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Denn ich hab' nur dieses eine...
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eBook463 Seiten6 Stunden

Denn ich hab' nur dieses eine...

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Über dieses E-Book

Jan Bergmann, der im Mittelpunkt dieses Romans steht, ist ein beruflich erfolgreicher Manager als Direktor einer Bankfiliale. Jan wuchs als Kind in einem prüden, sexual- und lustfeindlichen Milieu längst vergangener Generationen auf, in dem Nacktheit nicht nur anstößig, sondern strafbar ist, und Sex – allein dieses Wort zu benutzen war schon eine Todsünde. Gegen diese Erziehung rebelliert er bereits als Kind. Erwachsen geworden, geriet er durch Freunde in einen Kreis Menschen, die der freien Liebe und außergewöhnlicher Sex-Praktiken frönten, dann heiratet er Tina, gibt aber seine Rebellion gegen die Sexualfeindlichkeit nur zögernd auf und allmählich wandelt er sich zu einem treuen Ehemann.

Ihr gemeinsamer Sohn Theo beginnt eine heftige Affäre mit Rike, einer jungen Frau, die – kurz vor ihrer geplanten Hochzeit – nun zwischen zwei Männern steht und die sich endlich endscheiden muss. Ihre Entscheidung führt zu einem Chaos.

Ihr zweiter Sohn, Thorsten, wird nach einem grässlichen Erlebnis krank an Geist und Seele. In seiner Verwirrung versucht er, sich selbst zu „enthaupten“, was aber gründlich daneben geht.

Jan erlebt im bereits reifen Alter eine neue, heimliche Liebe voller Zartheit – bis ihn seine Vergangenheit einholt und ihn vor eine Entscheidung stellt, die ihm alles abverlangt, was ein Mensch geben kann.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum18. Apr. 2018
ISBN9783739635521
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    Buchvorschau

    Denn ich hab' nur dieses eine... - Franz Hermann Romberg

    1 Hexen-Änneken

    Schon seit zwei oder drei Wochen war das Wetter äußerst unbeständig und wechselhaft und es war viel zu kalt für diese Jahreszeit. Bis dahin konnte man sich über den Sommer nicht beklagen und auch die ganze Woche im Urlaub auf Föhr hatten sie noch richtig schönes und warmes Sommerwetter gehabt; es hatte nicht ein einziges Mal geregnet und am Strand mussten sie sich sogar noch regelmäßig mit Sonnenschutz eincremen. Jetzt aber war der Himmel fast ständig von dunkelgrauen Wolken bedeckt, die die Temperatur nur selten auf über zwanzig Grad ansteigen ließen. Oft verdichteten sich die Wolken und oft verdunkelte sich der Himmel von hellgrau zu beinahe schwarz und dann ließen sie kräftige Regenschauer niedergehen. Riss die dunkle Wolkenmasse mal kurz auf, dann zeigte die Sonne, welche Kraft sie jetzt im September noch hatte; und hin und wieder erzeugte sie einen phantastischen Regenbogen.

    Auch heute Morgen war es kalt, aber wenigstens regnete es nicht. Jan Bergmann, ein groß gewachsener schlanker Mann mittleren Alters mit hellblonden Haaren, parkte seinen silbergrauen Mercedes auf dem Standstreifen der Westerholter Straße in Gelsenkirchen-Buer und stieg aus. Sein flauschiger dunkelgrauer Jogging-Anzug, der schon bessere Tage gesehen hatte und ganz sicher längst nicht mehr der neuesten Mode entsprach, wärmte ihn ausreichend, als er jetzt durch den noch feucht-kalten Wald lief. In seiner Freizeit legte Jan keinerlei Wert auf seine Kleidung, da er beruflich stets solide und konservativ gekleidet sein musste. Sollte es in den nächsten Stunden einen Regenschauer geben, würde ihn lediglich seine helle Baseball-Kappe schützen, denn einen Regenschirm hatte er nicht bei sich, aber nach Regen sah es im Augenblick jedenfalls nicht aus, ganz im Gegenteil: Der Himmel war zwar noch grau an diesem frühen Morgen kurz vor sieben Uhr, weil die Sonne noch nicht aufgegangen war, und er war auch nicht wolkenlos, aber die wenigen Wolken waren weiß. Aus weißen Wolken regnet es nicht, wusste Jan. Im Osten ließ ein schwaches Morgenrot über den dunklen Baumwipfeln die zaghaft aufgehende Sonne ahnen und es war, als strahle sie golden von unten eine kleine weiße Wolke hoch über ihr an, so dass es schien, als leuchte diese selbst. Tief unterhalb der vereinzelten Wolken zeigte die Sonne zwischen den Wipfeln der Bäume durch ein geradezu magisches Licht an, wo sie um diese Zeit stand. Für heute verhieß sie nach langen grauen Tagen mal wieder einen Sommer-Samstag.

    Als Jan um 6.30 Uhr aufstand, zeigte ein schneller Blick auf das Außen-Thermometer nur knappe neun Grad Celsius an. Na gut, was konnte er um diese Zeit schon erwarten, so früh am Morgen? Aber es war doch September! Sommer, eigentlich. Okay, Spätsommer.

    Er hatte es sich schon vor ein paar Jahren angewöhnt, jeden Samstag und jeden Sonntag frühmorgens wenigstens etwas für seine Gesundheit zu tun, zumal er den Grundsatz hochhielt: „Sport ist Mord!" Um wenigstens etwas für seine Fitness zu tun, nutzte er die frühen Stunden an den Wochenenden, um Fahrrad zu fahren oder zu joggen; oft allerdings begnügte er sich mit flotten Wanderungen, die dann auch schon mal länger dauern durften. Er liebte diese Mischung aus körperlicher Herausforderung und geistiger Entspannung und wann immer es seine Zeit erlaubte, zog er los, um sich körperlich und geistig fit zu halten.

