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15 Strandkrimis
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eBook2.556 Seiten31 Stunden

15 Strandkrimis

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Über dieses E-Book

2000 Seiten Krimispannung von Jerry-Cotton-Autor Martin Barkawitz!

 

Der Sammelband "15 Strandkrimis" enthält folgende Romane:

 

  • Eppendorf Mord
  • Satansmaske
  • Fleetenkiller
  • Sperrbezirk
  • Pik As Mord
  • Leichenkoje
  • Brechmann
  • Hafengesindel
  • Frauentöter
  • Killer Hotel
  • Grabeshaus
  • Mordkuhle
  • Brüssel Barbaren
  • Amok in Amsterdam
  • Raubhure

 

Der Autor

Martin Barkawitz schreibt seit 1997 unter verschiedenen Pseudonymen überwiegend in den Genres Krimi, Thriller, Romantik, Horror, Western und Steam Punk. Er gehört u.a. zum Jerry Cotton Team. Von ihm sind über dreihundert Heftromane, Taschenbücher und E-Books erschienen.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum29. Aug. 2023
ISBN9783755451372
15 Strandkrimis

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    Buchvorschau

    15 Strandkrimis - Martin Barkawitz

    Eppendorf Mord - 1

    Nina Cordes wachte auf. Die junge Frau spürte instinktiv, dass sie nicht mehr allein in ihrer Wohnung war. Oder litt sie an den Nachwirkungen eines Traums, aus dem sie soeben erwacht war? Hatte Nina sich noch nicht wieder in die Wirklichkeit gefunden? Ein Wunder wäre das nicht. Schließlich zeigten die rot leuchtenden Digitalziffern ihres Weckers 3.25 Uhr morgens an.

    Da – wieder ein Geräusch!

    Ninas Herz begann zu rasen. Der kalte Schweiß brach ihr aus. Die Töne drangen aus ihrem Wohnzimmer zu ihr ins Schlafzimmer herüber. Wer immer auch in ihre Wohnung eingedrungen war, verhielt sich sehr leise. Aber es ist eben für einen Menschen unmöglich, sich völlig lautlos zu bewegen. Jedenfalls in einer Wohnung mit spiegelglattem Parkettfußboden, wie die junge Frau sie bewohnte.

    Plötzlich fiel Nina siedend heiß ein, dass sie im Wohnzimmer das Fenster nicht geschlossen hatte! In diesem sehr warmen Sommer ließ sie auch nachts ein Wohnzimmerfenster in Kippstellung. Damit es morgens in dem Raum nicht so stickig war. Doch sie wohnte im zweiten Stock. Außerdem war unter den Wohnzimmerfenstern keine Straße, sondern nur das Wasser des Isebek-Kanals. Daher glaubte Nina, nachts das Fenster in Kippstellung lassen zu können. Ein verhängnisvoller Irrtum, wie sie nun einsehen musste.

    Der Eindringling machte noch einen Schritt. Er hatte vermutlich Gummisohlen unter seinen Schuhen, sonst wäre das Geräusch viel lauter gewesen. Nina hätte am liebsten laut um Hilfe geschrien. Ihre Nachbarin arbeitete schließlich bei der Polizei. Aber das war keine gute Idee, wie die junge Frau sofort erkannte. Das Haus war nämlich alt und hatte sehr dicke Wände. Heike Stein lag in der Wohnung nebenan vermutlich im Tiefschlaf. Oder sie war gar nicht da, weil sie einen Einsatz hatte.

    Doch Polizei war schon das richtige Stichwort. Nina beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie nachts ihr Telefon immer mit ins Schlafzimmer nahm. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Mobilteil und tippte die Notrufnummer 110 ein.

    Im nächsten Moment öffnete sich ihre Schlafzimmertür mit einem leichten Knarren. Gleichzeitig ertönte im Telefon das Freizeichen. Dann erklang eine männliche Stimme.

    »Polizei.«

    »Einbrecher in meiner Wohnung!«, schrie Nina. Nun war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Sie rief noch ihre Adresse mit Hausnummer in den Apparat.

    Dann packte der Mann in Schwarz das Telefon und pfefferte es gegen die Wand. Das Mobilteil zerbrach. Der Eindringling musste große Kräfte besitzen. Das bekam Nina Cordes nun zu spüren, als er seine behandschuhten Hände um ihre Kehle legte. Unerbittlich drückte er zu. Die junge Frau mit den kurzen blonden Haaren wehrte sich verzweifelt. Aber sie kam gegen die unbändige Stärke des Maskierten nicht an.

    Der Mörder ließ die Frau auf ihr Bett sinken, als kein Leben mehr in ihr war. Draußen gellte die Sirene eines Polizeifahrzeugs, das in Hamburg Peterwagen genannt wird. Der Verbrecher grinste zynisch. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und kletterte an der Fassade hinab. So wie er gekommen war.

    Als die Streifenwagenbesatzung schließlich die Wohnungstür von Nina Cordes aufbrach, war der Killer bereits in Sicherheit.

    2

    Kriminalhauptkommissarin Heike Stein hatte das Gefühl, ein Drillbohrer würde direkt durch ihre Stirn getrieben. Sie brauchte einige Sekunden, um aus dem Tiefschlaf zu erwachen. Dann erkannte sie, dass der Drillbohrer in Wahrheit ihre Türschelle war.

    Jemand klingelte bei ihr Sturm!

    Jetzt hämmerte dieser Jemand auch noch mit der Faust gegen die Tür, und zudem ertönte eine laute Männerstimme.

    »Hauptmeister Drewers hier! Sind Sie zu Hause, Frau Stein?«

    Heike knipste ihre Nachttischleuchte an und schwang ihre langen Beine aus dem Bett. Bei dieser Junihitze schlief sie nur mit einem Slip und einem dünnen Nighty bekleidet. Daher streifte sie erst einmal ihren bodenlangen Morgenrock aus rotem Samt über, bevor sie zur Wohnungstür ging.

    Obwohl die Kriminalistin so verschlafen war, hatte sie die Stimme sofort erkannt. Sonst hätte sie wohl auch kaum mitten in der Nacht einem Mann die Tür geöffnet. Hauptmeister Drewers war ein alter Hase bei der Schutzpolizei. Er arbeitete im Eppendorfer Polizeirevier. Heike wohnte nicht nur in diesem Stadtteil im Hamburger Norden, sie hatte auch schon oft genug dienstlich mit dem Hauptmeister zu tun gehabt.

    Heike öffnete die Wohnungstür. Drewers hatte noch einen jungen Streifenbeamten bei sich, der kein Wort herausbrachte. Der zweite Polizist war ziemlich käsig um die Nase herum und schien mit einem Brechreiz zu kämpfen. Drewers wandte sich an den jungen Mann.

    »Lars, geh’ doch schon mal runter und nimm’ die Kripo-Kollegen in Empfang. – Die Hauptkommissarin hier arbeitet zwar auch bei der Sonderkommission Mord, aber sie ist momentan gewiss nicht im Dienst. Wir müssen sie aber als Zeugin befragen.«

    Der junge Polizist namens Lars starrte Heike an, als würde er einen Geist sehen. Dann rückte er die Mütze auf seinem Kopf gerade und ging hinunter, wie der Hauptmeister es ihm aufgetragen hatte.

