählen Sie mir ein bisschen.«

    Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch. OSS 117 hockte sich lässig auf einen der wuchtigen Ledersessel.

    »Erzählen Sie mir ein wenig - zum Beispiel von Christopher Lemmon«, sagte er.

    Sofort verschwand das liebenswürdige Lächeln aus ihrem Gesicht, und sie wandte den Blick ab.

    »Ich weiß nichts von ihm.« Es klang ein wenig zu hastig. »Mr. Lemmon war ein ruhiger, unauffälliger Mann, ziemlich unkompliziert. Die Polizei von Kalkutta ist neuerdings der Meinung, dass dies ein Irrtum sei. Vielleicht war das Ganze ein Eifersuchtsdrama. Ein betrogener Ehemann, der sich im Fenster geirrt hat...« Dann fügte sie noch hinzu, ein wenig enttäuscht, wie es Bonisseur schien: »Mr. Lemmon interessierte sich kaum für Frauen. Er verbrachte jeden Abend im Club und spielte Bridge.«

    OSS 117 ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Es schien sie nervös zu machen. Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite.

    »Stehen Sie in Geschäftsverbindung mit den Hooghly- Laboratorien?«, fragte er unvermittelt.

    Sie zuckte zusammen.

    »Seltsam«, sagte sie. »Mr. Lemmon hat mich gebeten, ihm diesen Vorgang zu bringen. Das war, bevor er zum letzten Mal das Büro verließ. Ein paar Stunden später war er tot.«

    »Hat er die Akte mitgenommen?«

    »Nein. Er wollte nur etwas nachsehen.«

    »Ich würde gern einmal einen Blick in diese Unterlagen werfen.«

    Sie nahm den Telefonhörer ab, drückte auf einen Knopf und gab die Bitte weiter. Danach sprachen sie von diesem und jenem, von den Lebensbedingungen in Kalkutta, vom Klima und von den Menschen, bis Bell schließlich den Ordner »Hooghly-Laboratorien« brachte.

    Bessie Cox blätterte ihn schnell durch und reichte ihn dann ihrem neuen Chef, der abwartend neben ihr stand.

    »Nicht viel... Nur Briefwechsel und ein paar Notizen. Wir waren mit den Leuten im Gespräch, aber ohne konkreten Erfolg. Ihre Preise sind nicht konkurrenzfähig.«

    Ein schneller Blick in die Akten genügte OSS 117, um Bessie Cox’ Ausführungen Glauben zu schenken. Er schaute die junge Frau nachdenklich an.

    »Ich möchte einen Termin mit einem der Direktoren dieser Firma. Können Sie mir das arrangieren?«

    Sie schien aufzuhorchen, versuchte aber, sich ihre Neugier nicht anmerken zu lassen.

    »Selbstverständlich. Wann wäre es Ihnen recht?«

    »So bald wie möglich. Heute Nachmittag am besten.«

    »Und wenn es für heute nicht mehr geht?«

    »Probieren Sie es erst mal«, sagte er. »Ich möchte auf jeden Fall mit einem der Herren sprechen, egal mit welchem. Noch wichtiger wäre mir allerdings, die Fabrikanlage zu besichtigen.«

    »Wie Sie wünschen.«

    Sie nahm ein Päckchen Zigaretten vom Schreibtisch.

    »Rauchen Sie?«

    »Nein, danke.«

    Sie zündete sich eine Zigarette an.

    »Haben Sie noch weitere Fragen an mich?«, fragte sie dienstlich - höflich und blies eine durchsichtige blaue Rauchwolke zur Decke.

    »Ja«, sagte Bonisseur. »Ich möchte gern wissen, ob Ihre Haarfarbe echt ist.«

    Sie zog eine komische Grimasse, um ihr Erstaunen auszudrücken, und berührte mit der einen freien Hand ihren Chignon.

    »Gefällt sie Ihnen?«

    »Ich glaube, sie macht Sie älter.«

    »Ich bin einunddreißig, das ist kein Geheimnis. Was die Farbe angeht - na ja, sie ist nicht ganz echt. Mein Friseur ist ein Künstler, verstehen Sie, und experimentiert gern ein wenig herum.«

    Sie wollte noch etwas hinzufügen und blickte ihn fragend an. Doch dann machte sie eine kleine Kopfbewegung und zog ihre Hand verlegen von ihrem Nacken zurück.

    »Sie mögen sie nicht, wie mir scheint.«

    »Nein«, antwortete Bonisseur sachlich. »Es tut mir leid, wenn ich Sie damit beleidige.«

    Bessie Cox hob die Augenbrauen und setzte ein betont gleichgültiges Gesicht auf.

    »Aber ganz und gar nicht«, entgegnete sie kühl. »Das ist Ihr gutes Recht. Ich mag Männer, die wissen, was ihnen gefällt und was nicht.«

    »Ich glaube, mit Ihrer natürlichen Haarfarbe sehen Sie noch hübscher aus.«

    Sie lächelte ein wenig, um dann seufzend die Augen zur Decke aufzuschlagen.

    »Was würde eine Frau nicht alles tun, um zu gefallen?!«

    Ohne auf die Bemerkung einzugehen, gab ihr OSS 117 den Ordner zurück.

    »Was halten Sie davon, wenn wir jetzt den vorhin besprochenen Rundgang machten?«, fragte er freundlich.

    Sie stand auf.

    »Bitte, Sir!«

    »Nennen Sie mich Tony. Sie heißen Bessie, nicht wahr?«

    Sie kicherte verlegen. Schließlich antwortete sie: »Warum nicht? Schließlich heißen wir ja wirklich so - Sie und ich, nicht wahr?«

    Er hörte deutlich die leichte Ironie in ihrer Frage, aber er maß ihr keine allzu große Bedeutung bei.

    OSS 117 war allein im Büro des ermordeten Christopher W. Lemmon, das von nun an sein Arbeitszimmer sein würde. Der Raum war verhältnismäßig einfach eingerichtet, besaß aber eine Klimaanlage. An einer nicht zu übersehenden Stelle hing ein Ölporträt, das einen alten Herrn mit Bart und in feierlichem Gehrock darstellte. Ein kleines Schildchen auf dem wurmstichigen Rahmen nannte den Namen des bedeutsamen Herrn: Jack Robinson.

    Auf Bonisseur, der genau wusste, dass es diesen Jack Robinson nie gegeben hatte, wirkte dieses Bild erheiternd.

    Er war gerade dabei, systematisch alle Schubladen zu durchsuchen. Er hoffte, auf irgendeinen Anhaltspunkt zu stoßen, der die Hooghly-Laboratorien betraf. Bell teilte ihm telefonisch mit, dass ein gewisser Mr. Wadhwani ihn zu sehen wünsche.

    »Er möchte sich doch bitte einen Augenblick gedulden«, antwortete OSS 117 und legte den Hörer wieder auf.

    Wadhwani war einer von Lemmons

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1