    Diese frühen Morgenstunden liebte er, denn da konnte er seine Gedanken fliegen lassen, nichts und niemand störte ihn; so früh am Tag gab es nur ihn, andere Spaziergänger oder Wanderer gab es kaum, da konnte er sich regenerieren, den beruflichen Frust abbauen, der sich nicht selten in der vergangenen Woche angesammelt hatte, und neue Kraft schöpfen. Oft zogen dann seine Gedanken zurück in die Vergangenheit, in seine Jugend oder gar in seine frühe Kindheit. Denn die Vergangenheit war ihm wichtig, auch wenn er in der Gegenwart lebte und sich auf die Zukunft freute. Ohne Vergangenheit gibt es keine Gegenwart und keine Zukunft.

    Jetzt ging er strammen Schrittes, denn marschieren genügt auch, dachte er oft, aber rennen muss ich nicht; die Hauptsache ist es doch, dass ich mich bewege. Plötzlich sah er schemenhaft ein Reh im frühmorgendlichen Dunst nur wenige Meter entfernt starr und völlig unbeweglich hinter dürrem Gebüsch auf einer kleinen Lichtung stehen. Es hielt den Kopf hoch und guckte aufmerksam und nervös in seine Richtung. Nahm es Witterung auf? Hatte es sie bereits entdeckt? Abrupt verhielt Jan seinen Schritt, fasste die Leine seines Hundes kurz und zischte leise:

    „Still, Rocky! Platz! Sitz!"

    Brav setzte sich Rocky, ließ seine Zunge hechelnd heraushängen und blickte sein Herrchen aus eisblauen Augen fragend und erwartungsvoll an, er wusste, er wird ein Leckerli bekommen, wenn er gehorcht, und das tat er meistens. Rocky war ein Husky mit grau-weiß geflecktem und gepflegtem Fell, und er war ein gut erzogener Hund. Er hatte das Reh noch nicht entdeckt, aber das Reh bemerkte sie, es hatte längst ihre Witterung aufgenommen, stand noch einen kleinen Moment zögernd still und unbewegt mit hoch erhobenem Kopf und weit geöffneten Augen, abwartend, als überlege es noch, was es tun solle, und lief dann in schnellen Sprüngen davon.

    Jan ging diesen Waldweg weiter, der stellenweise feucht und schlammig und voller Pfützen war, denn in der Nacht hat es kräftig geregnet. Er ging in östliche Richtung, der aufgehenden Sonne entgegen, und im Gehen schweiften seine Gedanken wieder ab, wohin sie wollten: Ihm kam plötzlich Tonja in den Sinn. Tonja, eigentlich Antonia, die Tochter einer Schwester seines Vaters. Mit seiner Cousine hatte er, als er und Tonja drei oder vier Jahre alt waren, entdeckt, dass ihre Körper unterschiedlich waren und sie hatten begonnen, diese Unterschiede zu untersuchen, diese unterschiedlichen Körperteile, die für sie tabu sein mussten, weil die Erwachsenen ihnen unter Strafandrohung streng verboten hatten, an ihnen zu spielen:

    „Pfui! Das ist pfui! Da geht man nicht dran! Das ist Sünde! Todsünde! Hände weg davon! Das bestraft der liebe Gott, wenn du daran herumspielst. Du kommst in die Hölle! In die Ewige Verdammnis! Und da kannst du dann ewig schmoren! Ewig! Hörst du? Da kommst du dann nie mehr heraus!"

    So wurde Jan schon von klein an in eine strenge katholische Lebensform hineingepresst, welche die absolute Verneinungsform aller Lebensfreude war, mit tausenden Geboten und Verboten, mit unzähligen leichten Sünden, den sogenannten lässlichen Sünden, und mit schweren Sünden, den Todsünden, mit zahllosen Verstößen gegen Gottesgebote und gegen Kirchengebote. Seine Eltern und Großeltern und seine Lehrer erzogen ihn mit religiösen Grundsätzen längst vergangener Generationen und brachten ihm ungemein demütigen Respekt bei vor Gott, vor Eltern und Großeltern und vor der staatlichen Obrigkeit, beinahe grenzenlose Demut gegenüber der ganzen Welt. Seine Erzieher haben nie erkannt, dass sie dadurch die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens schwer behinderten. Trotzdem lehnte Jan sich schon früh massiv gegen eine solche lust- und lebensfeindliche Erziehung auf – und bezog dafür so manches Mal heftige Prügel.

    Später in der Schule sagte gar ein Religionslehrer seinen Schülern einmal, beim Baden in der Badewanne zu Hause dürfe man sich zwar die Unterhose ausziehen und man müsse auch nicht mit einer Badehose ins Wasser steigen, aber „da unten" müsse man sich zügig und schnell waschen, da brauche man nicht allzu gründlich sein.

    Später nannte man das „da unten" den Schambereich! Was gibt es denn da zu schämen, dachte Jan jetzt auf seiner Wanderung, das sind doch auch Bereiche des menschlichen Körpers, und gar nicht mal so unwichtige, dessen braucht man sich doch nicht zu schämen! Ganz im Gegenteil!

    Oft hatte der kleine Jan Senge bekommen, weil er dieses strenge Verbot, da unter dran zu spielen, missachtet hatte – und trotzdem missachtete er es auch weiterhin, genau wie Tonja. Es kam mehrfach vor, dass beide gemeinsam versohlt wurden, dass sie Stockhiebe auf den nackten Hintern bekamen. Das Verbotene reizte ja gerade dazu, es zu übertreten und gleichzeitig aufpassen zu müssen, dass man dabei nicht erwischt wird; es war schon etwas abenteuerlich – und plötzlich machten diese verbotenen Spiele den beiden Kindern richtig Spaß und Vergnügen, und sie fanden immer irgendwo ein stilles Plätzchen, wo sie ungestört „fummeln" konnten, ohne Gefahr zu laufen, von den Alten erwischt zu werden. So rebellierten beide, Jan und Tonja, schon sehr früh gegen eine idiotisch puritanische Sexualmoral.