    »Armer Kerl«, brummte Drewers, als Lars außer Hörweite war. »Die erste Einsatznacht nach der Polizeischule – und schon gibt es eine Leiche zu sehen.«

    Heike verlor spätestens in diesem Moment alle Reste ihrer Schlafmüdigkeit. Natürlich entging ihr nicht, dass die Wohnungstür ihrer Nachbarin sperrangelweit offen stand.

    »Also ist jemand gleich nebenan getötet worden?!«

    Drewers nickte.

    »Du willst bestimmt einen Blick auf die Leiche werfen, Heike.«

    »Darauf kannst du wetten!«

    Unwillkürlich waren die Kriminalhauptkommissarin und ihr uniformierter Kollege zum vertrauten Du übergegangen, wie es bei der Hamburger Polizei üblich war. Heike siezte eigentlich nur ihren Vorgesetzten und andere Beamte, die in der Hierarchie über ihr standen.

    Heike folgte dem Polizeikollegen in die Wohnung von Nina Cordes. Diese war gemütlich eingerichtet, genau wie Heikes eigenes Zuhause. Die Wohnungen waren ohnehin gleich zugeschnitten. Beide besaßen Küche und Bad, einen kleinen Flur mit Abstellkammer, ein großes Wohnzimmer mit Balkon sowie ein Schlafzimmer. Ein absoluter Traum in einer Stadt wie Hamburg, die unter chronischer Wohnraumnot leidet.

    Aber Nina Cordes würde sich nie mehr an ihren idyllischen vier Wänden erfreuen können. Heikes Nachbarin lag tot quer über ihrem Bett. Ihre geöffneten Augen starrten zur stuckverzierten Zimmerdecke. Die Leiche war nicht nackt. Nina Cordes hatte vor ihrem Tod einen Seiden-Pyjama mit kurzen Hosen getragen. Sie war ganz offensichtlich von ihrem Mörder im Schlaf überrascht worden.

    »Sexualdelikt?«, fragte Heike mit rauer Stimme.

    Drewers schüttelte den Kopf.

    »Ich glaube nicht, jedenfalls nicht vollendet. – Kennst du die Tote, Heike?«

    »Ja, es ist meine Nachbarin Nina Cordes. Ich bin hundertprozentig sicher. – Was meinst du mit nicht vollendet, Paul? Wurde der Täter gestört?«

    »Gewissermaßen. Das Opfer hat es noch geschafft, vor der Tat die 110 anzurufen. Aber in der Alarmzentrale nannte sie nur ihre Adresse, nicht ihren Namen. Außerdem rief sie ins Telefon, dass Einbrecher in ihrer Wohnung seien. Natürlich sind wir sofort losgebraust. Aber da wir den Namen des Opfers nicht kannten, haben wir wertvolle Minuten verloren.«

    »Wie seid ihr überhaupt ins Haus hineingekommen? Oder war die Haustür unten mal wieder sperrangelweit auf?«

    »Nein, das nicht. Wir haben uns die Klingelschilder angesehen. An Frauennamen standen nur deiner und der von deiner Nachbarin neben den Klingelknöpfen. Wir haben einfach überall geschellt. Ein gewisser Herr Ulmer hat dann auf den Summer gedrückt.«

    »Ja, Matthias Ulmer. Der wohnt unter mir. Arbeitet als Computerprogrammierer und hängt oft nächtelang vor seiner Kiste. Glück für euch, dass er wohl wach war. – Aber leider kamt ihr trotzdem zu spät.«

    Drewers seufzte.

    »Ja, Heike. Der Mörder muss fünf bis acht Minuten Zeit für den Mord gehabt haben. Als wir endlich die Tür aufgebrochen hatten, war der Vogel schon ausgeflogen. Er ist ganz offensichtlich durch das Wohnzimmerfenster getürmt. Jedenfalls war die Wohnungstür von innen abgeschlossen.«

    »Dazu kommen wir später«, sagte Heike. Sie war gedanklich bereits mit der Aufklärung des Falls beschäftigt, obwohl sie bisher ja nur die Zeugin spielen durfte.

    »Woher wusstet ihr denn, dass der Hilferuf von Nina kam? Ich hätte doch genauso gut dem Kerl zum Opfer fallen können.«

    »Wir haben es nicht gewusst, sondern vermutet«, gab der uniformierte Polizist zurück. »Ich dachte mir, dass eine Polizeibeamtin sich bei einem Hilferuf zumindest mit Namen und Dienstgrad melden würde.«

    »Da könntest du Recht haben«, murmelte Heike geistesabwesend. Sie konnte ihren Blick nicht von der Toten abwenden. Ob der Mord wohl lautlos über die Bühne gegangen war? Oder ob Nina verzweifelt um Hilfe gerufen hatte, während sie, Heike, nur wenige Meter entfernt von der Tat an der Matratze gehorcht hatte?

    Drewers hielt ihr seine Zigarettenschachtel hin. Heike schüttelte den Kopf. Sie rauchte nicht. Aber sie konnte verstehen, wenn ein Raucher in diesem Moment Lust auf einen Glimmstängel bekam.

    Heike fühlte sich jedenfalls hundsmiserabel. Jeder Mord war in ihren Augen ein Mord zu viel. Aber diese Tat ging ihr besonders an die Nieren. Und zwar deshalb, weil sie zu verhindern gewesen wäre. Wenn Heike nicht so fest geschlafen hätte …

    »Mein Schlafzimmer ist direkt nebenan«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich habe selig gepennt, während Nina erwürgt wurde – sie wurde doch erwürgt, oder?«

    »Die Würgemale an ihrem Hals sind jedenfalls nicht zu übersehen«, meinte der Streifenbeamte. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und nahm einen tiefen Lungenzug. »Alles Weitere werden die Schlaumeier von der Gerichtsmedizin schon rauskriegen. – Aber Heike, mach’ dich bloß nicht selbst verrückt. Falls du glaubst, du hättest eine Mitverantwortung – vergiss’ es!«

    »Ich bin Kung-Fu-Kämpferin«, murmelte die Hauptkommissarin. »Ich brauche noch nicht mal eine Waffe, um meinen Gegner innerhalb von dreißig Sekunden auszuschalten.«

    »Wie war das?«, hakte Drewers nach, der ihre Bemerkung akustisch nicht verstanden hatte.

    »Ach, nichts. Ich habe nur laut gedacht. Wahrscheinlich hast du Recht, Paul. Aber es ist trotzdem … alles so seltsam diesmal.«

    Heike konnte sich nicht erinnern, jemals als Zeugin bei einer Morduntersuchung gewesen zu sein. Als Ermittler erschien zunächst ihr Kollege Kriminaloberkommissar Bernd Engel auf der Bildfläche, der in dieser Nacht Tatortdienst hatte. Er staunte nicht schlecht, als er die Hauptkommissarin erblickte.

    »Heike! Was machst du denn hier?«

    »Ich wohne hier, Bernd. Also, in der Wohnung direkt neben dem Mordopfer.«

    »Das ist ja ein Ding.« Der Mann von der Sonderkommission Mord zückte sein Notizbuch. »Ich wusste bisher nur, dass du in Eppendorf wohnst. Aber nun ausgerechnet in diesem Haus … wann hast du denn das Opfer zuletzt lebend gesehen?«

    »Hm, das ist schon einige Tage her. Nina ist … war ja berufstätig, genau wie ich. Sie arbeitete bei einer Bank. Wir haben uns höchstens mal morgens oder abends kurz im Treppenhaus getroffen und gegrüßt. Einen näheren Kontakt hatte ich nicht zu ihr. Jede von uns lebte ihr eigenes Leben.«

    Heike fühlte sich etwas merkwürdig in der Zeugenrolle. Aber momentan führte nun einmal ihr Kollege Bernd Engel die Untersuchung.

    »Dann weißt du auch nicht, ob Frau Cordes vielleicht bedroht wurde?«

    »Nein, sie hat nichts dergleichen jemals gesagt. Immerhin wusste sie, dass ich bei der Polizei arbeite. Also würde sie sich mir wohl anvertraut haben.«

    Wieso eigentlich?, hakte Heike in Gedanken nach. Sie wusste so wenig über ihre ermordete Nachbarin. Wie konnte sie da sagen, wie Nina Cordes bei einer Bedrohung reagiert hätte? Heike ärgerte sich über sich selbst.

    Der Kriminaloberkommissar machte sich einige Notizen. Dann sagte er: »Ich habe eine Großfahndung nach dem flüchtigen Mörder veranlasst. Allerdings haben wir überhaupt keine Täterbeschreibung. Wir können nur schlussfolgern, dass der Verbrecher irgendwie sportlich gekleidet sein muss. Sonst hätte er es nicht geschafft, in den zweiten Stock hochzuklettern und durch das Fenster einzusteigen.«

    Bernd Engel deutete auf das geöffnete Fenster, das selbstverständlich bisher niemand geschlossen hatte. Möglicherweise gab es Spuren, die man nicht verwischen durfte.

    »Sie hatte das Fenster wohl in Kippstellung«, dachte Heike laut nach. »Dann war es natürlich kein Problem für den Einbrecher, durch den Spalt zu greifen und sich Einlass zu verschaffen. Er benötigte noch nicht einmal Werkzeug. Ich habe mein Schlafzimmerfenster übrigens bei dieser Hitze auch immer gekippt.«

    »Das solltest du besser geschlossen halten, Heike.«

    »Bei dieser Hitze? Ich habe auf der Polizeischule gelernt, dass Einbrecher normalerweise höchstens bis zum ersten Stockwerk durch Fenster in Wohnungen eindringen. Aber dieser Fall ist wohl nicht normal. Allein schon, weil ich diesmal Zeugin bin. Und keine brauchbare Aussage machen kann!«

    Ihr Kollege grinste.

    »Es ist ja nicht deine Schuld, dass du so wenig Kontakt zu deiner Nachbarin hattest. – Ah, jetzt wird es allmählich voll hier!«

    Der letzte Satz des Oberkommissars bezog sich auf die Männer, die nun eintraten. Es war Paul Sommer mit seinem Spurensicherungsteam von der Technischen Abteilung. Außerdem Dr. Lehmann, der Dienst habende Gerichtsmediziner. Er warf Heike einen überraschten Blick zu.

    »Guten Morgen, Frau Stein. Das ist aber ein originelles Kleid, was sie da anhaben.«

    »Das ist kein Kleid, sondern ein Morgenrock«, gab Heike zurück. »Ich wohne nämlich direkt nebenan und hatte noch keine Gelegenheit, mich anzuziehen.«

    »Aha, ich verstehe.« Der Gerichtsmediziner schnitt ein Gesicht, als ob er sich soeben Heike im Nachthemd vorstellen würde. Dr. Lehmann war bekannt dafür, eine Vorliebe für gut aussehende junge Frauen zu haben. Aber dann wandte er sich sogleich der Toten zu. Er öffnete seine Arzttasche.

    »Ich spendiere eine Runde frischgekochten Kaffee«, kündigte Heike an. Ihr Vorschlag stieß allerseits auf Begeisterung.

    Die Kriminalistin kehrte in ihre eigene Wohnung zurück und schloss die Tür hinter sich. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume, während sie schnell in frische Unterwäsche, eine orangefarbene Caprihose und ein weißes T-Shirt schlüpfte. Heike füllte ihre Kaffeemaschine bis zum Anschlag mit Wasser und Kaffeepulver. Es kam selten genug vor, dass die alleinlebende Heike solche Mengen von der heißen aromatischen Flüssigkeit brauen wollte.

    Heike hielt sich innerlich noch einmal die Tatsachen vor Augen. Ihre Nachbarin war ermordet worden, während sie selbst im Tiefschlaf gelegen hatte. Der Täter war durch ein Fenster in die Wohnung gekommen und auf demselben Weg auch wieder getürmt. Er hatte keine Zeit gehabt, sich an seinem Opfer sexuell zu vergehen. Oder eine solche Tat war von vornherein nicht geplant gewesen.

    Lag vielleicht ein Raubmord vor? Das würden die Kollegen von der Spurensicherung schon herausfinden. Als der Kaffee fertig war, lud Heike die Kanne nebst Zucker und Milch sowie jede Menge Tassen auf ein Tablett. Sie ging damit zum Tatort hinüber. Einen Moment lang dachte sie, ob es nicht pietätlos wäre, direkt neben der Leiche ein fröhliches Kaffeetrinken zu veranstalten.

    Aber ihre Kollegen machten dort nur ihren Job. Und den nahmen sie verflixt ernst. Heike hatte schließlich selbst bei der Sonderkommission Mord ständig mit dem Tod zu tun. Man musste sich als Polizistin einfach so viel Normalität bewahren wie möglich. Sonst konnte man diesen Beruf vergessen.

    Heike wusste, wie ein Polizistenleben aussah. Sie selbst war zwar noch jung, aber sie hatte von Kindesbeinen an miterlebt, wie ihr Vater von seinem Beruf vereinnahmt wurde. Sönke Stein war bis zu seiner Pensionierung Revierleiter der legendären Davidwache auf St. Pauli gewesen. Nun lebten Heikes Papa und Mama als Pensionäre auf Mallorca, wo sie sich von den Ersparnissen eine Eigentumswohnung gekauft hatten.

    Heike betrat die Nachbarwohnung. An der geöffneten Tür stand der junge Streifenbeamte namens Lars herum. Seine Gesichtsfarbe erinnerte immer noch an einen Kuchenteig.

    »Du scheinst mir auch einen Kaffee vertragen zu können«, sagte Heike und streckte ihm lächelnd das Tablett entgegen.

    »Danke.« Der Polizeikollege goss sich mit zitternden Händen eine Tasse halb voll und trank gierig von der belebenden Flüssigkeit. »Ich komme mir so dumm vor, weil mir schlecht geworden ist. Gewöhnt man sich mit der Zeit daran?«

    Heike schüttelte den Kopf.

    »Ich bin nun schon ein paar Jahre bei der Sonderkommission Mord. Aber ich werde mich nie daran gewöhnen, dass Menschen einfach so getötet werden, aus was für Gründen auch immer. Ich will es auch nicht.«

    Die anderen Beamten nahmen den Kaffee ebenfalls begeistert entgegen. Dr. Lehmann hatte die erste grobe Untersuchung des Leichnams beendet. Er telefonierte gerade per Handy nach einem Metallsarg, um die Tote in die Pathologie schaffen zu lassen.