    Irgendwann hörten diese kindlichen Spiele wieder auf, so wie sie begonnen hatten, ungeplant, ungewollt, einfach so – aber sie begannen wieder, als beide etwas älter geworden waren. Aber waren es dann noch kindliche Spiele?

    Als Jan zwölf Jahre alt war, traf er eines Nachmittags im Sommer zufällig auf Tonja, die in der Hofeinfahrt ihres Elternhauses ihr grünes Fahrrad putzte. Tonja war ebenfalls zwölf Jahre alt. Sie sah ihn nicht kommen, denn er näherte sich ihr leise von hinten und legte für sie völlig überraschend seine Hände über ihre Augen und drückte ihren Kopf an sich. Dann begann er in einem leicht leiernden Tonfall leise zu singen:

    „Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?"

    Tonja, die dieses Kinderlied kannte und ihn an der Stimme erkannt hatte, überwand schnell ihre Überraschung und erwiderte im gleichen Singsang mit ihrer hellen kindlichen Stimme:

    „Nieee-mand!"

    „Wenn er aber ko-hommt?"

    „Dann soll er doch!", änderte sie den Liedtext ab, denn weglaufen wollte sie nicht.

    „Was soll er denn?"

    „Was will er denn?"

    „Er will…"

    und jetzt sagte Jan, ohne Melodie, aber bestimmt:

    „mit Tonja fummeln!"

    „Dann soll er doch, soll er doch, dann soll er, soll er, soll er doch!" jubilierte Tonja singend und Jans Tonfall nachahmend; dann sprang sie auf und schob schnell ihr nicht zu Ende geputztes grünes Fahrrad in den Schuppen und schloss diesen ab.

    „Komm schnell, sagte sie atemlos vom Singen oder vor freudiger Überraschung und ergriff rasch Jans Hand, „lass uns ins Gartenhäuschen gehen, da kommt jetzt keiner der Erwachsenen hin!

    Jan war erstaunt über die schnelle Bereitschaft Tonjas. Es war nach vielen Jahren das erste Mal, dass sie ihre kindlichen Doktorspiele wieder aufnahmen und es war genau so reizvoll wie früher und es machte ihnen auch genau so viel Spaß wie früher! Aber, waren es noch kindliche Sexspiele? So kleine Kinder waren sie doch längst nicht mehr, im Alter von zwölf Jahren! Bei Tonja begannen sogar schon Brüste zu wachsen, sie hatte bereits recht ansehnliche Brustwarzen, und sie hatte auch schon rabenschwarze und samtweiche Schamhaare, wie Jan jetzt schnell feststellen konnte.

    Jan musste schmunzeln, als er jetzt auf seiner Wanderung an diese Spielchen dachte; gleichzeitig war er froh und erleichtert darüber, dass es ihm schon vor langer Zeit gelungen war, sich von dieser wahnsinnigen Angst vor göttlicher Strafe zu befreien, die ihm ein fanatisch religiöses und sexualfeindliches Elternhaus eingebläut hatte und die ihn als Kind bis ins Mark erschüttert hatte. Ewige Verdammnis! Endlose Strafe! Wirklich eine Strafe ohne Ende! Es gab noch nicht einmal ein Ende der Strafe durch den Tod! Geht es noch grausamer? Nein, ganz sicher nicht!

    Aber er wusste auch heute noch ganz genau, dass diese seine Befreiung damals noch nicht wirklich gelungen und noch nicht wirklich abgeschlossen war. Eine gnadenlose Angst vor der Ewigen Verdammnis, den unendlichen Höllenqualen, blieb noch lange tief in ihm verborgen und verunsicherte ihn noch viele Jahre lang. Erst viel später, als er, der Zögling aus einer erzkatholischen Familie, gegen den Widerstand dieser Familie eine evangelische Frau geheiratet und dann erstaunt erkannt hatte, dass Protestanten ebenfalls fanatisch stur sein können, wenn auch nicht aus Angst vor Höllenqualen, verstand er, dass Toleranz gegen Andersdenkende und dass Liberalität keine Widersprüche zum Christlichen Glauben sein müssen und ihm wurde auch erst viel später bewusst, das Sexualität gottgewollt ist. Von da an glaubte er nicht mehr an einen strafenden Gott, ab jetzt glaubte er an einen liebenden Gott.

    Jetzt löste Jan die Leine von Rockys Halsband und ließ seinen Hund laufen – und Rocky rannte los, lief voraus, blieb zurück, kam wieder zu Jan und rannte wieder los, voll ausgelassener Freude und voller Vergnügen, und immer gab es irgendwo irgendwelche verlockenden Gerüche, die es für ihn zu erforschen galt. Der schmale Waldweg war auch hier matschig und schlammig, deshalb musste Jan schon aufpassen, dass er seine Schuhe nicht zu sehr verdreckt.

    Jetzt erreichten sie den kleinen See, der dunkel schimmernd in einer flachen Talsenke im Wald lag, und umrundeten ihn. Gemächlich schwamm eine kleine Schar Enten über das ruhige Wasser, über dem noch ein leichter Morgennebel lag, und auf einem Baumstumpf im flachen Wasser in Ufernähe saß ein Graureiher, völlig unbeweglich, als ob er schliefe. Am gegenüberliegenden Ufer schwammen zwei weiße Schwäne fast unbeweglich auf dem Wasser. Erste zaghafte Sonnenstrahlen durchbrachen nun das Laub des Waldes und den frühmorgendlichen Dunst über dem See und tauchten das idyllische Bild in ein diffuses Licht.

    Gemächlich, aber doch mit flotten und zügigen Schritten, gingen Herr und Hund zurück zum Auto. Jan öffnete die Heckklappe seines Kombis, es war ein ziviler Dienstwagen seines Arbeitsgebers, ein silbergrauer Edelkombi der Marke Mercedes-Benz, ein Auto der gehobenen Mittelklasse, und ließ Rocky hineinspringen. Dann fuhren sie heim.

    Gegen halb neun Uhr kamen sie wieder zu Hause an. Mit dem kleinen Handsender öffnete Jan das Tor, welches die Einfahrt zu seinem Hausgrundstück verschloss, und es fuhr leise surrend zur Seite. Jan war stolz auf das Haus, das Bettina und er besaßen. Sie hatten es vor einigen Jahren als eine Gebrauchtimmobilie aus einem Zwangsversteigerungsverfahren günstig erworben. Das Haus stand etwa fünfzig Meter von der ruhigen Landstraße entfernt, auf der kaum Verkehr herrschte, auf einem fast fünftausend Quadratmeter großen Grundstück inmitten von Feldern und Wiesen am Rande des Gelsenkirchener Stadtwaldes. Zur rechten Seite ihres Grundstückes begann der Wald mit großen und alten Laubbäumen, Buchen und Eichen, hinter dem Haus gab es den dichten dunklen Nadelwald und zur linken Seite lagen Wiesen und Weiden und der riesige Vorgarten hatte einen beinahe parkähnlichen Charakter mit Hecken und Büschen und Bäumen, hinter denen sich ein mehr als großzügiges Einfamilienhaus versteckte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ebenfalls ein großer, dunkler und dichter Wald.

    Die lange mit roten Ziegeln gepflasterte Zufahrt zum Haus war leicht S-förmig angelegt und mit kleinen Alleebäumen gesäumt. Die S-Form der Zufahrt verhinderte einen direkten Blick von der Straße auf das Haus, welches, umgangssprachlich gesagt, ein geradezu herrschaftliches Haus war. Das gesamte Grundstück war mit einem fast zwei Meter hohen und ziemlich kunstvoll geschmiedeten und weiß lackierten Zaun umgeben. Im hinteren Gartenteil hatte Jan ein Gartenhäuschen aufgestellt, das Platz bot für seine Gartengeräte und für seinen Aufsitzmäher, seinen Rasentraktor.

    Jan fuhr den Wagen in die Einfahrt, stieg aus, ließ auch Rocky herausspringen und brachte ihn zu seiner „Hundehütte". Hundehütte ist ja gar nicht der richtige Ausdruck, dachte er stolz. Jan mochte Hunde, er war ja mehr oder weniger mit Hunden aufgewachsen, aber:

    „Ein Hund kommt mir nicht ins Haus! sagte er manchmal, „denn wenn Hunde nass werden, dann stinken sie. Ein Hund ist ein Hund und bleibt ein Hund und wird kein Familienmitglied! Ein Hund muss wissen, wo sein Platz ist.

    Deshalb hatte er für Rocky einen beachtlichen Teil seiner Doppel-Garage im hinteren Bereich abgetrennt und eine kleine Öffnung durch die hintere Garagenwand zum Garten hin geschlagen. So hatte er für den Hund einen separaten Zugang zu seiner „Hütte" geschaffen. Von außen hatte er sogar einen kleinen Windfang vor dieser Öffnung angebracht. Da seine Garage auch ein kleines Fenster aus Glasbausteinen hatte, gab es für Rocky darin sogar abgeschwächtes Tageslicht. Selbstverständlich war Rockys Reich komplett vom Rest der Garage getrennt, so dass er nicht gestört wurde, wenn die Garage für ihren eigentlichen Zweck benutzt wurde. Rocky wusste, hier war sein eigener Bereich, hier hat außer ihm niemand sonst etwas zu suchen; und trotzdem war die Garage immer noch groß genug für zwei Autos.

    Im Garten hinter der Garage war in einer Höhe von mehr als zwei Metern ein starker Eisendraht straff zwischen der hinteren Garagenwand und einer großen Fichte gespannt und daran hing eine lange, dünne und leichte Kette an einer ausreichend großen Schlaufe. Diese Kette verband Jan nun an ihrem unteren Ende mittels eines Seils und eines Karabinerhakens mit dem Halsband seines Hundes. Durch diese „Erfindung hatte Rocky auch dann ausreichend Auslauf und genug Bewegungsfreiheit, wenn niemand Zeit hatte, sich mit ihm zu beschäftigen. Dann rannte Rocky an diesem Eisendraht entlang durch die ganze Länge und Breite des Gartens, falls er gerade nicht in oder vor seiner „Hütte lag und döste. Rocky war ein Wachhund und kein Schoßhund.

    Hier lebte Rocky Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter. Und wie freute er sich immer, wenn Jan oder Tina sich um ihn kümmerten oder wenn deren Söhne oder deren Tochter mit ihm spielten und tollten, was seiner unmaßgeblichen Meinung nach viel zu selten geschah.

    Rocky hatte ein gutes Hundeleben, doch fehlten ihm manchmal Artgenossen, auch wenn er bei den morgendlichen Spaziergängen an den Wochenenden mit Jan immer wieder vielen anderen Hunden mit ihren Herrchen oder Frauchen begegnete.

    Jans Frau Bettina wartete auf ihn, das Frühstück war schon fast fertig vorbereitet, sie saß mit einer Tasse Kaffee am Tisch und las die Zeitung.

    „Wo bist du heute gewesen?", fragte sie ihn, nachdem Jan sie mit einem flüchtigen Kuss begrüßt hatte.