    Heike hätte ihn gerne nach den Ergebnissen befragt. Aber sie musste sich auf die Zunge beißen. Schließlich führte Bernd Engel die Untersuchung. Und die Kriminalistin hätte es auch nicht gerne gesehen, wenn ihr selbst ein Kollege ins Handwerk pfuschen würde.

    Aber der Gerichtsmediziner wandte sich nun gleichermaßen an den Oberkommissar und an Heike. Dagegen konnte sie natürlich nichts machen.

    »Also, Frau Stein und Herr Engel. Ich kann Ihnen den Todeszeitpunkt ziemlich genau sagen. Die Leiche war ja noch warm, als ich hier eintraf. Exitus zwischen 3.35 und 3.40 Uhr. Todesursache ist eindeutig Sauerstoffmangel im Gehirn, verursacht durch Erwürgen. – Hier, sehen Sie selbst.«

    Dr. Lehmann deutete mit seiner Hand, die von einem Untersuchungshandschuh bedeckt war, auf Nina Cordes’ Hals. Selbst für einen Laien waren die Würgemale deutlich zu bemerken, wie Heike fand.

    »Es hat auch einen Kampf gegeben«, fuhr der Gerichtsmediziner fort. »Ich hoffe, unter den Fingernägeln der Toten Hautpartikel des Mörders zu finden. Dann wird es kein Problem sein, einem Verdächtigen mit Hilfe des DNA-Tests die Schuld eindeutig nachzuweisen.«

    »Da müssten wir zunächst einen Beschuldigten zur Verfügung haben«, seufzte Bernd Engel. »Aber wir ermitteln ja auch erst seit noch nicht mal einer Stunde.«

    »Wenn unsere Kollegen bei der Großfahndung Verdächtige festnehmen, könnten wir DNA-Tests durchführen lassen«, schlug Heike vor, bevor sie sich selbst stoppen konnte. Nun hatte sie sich doch eingemischt!

    Aber der Oberkommissar nahm es ihr nicht krumm.

    »Nicht schlecht, allerdings geht das ja nur auf freiwilliger Basis.«

    »Ein Geschlechtsverkehr hat jedenfalls in den vergangenen zwölf Stunden nicht stattgefunden, auch kein erzwungener.«

    Mit diesen Worten schaltete sich der Gerichtsmediziner wieder in das Gespräch ein. »Insofern kann ich Ihnen nicht mit Spermaspuren dienen.«

    »Also ganz eindeutig kein Sexualdelikt«, vergewisserte sich Bernd Engel.

    Dr. Lehmann wiegte den Kopf.

    »Wir wissen natürlich nicht, was im Gehirn des Täters vor sich gegangen ist. Aber ich persönlich habe den Eindruck, dass er sofort und zielstrebig das Opfer erwürgt hat. Sehen Sie sich den Pyjama an. Die Kleidung ist nicht eingerissen oder gar zerfetzt. Der Mörder hat gar nicht erst versucht, sich an der Frau zu vergehen.«

    »Vielleicht nur deshalb nicht, weil er ihren Anruf bei der Polizei mitbekommen hat«, sagte Bernd Engel. »Er konnte sich denken, dass innerhalb von wenigen Minuten eine Peterwagen-Besatzung anrücken würde.«

    »Diese Schlussfolgerungen sind Ihr Bier«, meinte Dr. Lehmann und trank noch einen Schluck Kaffee. »Ich werde jedenfalls so bald wie möglich die Obduktion vornehmen. Dann kann ich Ihnen auch mit Sicherheit sagen, ob verwertbare Hinweise auf den Täter vorliegen.«

    Wie Heike nebenbei erfuhr, war für das Spurensicherungsteam der Tatort nicht gerade ergiebig.

    »Wir können davon ausgehen, dass der Täter durch ein offenes oder halb geöffnetes Fenster in die Wohnung geklettert ist«, sagte Paul Sommer von der Technischen Abteilung zu Heike und ihrem Kollegen. Sommer lehnte sich aus dem offenen Fenster und leuchtete mit seiner Taschenlampe die Fassade ab.

    Zwei Stockwerke unter ihm gluckste das Wasser des Isebek-Kanals.

    »Hier sind Kratzer im Verputz zu erkennen, etwas Farbe ist auch abgeblättert«, berichtete der Spurensicherer. »Das lässt allerdings keine Rückschlüsse auf Alter oder Aussehen des Mörders zu. Abgesehen davon, dass er wohl nicht allzu gebrechlich sein kann. Und auch nicht allzu schwer.«

    »Sag’ das nicht«, warf Heike ein. »Es gab mal in Frankreich einen fassadenkletternden Hoteldieb, der über hundert Kilo auf die Waage gebracht hat. Stand in einer kriminalistischen Fachzeitschrift.«

    »Wahrscheinlich auf der Witzseite«, bemerkte Bernd Engel trocken. »Das Gewicht von dem Mistkerl ist mir eigentlich egal. Ich gehe davon aus, dass wir es mit einem Sexverbrecher zu tun haben. Er wollte deine Nachbarin vergewaltigen, Heike. Und als er nicht zum Zuge kam, weil sie schon in unserer Alarmzentrale angerufen hatte, da sind bei ihm die Sicherungen durchgebrannt. Er hat sie aus Frustration und Wut erwürgt.«

    Da war Heike völlig anderer Meinung. Aber sie hielt ihren Schnabel. Die Kriminalistin fand, dass sie sich schon genug in die Untersuchung eingemischt hatte. Aber Heike konnte nun einmal nicht aus ihrer Haut. Wenn unmittelbar vor ihrer Nase ein Verbrechen begangen wurde, dann wollte sie natürlich den Täter erwischen und vor Gericht stellen!

    »Gibt es überhaupt einen Hinweis darauf, dass der Mörder ein Mann war?«

    Diese Bemerkung konnte sich Heike nun allerdings doch nicht verkneifen. Paul Sommer zuckte mit den Schultern.

    »Aus meiner Sicht nicht. Selbstverständlich können auch Frauen an einer Hausfassade hochklettern, wenn sie gut trainiert sind.«

    »Für mich ist das die Tat eines Sexgangsters«, beharrte Bernd Engel. »Ich wette, dass die Tote auch nicht bestohlen wurde. Ein normaler Einbrecher sucht nach Bargeld und Kreditkarten. Aber dieser Kerl war auf etwas anderes aus.«

    Heike riss sich beinahe gewaltsam vom Tatort los. Da sie in wenigen Stunden im Präsidium erscheinen musste, sollte sie besser nicht in Nina Cordes’ Wohnung herumstehen und mehr oder weniger schlaue Kommentare von sich geben.

    Ich bin diesmal schließlich nur Zeugin, verflixt noch mal!, führte die Kriminalistin sich erneut vor Augen. Sie sammelte die inzwischen leeren Kaffeetassen ein und verabschiedete sich von den Anwesenden.

    An Schlaf war jetzt natürlich nicht mehr zu denken. Dazu war Heike viel zu aufgedreht. Sie stellte sich unter die Dusche und ließ abwechselnd heißes und kaltes Wasser über ihren Körper laufen.

    Wie oft hatte Heike ihre Nachbarin in den vergangenen Jahren gesehen? Hundert Mal? Oder öfter? Aber die beiden jungen Frauen hatten jeweils immer nur ein paar Worte miteinander gewechselt. Jede von ihnen lebte eben ihr eigenes Leben.