    „In der Löchterheide, entgegnete Jan, „ich habe mir noch einmal die ‚Siebenschmerzenkapelle’ angesehen und später habe ich im Wald sogar ein scheues Reh gesehen, es muss uns aber wohl bemerkt haben, obwohl Rocky vorbildlich still saß, denn es lief schnell weg.

    „Siebenschmerzenkapelle?, wiederholte Tina erstaunt, „was ist das denn für ein seltsamer Name! Was bedeutet der? Und wo ist denn die Löchterheide? Davon habe ich ja noch nie etwas gehört!

    „Ach du! Wir wohnen doch fast in der Löchterheide! Die Löchterheide ist das Waldgebiet hier zwischen der Westerholter Straße, dem Ostring und der Ressestraße in Gelsenkirchen-Buer," antworte Jan, „wir wohnen ja an ihrem Rand, und Siebenschmerzenkapelle ist der gewöhnliche Ausdruck für die kleine Kapelle in der Löchterheide, du hast sie auch schon gesehen, als wir mal spazieren gegangen sind. Offiziell heißt sie eigentlich ,Kapelle zu den sieben Schmerzen Mariä‘.

    Diese Kapelle wurde im Jahre 1723 von der Westerholter Gräfin gestiftet, Henrieka von Aschebroick zu Schönebeck hieß die Dame. Weißt du, Tina, als Jesus Christus gekreuzigt wurde, war seine Mutter Maria dabei und hat die ganze Quälerei mit angesehen, so steht es jedenfalls in der Bibel, und sie empfand so grausame Schmerzen, als ob sieben Schwerter ihr Herz durchbohrten, so geht die Legende. Diese Westerholter Gräfin empfand ähnliche Schmerzen, als im Jahr 1707 ihr Ehemann starb. Sie muss ihn wohl sehr geliebt haben. Im Gedenken an ihn stiftete sie diese Kapelle, so etwas gab es damals, und später verpflichtete sie alle Westerholter Einwohner zur Teilnahme an der sogenannten Hagelsonntagsprozession, die jedes Jahr am zweiten Sonntag nach Fronleichnam stattfand – und die findet auch heute noch immer statt, jedes Jahr! Ob du es glaubst oder nicht! Sie verpflichtete die Westerholter Bürger! So etwas gab es damals, das Recht dazu hatte sie!

    Aber weißt du, Tina, das ist die Version, wie sie die alten Westerholter ‚Poahlbürger‘ erzählen und ..."

    „Stopp, stopp!, unterbrach Tina ihn, „nicht so schnell! Was ist denn ein Poahlbürger?

    „Ach so!, rief Jan grinsend, „du Großstadtmädchen kannst den Begriff ja gar nicht kennen und deine Vorfahren lebten ja auch nicht in Westfalen, sie sind ja erst hierher gezogen, als hier im Ruhrgebiet die Geschichte des Bergbaus begann. Also, hier in Westfalen ist ein Poahlbürger ein Alteingesessener, jemand, dessen Vorfahren schon seit Generationen hier heimisch sind. Heute gibt es diese Bezeichnung allerdings fast nur noch in Karnevalsvereinen.

    „Aha! Und was wolltest du mir noch von dieser Kapelle erzählen?"

    „Ja, weißt du, manchmal heißt es auch, diese Kapelle wurde errichtet nach Beendigung eines ziemlich blutigen Streits zwischen den beiden Gütern Westerholt und Schloss Berge in Buer. Es ging dabei wohl um Grenzstreitigkeiten und damals haben sich wahrscheinlich Buerer Bürger um Schloss Berge und Westerholter Bürger gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Vielleicht war es eine Art Dank an Gott, dass dieser unselige Streit beendet war. Alte Bueraner dagegen behaupten, die Kapelle spiegele das schlechte Gewissen der Westerholter wider wegen der Verbrennung des ‚Hexen-Ännekens‘."

    „Hexen-Änneken?, fragte Tina erstaunt, „du hast es aber heute drauf! Wer oder was ist das denn? Oder war das, sollte ich wohl besser fragen. Und wieso wurde Hexen-Änneken verbrannt?

    „Ja, Hexen-Änneken," antwortete Jan, „so nennt der Volksmund Anna Spiekermann, die 1706, also ein Jahr bevor der Westerholter Graf starb, in Westerholt auf dem Scheiterhaufen sterben musste. Das heißt, genau genommen starb sie nicht auf dem Scheiterhaufen, der Volksmund hat das im Laufe der Jahre daraus gemacht. Als Hexen-Änneken verbrannt wurde, war sie bereits tot. Anna Spiekermann wurde aber vor ihrer Verbrennung nicht freundlicherweise erwürgt, wie es zu Zeiten der Inquisition eigentlich üblich war, sobald ein Delinquent geständig war, meistens natürlich unter Folterqualen, sondern sie wurde enthauptet. Sie wurde geköpft, ihr Kopf wurde sauber vom Körper getrennt und anschließend wurde ihr Leichnam verbrannt. Auf diese Weise spürte sie die Flammen nicht mehr, das Feuer, denn es gab ja keine Verbindung mehr zwischen ihrem Gehirn und ihrem Körper und als ihr Kopf ins Feuer geworfen wurde, war ihr Leben längst erloschen.

    Auf jeden Fall wurde das Hexen-Änneken mit obrigkeitlichem Recht und vermutlich auch mit kirchlichem Segen gekillt. Weißt du, Tina, früher hatte die Kirche jede Menge gegen Sex, den sie regelrecht verteufelte, aber Menschen verbrennen, das war in Ordnung! Dafür gab es sogar kirchlichen Segen! Weißt du, Tina, das ist ja das Verrückte: Menschen zu verbrennen, um deren Seele für die Ewige Seligkeit zu retten! Für mich gilt als das wichtigste Gebot Gottes das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten! Aber die Kirche selbst war für unglaublich viele Tötungen von Menschen verantwortlich! Und diese Verbrennungen erfolgten sogar in aller Öffentlichkeit! Und meistens waren Frauen die Opfer! Es war beinahe so, als ob die katholische Kirche alle Frauen der Welt für alle Zeiten für die Erbsünde bestrafen wollte, dafür, dass Eva ihren Adam im Paradies dazu verführt hatte, in den Apfel zu beißen und damit ausdrücklich gegen Gottes Verbot zu verstoßen.