    Und nun war Nina plötzlich tot.

    Heike fühlte, wie sie von einer völlig unprofessionellen Wut auf den Täter erfasst wurde. Das sollte einer Polizistin zwar nicht passieren, aber sie war eben auch nur ein Mensch. Außer von ihrem Zorn wurde sie von einem starken Schuldgefühl geplagt. Zwar hatte bereits ihr Kollege versucht, Heike eine Mitverantwortung an dem Verbrechen auszureden. Aber die Hauptkommissarin kam trotzdem nicht darüber hinweg, dass unmittelbar neben ihrem Schlafzimmer eine junge Frau brutal ermordet worden war.

    Die Sonne ging auf und tauchte den Isebek-Kanal sowie die eiserne Hochbahntrasse am Eppendorfer Baum in rötlich-goldenes Licht. Das sah sehr schön aus. Aber an diesem Morgen fehlte Heike der Sinn für Naturschauspiele. Sie zog einen Hosenanzug aus leichtem Baumwollstoff an, dazu eine grüne ärmellose Bluse. Es würde wieder ein heißer Tag werden, wie das Küchenradio soeben verkündet hatte.

    Doch selbst die glühendsten Sommertage waren in der Hansestadt immer noch recht erträglich. Hamburg war eine Stadt am Wasser, besaß mehr Brücken als Venedig. Durch das viele Wasser von Elbe, Alster und Bille sowie der zahlreichen Fleete erschien die Hitze immer noch viel erträglicher als in einer Stadt im Binnenland.

    Heike zwang sich, etwas zu essen. Eigentlich war ihr der Appetit gründlich vergangen. Aber sie wusste genau: Wenn sie auf nüchternen Magen ins Präsidium fuhr, würde ihr der bohrende Hunger schon in wenigen Stunden jede Konzentration rauben.

    Heike fuhr mit ihrem Mountainbike zur Arbeit. Ein eigenes Auto besaß sie nicht, denn im Dienst konnte sie ohnehin auf ein ziviles Einsatzfahrzeug mit Polizeifunkgerät zurückgreifen. Und in ihrer knappen Freizeit wollte sich die Kriminalistin nicht auch noch hinter das Lenkrad klemmen.

    Zu dieser Morgenstunde war es noch angenehm kühl. Ein leichter Wind wehte von der Elbe her. Möwen kreischten, schienen dabei in der Luft zu verharren. Heike konnte die Tiere nicht ansehen, ohne sofort wieder an den Mörder denken zu müssen. Frei wie ein Vogel, so war dieser Kerl wohl leider ebenfalls. Es gab keine brauchbare Beschreibung von ihm. Er konnte problemlos im Dunkel der Millionenstadt untertauchen, nachdem er seine feige Tat begangen hatte.

    Und das wurmte Heike ungemein.

    Als die Kriminalistin wenig später die Räume der Sonderkommission Mord im Polizeipräsidium betrat, musste sie aber doch lächeln. Heike freute sich einfach, dass Ben Wilken bereits an seinem Platz saß.

    Ben blickte von seiner Akte auf, als Heike an ihren Schreibtisch trat. Die Büromöbel der beiden Ermittler standen einander gegenüber.

    »Guten Morgen, Heike. Ehrlich gesagt siehst du heute aus wie ein Grottenolm.«

    Heike lächelte, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte. Aber sie nahm ihrem Kollegen seinen Spruch nicht krumm. Höchstwahrscheinlich hatte er damit nämlich Recht.

    »Ich bin auch nicht besonders gut drauf, Ben. Du rätst nie, was heute Nacht bei uns im Haus passiert ist.«

    Die Hauptkommissarin schilderte mit ein paar knappen Sätzen, was seit dem Sturmläuten an ihrer Wohnungstür geschehen war. Ben stieß langsam die Luft aus den Lungen.

    »Das ist ja wirklich hart, Heike. Hoffentlich kommt bei der Großfahndung etwas heraus.«

    Heike nickte.

    »Wir werden wohl gleich mehr darüber erfahren.«

    Damit meinte sie die Morgenbesprechung, die wenige Minuten später im Konferenzraum der Abteilung begann. Die Ermittler versammelten sich an dem langen Tisch. Gerade noch pünktlich kam Dr. Clemens Magnussen hereingeschossen. Als Leiter der 7. Mordbereitschaft nahm er am Kopfende des Tisches Platz und blickte in die Runde. Wie fast immer hatte er seine Tabakspfeife in den Mundwinkel geklemmt. Nun fand sich auch Bernd Engel ein, für den mit der Morgenbesprechung sein Nachtdienst zu Ende ging. Dr. Magnussens Blick wanderte von Bernd Engel zu Heike und wieder zurück.

    »Guten Morgen, meine Damen und Herren. Da gibt es ja wohl einen etwas ungewöhnlichen Fall, von dem Herr Engel mir soeben berichtet hat. Frau Stein tritt diesmal als Zeugin auf, wie ich höre.«

    Bernd Engel gab für alle Anwesenden noch einmal eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse in Heikes Wohnhaus an der Isestraße.

    »Gibt es schon Ergebnisse von der Großfahndung?«, fragte Oberkommissarin Melanie Russ.

    »Drei Festnahmen«, bestätigte der Kriminaloberrat nickend. »Dunkel gekleidete Kerle, die sich verdächtig benahmen und keine Personalpapiere bei sich trugen. Ich hoffe nur, dass wir den DNA-Test bald machen können und sich die Festgenommenen freiwillig zur Teilnahme bereit erklären.«

    Heike nickte. Sie persönlich glaubte nicht, dass der Mörder unter diesen drei Verdächtigen war. Aber sie hielt sich lieber zurück. Denn wenn sie eine entsprechende Bemerkung machte, kannte sie die Reaktion ihres Vorgesetzten schon jetzt: ›Glauben können Sie in der Kirche, Frau Stein. Bei einer kriminalistischen Untersuchung zählen nur die Fakten.‹

    Erschrocken fragte Heike sich selbst, ob sie vielleicht laut gesprochen hatte. Denn Dr. Magnussen bedachte sie nun mit einem seltsamen Blick. Er sagte:

    »Am besten übernehmen Sie den Fall, Frau Stein. Es ist zwar etwas ungewöhnlich, da Sie gleichzeitig auch Zeugin sind. Aber es verstößt nicht gegen die Vorschriften. Herr Engel war ja heute Nacht nur vor Ort, weil er Tatortdienst hatte. Ich brauche ihn ansonsten dringend für eine Beschattung im Colonnaden-Fall. Da hat er sich schon sehr stark eingearbeitet.«

    Heike nickte abermals.

    »Ja, ich übernehme den Fall gerne, Herr Kriminaloberrat.«

    »Gut. Sie haben es ja auch nicht so weit zum Tatort, Frau Stein!«

    Dr. Magnussen lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hätte. Aber gleich darauf wurde er wieder ernst.

    »Ich gehe davon aus, dass wir es hier mit einem geplanten Sittlichkeitsdelikt zu tun haben. Am besten schließen Sie sich mit den Kollegen von der Abteilung für Sexualstraftaten kurz.«

    Davon war Heike zwar nicht so überzeugt, aber ausschließen konnte man es wirklich nicht. Außerdem musste sie sich noch die drei Kerle vorknöpfen, die während der Großfahndung den uniformierten Kollegen ins Netz gegangen waren.

    Es wartete also viel Arbeit auf die junge Hauptkommissarin. Aber das nahm sie gerne in Kauf, wenn am Ende die Verhaftung von Nina Cordes’ Mörder erfolgte.

    3

    Die drei verdächtigen Männer waren an unterschiedlichen Orten im Hamburger Stadtgebiet aufgegriffen worden. Einer in Farmsen, ein anderer in Wandsbek, der dritte in Billstedt. Zwei von den Dunkelgekleideten hatten die Beamten wieder auf freien Fuß gesetzt, da sie einen festen Wohnsitz nachweisen konnten. Nur der dritte Mann saß noch in einer Arrestzelle.

    Heike fuhr zu dem Polizeirevier in Wandsbek. Sie benötigte allerdings keine zehn Minuten, um diesen Gefangenen von ihrer Verdächtigenliste zu streichen. Er war obdachlos, stark heruntergekommen und körperlich ziemlich geschwächt. Man musste topfit sein, um an einer Hausfassade hochklettern zu können.

    »Wissen Sie, warum man Sie festgenommen hat?«, fragte Heike, nachdem sie sich mit Namen und Dienstgrad vorgestellt hatte. Außerdem belehrte sie den Beschuldigten über seine Rechte.

    »Äh, die anderen Bull… äh … Beamten haben was von Mord gefaselt. Aber ich hab’ keinen umgelegt«, nuschelte der Kerl.

    »Wären Sie bereit, sich einem DNA-Test zu unterziehen?«, erkundigte sich die Hauptkommissarin.

    »Tut das weh?«

    »Nein. Der DNA-Test ist auch als genetischer Fingerabdruck bekannt. Blut, Sperma, Haare und Hautpartikel eines jeden Menschen sind unverwechselbar. Falls Sie einverstanden sind, entnehme ich bei Ihnen eine Speichelprobe. Dann können wir Ihren Gen-Code mit dem des Mörders vergleichen. Wenn Sie die Tat nicht begangen haben, müssen Sie nichts befürchten.«

    »Na, wenn das so ist …«

    Der Dunkelgekleidete riss seinen Rachen auf. Der Mundgeruch war betäubend. Heike ging mit einem langen Holzspachtel zu Werke. Sie verstaute die Probe sorgfältig in einem dafür vorgesehenen Gefäß.

    »Da Sie keinen festen Wohnsitz haben, müssen wir Sie einstweilen noch in Untersuchungshaft halten«, sagte Heike zum Abschied. »Aber ich gehe davon aus, dass noch vor dem Haftprüfungstermin die Analyse Ihrer DNA-Werte vorliegt. Falls Sie unschuldig sind, können Sie dann natürlich sofort gehen.«

    Die Kriminalistin war nicht sicher, ob der dunkelgekleidete Mann sie richtig verstanden hatte. Der arme Teufel war doch ziemlich jenseits von Gut und Böse.

    »Ist der Gefangene eigentlich ärztlich untersucht worden?«, erkundigte Heike sich bei den Dienst habenden Polizeikollegen.

    »Selbstverständlich«, lautete die Antwort. »Schlechter Allgemeinzustand, so lautete die Diagnose des Amtsarztes. Aber es geht ihm nicht so dreckig, dass Haftverschonung zu rechtfertigen wäre.«

    Heike ging ohnehin davon aus, dass der Obdachlose nicht der Mörder ihrer Nachbarin war. Und sie behielt Recht. Im gerichtsmedizinischen Institut hatte Dr. Lehmann Hautpartikel des Täters unter den Fingernägeln des Opfers festgestellt. Sie stimmten nicht mit den Werten des dunkelgekleideten Untersuchungsgefangenen überein. Auch die beiden anderen Männer, die von der Polizei nachts aufgegriffen worden waren, ließen den DNA-Test freiwillig über sich ergehen. Sie wussten offenbar genau, dass sie nichts zu verbergen hatten.

    Auch von diesen beiden Beschuldigten wies keiner den passenden genetischen Fingerabdruck auf. Im Handumdrehen stand Heike wieder ohne einen Verdächtigen da. Aber dieser Frust gehörte nun einmal zur täglichen Polizeiarbeit.

    Es wurde von Stunde zu Stunde heißer. Heike war in einem zivilen Dienst-Golf durch die ganze Stadt gekurvt, um die DNA-Proben zu nehmen, die Verdächtigen zu befragen und das Analysematerial zur Gerichtsmedizin zu bringen. Die Hitze hatte ihr den Appetit geraubt. Heike kehrte ins Präsidium zurück und löffelte nur schnell einen Jogurt in der Kantine.

    Danach ging sie ins Dezernat für Sexualverbrechen hinüber. Sie wurde bereits von Hauptkommissarin Heidrun Weger erwartet. Die beiden Kriminalistinnen hatten schon im Lauf des Vormittags miteinander telefoniert. Daher war Heidrun Weger über die Morduntersuchung im Bilde. Sie bot Heike ihren Besucherstuhl an und tippte etwas auf der Tastatur ihres Computers. Heidrun war eine zierliche Brünette, die ihr langes Haar zu einem dicken Zopf geflochten trug. Das gab ihr ein junges, mädchenhaftes Aussehen. Aber Heike wusste, dass ihre Kollegin über genauso viel Diensterfahrung verfügte wie sie selbst. Außerdem war die Arbeit im Dezernat für Sexualverbrechen gewiss ebenso hart wie bei der Mordbereitschaft. Dadurch gewann man zweifellos in kurzer Zeit viel Lebenserfahrung.

    Heidrun ergriff das Wort.

    »Du vermutest also, dass der Mörder im Isestraßen-Fall einer unserer ›Kunden‹ sein könnte, Heike?«

    »Es ist zumindest eine von mehreren Möglichkeiten«, schränkte die blonde Kriminalistin ein. »Obwohl ja, wie ich dir schon erzählt habe, gar kein Sexualdelikt stattgefunden hat. Laut Gerichtsmedizin hat der Täter sein Opfer sehr zielstrebig erwürgt.«

    »Auf jeden Fall kann ich dir einige Sexualstraftäter nennen, die in der Vergangenheit gewalttätig waren und die sich zurzeit auf freiem Fuß befinden.«

    »Werden denn nicht alle Sittlichkeitsverbrecher gewalttätig?«, hakte Heike nach. Ihre Kollegin schüttelte den Kopf.

    »Exhibitionisten, Schamverletzer also, haben meist ihr Ziel erreicht, wenn du einen Blick auf ihr Lieblingsspielzeug geworfen hast. Die wollen ihr Opfer gar nicht anfassen oder so. Das ist natürlich nur eine allgemeine Regel, von der es auch Ausnahmen geben kann. – Ich denke, bei deiner Morduntersuchung sollten wir uns ausschließlich auf Vergewaltiger konzentrieren. Zumal es einen Täter gibt, bei dem dieser Isestraßen-Mord durchaus ins Schema passen würde.«

    »Wieso?«, fragte Heike. Sie spürte, wie ihr Jagdfieber erwachte.