    Hexen-Änneken gilt als das letzte Opfer einer fast zweihundertjährigen Hexenverfolgung hier im Vest Recklinghausen. Schuld an diesen verdammten Hexenverfolgungen und Hexenjagden und Hexenverbrennungen hatte immer die Kirche! Sie sorgte stets dafür, dass das Todesurteil gesprochen wurde und übergab dann die ganze Angelegenheit der weltlichen Obrigkeit, die den traurigen Rest erledigte.

    Die Lebensgeschichte dieser Frau, der Anna Spiekermann, ist schon bitter, Tina. Anna wurde 1670 unehelich geboren, war also aus kirchlicher Sicht bereits ein Kind der Sünde und das blieb auch lebenslang an ihr haften. Damals unehelich geboren zu werden, das war an sich schon schlimm genug, selten wurde so ein Kind normal behandelt, doch für Anna kam es noch viel dicker! Ihre Mutter starb früh und wo sollte Anna dann als kleines Mädchen bleiben? Als kleines elternloses Mädchen, das auch noch unehelich geboren wurde! Ein Bastard! Deshalb kümmerten sich die Geschwister ihrer Mutter mehr oder weniger um sie.

    Nachdem Anna Spiekermann erwachsen geworden war, heiratete sie einen Berufssoldaten und bekam mit ihm eine Tochter. Wenigstens war dieses Kind nicht unehelich! Aber schon im Jahr 1700 starb ihr Ehemann, er kam in einem Kampf oder jedenfalls in einer kriegerischen Auseinandersetzung ums Leben. Anna blieb mit ihrer kleinen Tochter noch ein oder zwei Jahre auf dem kleinen Bauernhof ihrer Schwiegereltern wohnen, dann verließ sie diesen Hof und diesen Lebensbereich, der für sie irgendwie schon so eine Art Schutzraum geworden war, sie verließ ihn, weil sie spürte, dass sie nicht mehr willkommen war. Sie glaubte, ihn verlassen zu müssen.

    Ihre eigene Familie nahm das arme Luder nicht wieder auf und sie wusste zuerst nicht, wo sie mit ihrem Kind bleiben konnte. Dann zog sie zu ihrer Patentante nach Westerholt. In Westerholt arbeitete sie als Magd auf verschiedenen Bauernhöfen und sie wohnte mit ihrem Töchterchen bei ihrer Patentante. Dann starb ihre kleine Tochter überraschend. Anna war jetzt ganz allein, nur ihre Patentante duldete sie noch bei sich, wo sollte sie denn auch sonst bleiben? Änneken wurde geduldet, aber nicht geliebt.

    Anna Spiekermann war eine gutaussehende junge Frau, vielleicht war sie sogar eine hübsche junge Frau und manche sagen sogar, sie war eine Schönheit. Da sie keinen Ehemann mehr hatte, stellten ihr Junggesellen nach; sie war beinahe so etwas wie Freiwild für die jungen Männer. Besonders dreist war ein Junggeselle namens Johannes Krampe, sein Name ist bis heute urkundlich festgehalten. Als dieser zudringlich wurde, möglicherweise versuchte er sogar, Anna zu vergewaltigen, da hat sie ihm in die Eier getreten oder geschlagen, was weiß ich. In den Gerichtsakten steht, sie habe ihm ‚über die Buchsen gestrichen’. Das heißt wahrscheinlich, dass sich Anna erfolgreich wehren konnte.

    Aber dann ging das Drama erst richtig los! Krampe rächte sich, indem er behauptete, Anna hätte ihn behext und ihn durch ihre Hexerei seiner Manneskraft beraubt. Es gelang ihm, zwanzig Junggesellen der Freiheit Westerholt aufzuhetzen und aufzustacheln und diese unterstützten ihn dann in seiner Wut und seiner verletzten Eitelkeit wegen der Zurückweisung, und grölend und prügelnd trieben sie gemeinsam Anna durch das ganze Dorf. Vielleicht hatten sie vorher sogar gesoffen, was weiß ich. Viele Westerholter bekamen diese Treibjagd mit, aber niemand stand ihr bei, niemand half dieser alleinstehenden jungen Witwe, niemand half ihr, sie war tatsächlich ganz allein, sie war tatsächlich Freiwild, das arme Luder; und unter den brutalen Prügeln gestand Anna alles, was diese gewalttätigen Rohlinge hören wollten.

    Anna Spiekermann wurde wegen Hexerei und Zauberei angeklagt.

    Im Verlauf des Prozesses beteuerte sie immer wieder ihre Unschuld, immer wieder sagte sie, sie habe dieses Geständnis nur aus Angst gemacht und aufgrund der Schläge, die sie bekommen hat. Dennoch wurde sie auch während des Prozesses gefoltert und unter den Folterqualen gab sie alles zu, was das Gericht ihr vorwarf und was es hören wollte. Das Tollste war: Anna bezichtigte dann unter der Folter sogar ihre Patentante, die sie in ihrer Not aufgenommen hatte, dass sie ihr das Hexen beigebracht habe! Aber jeweils nach dem Ende der Folter widerrief sie stets laut und energisch, doch ihre Widerrufe nahm man ihr nicht ab, man glaubte dagegen die erpressten Geständnisse, denn die wollte man glauben.