    »Weil seit einigen Wochen ein brutaler Serienvergewaltiger sein Unwesen treibt«, erklärte Heidrun mit harter Stimme. »Uns liegen bisher vier Anzeigen vor. Aus Eimsbüttel, Eppendorf, Hoheluft, dem Generalsviertel – also im Grunde ein sehr kleiner Aktionsradius. Nicht nur das spricht für denselben Täter, in allen vier Fällen. Der Mistkerl war stets dunkel gekleidet und maskiert. Er ist in die Wohnungen der Frauen eingedrungen und hat sich brutal an ihnen vergangen. Die Taten fanden übrigens immer nachts statt. Bisher gab es allerdings kein Todesopfer.«

    Heike atmete tief durch.

    »Jedenfalls hat dieser Täter offenbar keine Hemmungen, was Gewalttätigkeit angeht. Außerdem ist er immer noch auf freiem Fuß, wenn ich dich richtig verstanden habe.«

    »Leider.« Die Hauptkommissarin aus dem Dezernat für Sexualverbrechen seufzte. »Er hat durch das Wetter leichtes Spiel, Heike. Du glaubst nicht, wie viele Menschen in diesen Tagen bei offenem Fenster schlafen.«

    Ich zum Beispiel, dachte Heike. Sie nahm sich vor, ab sofort ihre Fenster geschlossen zu halten. Die Sicherheit, im zweiten Stockwerk zu wohnen, hatte sich doch als trügerisch erwiesen. Wenn

    Heike biss die Zähne zusammen.

    »Hat dieser … Notzüchtiger irgendwo verwertbare Spuren hinterlassen? Ich denke da an unsere DNA-Analyse. Sperma, Blut oder …«

    Heidrun schüttelte den Kopf.

    »Negativ, Heike. Eines seiner Opfer hat nach der Tat zunächst eine Stunde lang geduscht, bevor es uns alarmiert hat. Eine andere Frau konnte sich erst eine Woche nach dem Verbrechen dazu durchringen, eine Anzeige zu erstatten. Wir haben also nichts in Händen, was für einen DNA-Test ausreichen würde.«

    Heike nickte. Die Vergewaltigungsopfer hatten das Falscheste getan, was nur möglich war. Aber konnte sie es ihnen übelnehmen? Natürlich nicht. Es war zu viel von den Frauen verlangt, in einer solchen Lage an polizeiliche Spurensicherung und Beweisführung zu denken.

    »Bei dem Mord an Nina Cordes hat der Täter noch nicht einmal versucht, ihr den Pyjama vom Leib zu reißen«, betonte Heike. »Allerdings hatte sie bereits den Notruf 110 angerufen. Und das muss er wohl auch mitbekommen haben.«

    »Dann hat der Vergewaltiger sie wahrscheinlich aus Wut und Frustration erwürgt«, schlug Heidrun vor. »Weil er eben nicht mehr zum Zuge kommen konnte.«

    Heike machte eine zustimmende Handbewegung. Sicher, das war natürlich ein einleuchtendes Motiv. Jetzt mussten sie den Mörder nur noch hinter Schloss und Riegel bringen.

    Heike und Heidrun versprachen einander, ihre jeweiligen Ermittlungsergebnisse abzustimmen. So wusste die eine immer genau, was die andere bereits herausgefunden hatte.

    Die blonde Kriminalistin kehrte nicht an ihren Arbeitsplatz zurück, sondern fuhr gleich noch einmal zum Tatort. Sie hätte sich gerne mit Ben ausgetauscht. Aber der dunkelhaarige Hauptkommissar arbeitete zurzeit an einem anderen Fall. Und Dr. Magnussen hatte auch nichts davon gesagt, dass Heike mit Bens Unterstützung rechnen konnte. Schließlich war gerade Urlaubszeit. Auch die Mordbereitschaft arbeitete nur mit unvollständiger Besetzung.

    Heike betrat das Treppenhaus des Gebäudes an der Isestraße. Das Haus war noch vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erbaut worden, wie sie wusste. Solche alten Gebäude machten es einem Fassadenkletterer besonders leicht. Es gab zahlreiche Erker und Simse und Vorsprünge. Bei einem modernen Wohngebäude mit glatt verputzten Wänden hingegen bekam auch der geschickteste Einbrecher Probleme.

    Trotzdem liebte Heike ihre Wohnung und hätte nicht woanders leben mögen. Allerdings ließ es sie natürlich nicht kalt, dass direkt nebenan ein Mord begangen worden war.

    Heike stieg hoch in den zweiten Stock. Bernd Engel hatte ihr die Schlüssel der Toten übergeben. Der Oberkommissar hatte es auch übernommen, die Eltern des Opfers zu benachrichtigen, bevor er seinen Dienst beendete. Dafür war Heike ihm besonders dankbar. Diese Aufgabe gehörte ihrer Meinung nach zu den unangenehmsten Arbeiten, die eine Kripo-Beamtin ausführen musste.

    In Ninas Wohnung war es angenehm kühl. Allerdings roch es muffig, weil alle Fenster geschlossen waren. Heike schwitzte trotzdem. Es herrschte einfach eine tolle Hitze. Die Hauptkommissarin ermahnte sich innerlich, die Wohnung nach ihrem Weggang wieder offiziell zu versiegeln.

    Das Zuhause des Mordopfers war modern, aber gemütlich eingerichtet. Die meisten Möbel stammten offenbar von einem großen schwedischen Einrichtungshaus. Heike kannte diesen typischen Designstil. Sie hatte sich Einweg-Handschuhe aus Kunststoff übergezogen. Das tat die Kriminalistin stets an Tatorten, um nicht versehentlich Spuren zu vernichten.

    Die Spezialisten von der Spurensicherung waren ja schon kurz nach der Bluttat vor Ort gewesen. Aber die Kollegen von der Technischen Abteilung suchten natürlich hauptsächlich nach Hinweisen auf den Täter selbst: Fingerabdrücke, Fußspuren, Haare, Speichel. Heike hingegen streifte nun durch die Nachbarswohnung, weil sie sich einen Hinweis oder Aufhänger für ein mögliches Motiv erhoffte. Wenn Nina Cordes ihren Mörder nämlich gekannt hatte, dann stand sie vor ihrem Tod in irgendeiner Beziehung zu ihm.

    Auf dem Schreibtisch ihrer Nachbarin fand Heike ein Adressbuch. Sie blätterte darin. Nina Cordes hatte anscheinend einen großen Bekanntenkreis gehabt. Das Verzeichnis umfasste mehr als sechzig Namen, von Frauen wie von Männern. Unter dem Buchstaben E war allerdings ein Name mit Kugelschreiber dick durchgestrichen. Heike hielt sich das Büchlein näher vor die Augen. Aber es war unmöglich, noch etwas zu erkennen. Jedenfalls für sie.

    Die Hauptkommissarin steckte das Adressverzeichnis in eine Plastiktüte für Beweisstücke. Die Technische Abteilung würde herausfinden, welcher Name und welche Telefonnummer dort zuvor gestanden hatten. Da war Heike sich sicher.

    Sie war plötzlich sehr gespannt darauf, wen Nina Cordes vor ihrem Tod mit so viel Sorgfalt aus ihrem Adressbuch – und damit aus ihrem Leben – getilgt hatte.