    Der Westerholter Gräfin tat Anna Spiekermann unendlich leid. Während ihrer Kerkerhaft schlich sie sich nachts oft – gegen den Willen ihres Ehemannes, des Grafen – zu ihr in den Kerker, pflegte ihre durch die Folter hervorgerufenen Wunden und gab ihr zu essen und zu trinken.

    Anna Spiekermann, das ‚Hexen-Änneken‘, wurde am 31. Juli 1706, nach über fünfzehn Monaten Kerkerhaft, zum Tod durch das Schwert verurteilt und geköpft, und anschließend wurde ihr Körper öffentlich verbrannt."

    Jan verstummte. Tina blickte ihn, etwas bewegt von der Geschichte, an und sagte:

    „Solche grausigen Geschichten erzählst du mir am frühen Morgen noch vor dem Frühstück? Ich bin ja nur froh, dass ich heute lebe und nicht im siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert! Weiß du, was du mir da erzählt hast: Genau genommen musste das Änneken sterben, weil sie sich eines aufdringlichen Freiers erwehrt hat, oder?"

    „Oder sogar, weil sie sich erfolgreich gegen eine versuchte Vergewaltigung gewehrt hat, ergänzte Jan, „du hast schon recht, Tina, Frauen hatten es damals nicht leicht in Europa. Aber damals herrschte eine völlig verklemmte Sexualmoral und Schuld hatten sowieso immer die Frauen, wenn es um Sexualität ging!

    Unter dieser verklemmten Sexualmoral musste ich sogar noch jahrelang leiden, dachte er und er fuhr mit seiner Erzählung fort:

    „Man vermutet heute jedoch, dass Anna Spiekermann letztlich das Opfer einer politischen Intrige geworden ist, das Opfer eines heftigen Machtkampfes zwischen mächtigen Leuten in Recklinghausen und Westerholt. Denn als es schließlich bitter ernst wurde, wollte die Westerholter Bürgerschaft Annas Hinrichtung unbedingt und mit aller Macht verhindern, doch da war es bereits zu spät. Mächtige Leute aus Recklinghausen setzten sich brutal durch. Zum Hinrichtungstermin wurden sogar siebenhundert Soldaten geschickt, die die jetzt aufgebrachten Westerholter im Zaum halten sollten und die eine reibungslose Hinrichtung sicherstellen mussten. Das muss man sich mal vorstellen! Siebenhundert Soldaten, die die Hinrichtung einer jungen Frau sicherstellen sollten! Es war eine brutale Machtdemonstration damaliger Politiker.

    Anna Spiekermann bekam vom Volksmund den Spitznamen Hexen-Änneken, denn sie galt ja jetzt amtlich und gerichtsbestätigt als eine Hexe."

    „Komm, lass uns frühstücken, sagte Tina jetzt, den Vortrag über die letzte Hexen-Verbrennung im Vest Recklinghausens unterbrechend, „die Kinder schlafen noch, ich will sie heute mal richtig ausschlafen lassen.

    Damit machte Tina deutlich, dass ihre Erschütterung über eine Tat, die vor dreihundert Jahren verübt wurde, begrenzt war; auch sie kannte ja die Geschichte der Inquisition in Europa.

    Nach dem Frühstück ging Jan hinaus in den Garten, um den Rasen zu mähen und ein paar Stunden lang Gartenarbeiten zu erledigen. Er war einigermaßen stolz auf sein Haus mit dem großen parkähnlichen Garten und mit den gepflasterten und nachts beleuchteten Wegen unter den uralten Bäumen.

    Am Sonntagmorgen wurde er wach, als er bemerkte, dass Tina aufstand und ins Bad ging.

    „Was ist los?, fragte er schlaftrunken, „du stehst schon auf?

    „Nein, nein, sagte Tina, „dazu ist es doch noch viel zu früh, schau doch mal auf die Uhr, du Quatschkopf! Ich komm gleich noch mal ins Bett.

    Jan blickte auf den Radiowecker: Es war erst kurz vor fünf Uhr. Schläfrig gähnte er und reckte und streckte sich, dann drehte er sich auf die andere Seite.

    Tina kommt zurück aus dem Bad, nackt, wie Gott sie schuf, und kriecht zu Jan ins Bett. Sie kuschelt sich an ihn und schiebt eine Hand unter seine Schlafanzugjacke, knabbert ganz vorsichtig an seinem Ohr und beginnt sacht, seine Brust zu streicheln.

    „Guten Morgen, mein Schatz! Bist du noch sehr müde?"

    „Nee, grinst Jan plötzlich hellwach, „jetzt nicht mehr! Du hast mich da auf eine Idee gebracht. Und auch er zieht sich schnell seinen Schlafanzug aus und wendet sich ihr zu.

    „Nachher können wir bestimmt noch mal einschlafen und dann schlafen wir wahrscheinlich sogar noch viel besser!"

    Manchmal wunderte sich Jan darüber, dass seine Frau für ihn immer noch so begehrenswert war und dass seine Liebe zu ihr immer noch größer wurde. Das war, als er Bettina kennenlernte, ganz sicher nicht absehbar gewesen. Er hatte sie, als er zwanzig und sie siebzehn Jahre alt war, in einer Diskothek in Essen kennengelernt.

    Damals war er mit Marlies befreundet gewesen, ein achtzehnjähriges Mädel mit schwarzbraunen Haaren und mit grünen Augen, und er war mit Carla befreundet gewesen, die hellbraune Augen hatte, fast bernsteinfarbene, und ebenfalls dunkle Haare, beinahe schwarze. Beide Mädels waren schlank und gut gebaut. Eine kurze Zeit lang war Jan abwechselnd mit diesen drei Mädels unterwegs gewesen, mit Marlies, Carla und Bettina, und zu keiner hatte sich eine wirkliche Beziehung entwickelt, bis er urplötzlich erkannte, dass er Bettina nicht verlieren wollte. Wie konnte das geschehen?

    2 Freie Liebe

    Sie hatten sich im „Mississippi" kennengelernt, das damals eine Edeldiskothek in der Essener Innenstadt war, und obwohl sie sich mehrmals verabredeten, wurden sie lange Zeit kein Paar, aber es entwickelte sich schon bald eine Freundschaft, eine wirklich gute Freundschaft. Sie verstanden sich blendend und konnten manchmal stundenlang über alle möglichen und unmöglichen Themen miteinander reden. Beste Freunde eben. Ein sexuelles Interesse gab es zunächst für beide nicht. Ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass Tina Jan ursprünglich potthässlich fand und Jan fand anderweitig genug Gelegenheiten, seine sexuellen Gelüste auszuleben. Das kam so:

    Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit war Jan befreundet mit Manfred Fuhrmann. Dies war nicht nur eine alte Freundschaft, sondern auch eine sehr belastbare. In ihrer Jugend hatten beide so manches gemacht, über das sie heute als erwachsene Männer nicht mehr redeten. Durch Zufall hatte Manfred Fuhrmann Menschen kennen gelernt, die ganz spezielle sexuelle Phantasien hatten und die auch bereit waren, diese auszuleben. Eines Abends, als beide einen Zug durch die Gemeinde machten, fragte er Jan:

    „Weißt du eigentlich, Jan, was ein Gang Bang ist?"

    „Nee! Was soll das denn sein? Ein Banden-Dingsbums oder was?"

    „Banden-Dingsbums!", lachte Manfred vergnügt, „das ist gut! Aber ohne Dings! Der Begriff Gang Bang steht ursprünglich für eine Massenvergewaltigung, aber heute bezeichnet man damit eine ganz besondere Art von Sex, Sex zwischen sehr toleranten Menschen! Wenn ein Mann seiner Partnerin Gang Bang bieten will, dann will er ihr etwas ganz Besonderes bieten."

    „Gruppensex?"

    „Ja, Gruppensex, Jan, aber Gruppensex in einer ganz besonderen Art. Beim Gang Bang besteht absoluter Herrenüberschuss! Üblicherweise besteht die Gruppe nur aus einer Frau und mehreren Männern; es können zwei oder drei sein oder sogar bis zu zehn. Noch mehr Männer schafft eine Frau kaum. Manchmal sind auch zwei oder drei Frauen dabei, aber immer herrscht Herrenüberschuss.

    Regel Nummer eins dabei ist: Alles ist freiwillig! Zwang darf es nicht geben! Keinerlei Zwang!

    Regel Nummer zwei: Die Frau muss gerne mitmachen, sonst macht Gang Bang keinen Sinn. Sie darf sich nicht gezwungen fühlen, sondern sie soll es genießen, denn das ist das Ziel einer solchen Veranstaltung: Der Frau, die man liebt, das größtmögliche Vergnügen zu verschaffen!

    Regel Nummer drei: Die ganze Sache funktioniert nur, wenn die Frau sich hundertprozentig auf ihren Partner verlassen kann, denn der muss aufpassen und darauf achten, dass ihr während der ganzen Aktion nichts passiert, denn sie selbst wird kaum darauf achten können. Dann wählt ihr Partner die Männer aus, die in Frage kommen, denn er kennt ja den Geschmack und die Vorlieben seiner Partnerin am besten.

    Oft findet eine solche Party in einem Privathaus statt, manchmal in einem Hotel.

    Weißt du was, Jan? Bevor ich dir noch mehr erzähle, mach doch mal mit! Für nächsten Monat ist so eine Party in Dortmund geplant. Du glaubst nicht, wie erregend so etwas ist!"

    „Na ja, entgegnete Jan zögernd, „reizen würde mich das schon einmal!

    So kam es, dass Jan eines Tages an einer solchen Veranstaltung teilnahm. Er fand es tatsächlich sehr erregend – doch gleichzeitig auch abstoßend, denn dass eine Frau meistens passiv daliegt und sich von mehreren Männern nacheinander lieben lässt, wobei ihr Partner (oder ihr Lebensgefährte) praktisch Regie führt, das stieß ihn eher ab, doch in der Hitze des Gefechts machte er mit. Eine Wiederholung dieser Aktivitäten lehnte er dagegen ab. Sex dieser Art – das war nicht sein Ding! Das glaubte er. Davon war er überzeugt.

    Durch die Bekanntschaft mit diesen Leuten lernte er andere kennen, die ebenfalls außergewöhnliche Neigungen hatten: Es war ein mittlerer Kreis von Leuten, die sich in loser Folge zu Sado-Maso-Aktivitäten trafen. Als er das erste Mal an einem solchen Treffen teilnahm, staunte er nicht schlecht über die andern Teilnehmer. Er fand Frauen unter ihnen im jugendlichen Alter bis hin zu Frauen, die sicherlich die vierzig bereits weit hinter sich gelassen hatten, Frauen aus allen Gesellschaftsschichten, überwiegend sogar aus der sogenannten Besseren Gesellschaft. Ehefrauen, Mütter, die mehrere Kinder hatten, Lehrerinnen und Anwältinnen, eine Frau hatte sogar einen Doktortitel!

    Bei den teilnehmenden Männern sah es ähnlich aus, keiner kam aus den unteren gesellschaftlichen Schichten. Am erstaunlichsten fand Jan es, dass zwar alle ihre Teilnahme an diesen Partys vor der Öffentlichkeit verheimlichten, scheinbar aber niemand fürchtete aufzufallen. Ein Mann erzählte ihm, dass seine Ehefrau seine Neigungen kenne; sie teile diese nicht, aber sie toleriere, dass er sie von Zeit zu Zeit ausleben müsse.

    Am wenigsten konnte er verstehen, dass es

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