    In der Küche der Ermordeten hing ein Pinnbrett aus Kork. Dort hatte Heikes Nachbarin die typischen Notizen befestigt, die man an solchen Merktafeln findet: Sperrmülltermine, die Speisekarte eines Pizza-Bringdienstes, ein Hinweis auf die Wochenmärkte am Eppendorfer Baum. Nichts Besonderes also, abgesehen von einer Visitenkarte. Heike löste die Stecknadel und schaute sich das Kärtchen näher an.

    ANDREA KERN – Zukunftsdeutung.

    Diese Worte waren gedruckt, direkt darunter eine Mobilfunknummer und eine Adresse an der Wexstraße. Aber auf der Visitenkarte stand auch noch eine handschriftliche Notiz:

    »Die Herzdame beschert dir großen Reichtum.«

    Heike zog die Stirn kraus. Was sollte dieser Unsinn bedeuten? Aber dann fiel ihr wieder ein, dass die Herzdame eine Spielkarte aus dem französischen Blatt war. Deutete diese Andrea Kern die Zukunft aus Spielkarten? Das wäre der Kriminalistin normalerweise ziemlich egal gewesen. Aber der Hinweis auf den Reichtum … Heike hatte schon oft genug in ihrem Beruf erleben müssen, wie Menschen durch Geld oder durch die Aussicht auf Geld in dunkle Machenschaften verstrickt wurden. Traf das auch auf ihre Nachbarin zu?

    Jedenfalls beschloss Heike auf der Stelle, sich diese Kartenlegerin einmal vorzuknöpfen.

    Die Kriminalistin schaute sich noch weiter in der Wohnung um, fand aber zunächst keine augenfälligen Hinweise mehr. Als Heike aus dem Haus trat, wurde sie von brüllender Junihitze empfangen. Ihrer Ansicht nach passte das momentane Wetter eher zu afrikanischen Gefilden. Eine nördliche Metropole wie Hamburg war schlecht auf solche Temperaturen eingestellt. Aber zum Glück wehte dann und wann eine frische Brise, wenn die Temperatur vollends unerträglich zu werden drohte.

    Heike flitzte zurück ins Präsidium und gab das Adressbuch in der Technischen Abteilung ab. Sie bat darum, den unleserlich gemachten Namen nebst Telefonnummer herauszufinden. Dann fuhr die Kriminalistin zu der Bank, bei der die Ermordete vor ihrem Tod gearbeitet hatte. Die Filiale befand sich am Wandsbeker Markt. Heike wusste, dass Bernd Engel die Bank bereits von Nina Cordes’ Tod verständigt hatte.

    »Wir sind alle ganz bestürzt, Frau Kommissarin«, sagte der Filialleiter zu Heike, nachdem diese ihm ihren fälschungssicheren Kripo-Ausweis gezeigt hatte. »Frau Cordes war eine so sympathische Mitarbeiterin, beliebt im Kollegenkreis und bei den Kunden.«

    »Ich bin damit beauftragt, den Mörder von Frau Cordes zu ermitteln«, erklärte Heike. »Daher interessiert mich, ob sie vielleicht einmal bedroht wurde. Fühlte sie sich eventuell verfolgt?«

    Der Filialleiter zögerte für Heikes Geschmack einen Moment zu lange mit seiner Antwort.

    »Äh, nein. Mir ist nichts dergleichen bekannt.«

    »Warum lügen Sie?«, fragte Heike scharf. Sie saß dem Banker in seinem Büro gegenüber. Ihre Frage war ein Schuss ins Blaue gewesen. Aber die Kriminalistin hatte in ihrem Berufsleben einen sechsten Sinn für die Unwahrheit entwickelt. Auf diesen konnte sie sich meistens verlassen.

    Der Filialleiter riss die Augen auf. Er knetete seine Hände, spielte mit seinem Ehering. Vermutlich überlegte er, ob er den Empörten spielen sollte. Aber dann gab er doch klein bei.

    »Es tut mir leid, Frau Kommissarin«, sagte der Zeuge. »Ich hätte wissen müssen, dass man die Kripo nicht so leicht hinter das Licht führen kann. Aber ich wollte nicht indiskret sein.«

    »Diskretion ist bei einer Morduntersuchung fehl am Platz«, sagte Heike trocken. »Also, was wissen Sie?«

    Es gab noch eine Pause, weil der Banker offenbar nach den richtigen Worten suchte. Aber dann öffnete er wieder den Mund.

    »Vor zwei oder drei Wochen gab es einen … Vorfall. Hier in der Bank, am helllichten Tag. Ein junger Mann kam hereingestürmt. Er ging sofort auf Frau Cordes los und machte ihr eine fürchterliche Szene.«

    »Was genau tat er?«, hakte Heike nach. Sie schrieb fleißig mit.

    »Er schüttelte unsere junge Kollegin und brüllte, sie würde zu ihm gehören. Und wenn sie das nicht einsehen würde, geschähe bald ein Unglück. Dieser Mensch benahm sich unmöglich, Frau Kommissarin. Ich griff schließlich ein und forderte ihn auf, unsere Bank auf der Stelle zu verlassen. Nun, ich bin kein Held, ehrlich gesagt. Und dieses Subjekt machte einen sehr gewalttätigen Eindruck auf mich. Einen Moment lang sah es wirklich so aus, als wollte er sich auf mich stürzen. Ich drohte mit der Polizei. Dann verschwand er und stieß widerwärtige Flüche aus.«

    »Können Sie den Mann beschreiben? Kennen Sie seinen Namen?«

    »Dieser Kerl ist dunkelhaarig, drahtig und circa 1,70 m groß. Und er heißt Wolfgang Evers. Das weiß ich, weil Frau Cordes es mir selbst gesagt hat. Dieser Auftritt war ihr schrecklich peinlich, was ich sehr gut verstehen kann. Dieser Wolfgang Evers ist wohl ihr Ex-Freund. Er konnte es nicht verwinden, dass sie sich von ihm getrennt hat. Das war jedenfalls die Erklärung, die Frau Cordes für sein Erscheinen hatte.«

    Heike rückte im Geist den Ex-Freund ihrer Nachbarin ganz nach oben auf ihrer Verdächtigenliste. Aber natürlich musste sie auch andere Möglichkeiten berücksichtigen.

    »Womit genau war Nina Cordes bei Ihnen beschäftigt?«, wollte die Kriminalistin von dem Filialleiter wissen.

    »Frau Cordes arbeitete in der Kreditabteilung. Dabei hatte sie vor allem die Bonität, also die Kreditwürdigkeit, von Privat- und Geschäftskunden zu prüfen.«

    »Wäre es denkbar, dass sich Ihre Mitarbeiterin durch diese Tätigkeit einen Feind gemacht hat?«

    Der Banker hob die Augenbrauen.

    »Natürlich sind Kreditnehmer nicht gerade begeistert, wenn wir ihnen ein Darlehen verweigern müssen. Aber dass jemand deswegen Frau Cordes tötet … wenn überhaupt, dann hätte dieser Kunde mich ermorden müssen. Denn ich entscheide letztlich über die Kreditvergabe. Frau Cordes und ihre Kollegen leisten dabei allerdings die Vorarbeit.«

    Heike nahm sich trotzdem vor, diese Spur weiterzuverfolgen. Es war ja auch möglich, dass Nina Cordes in dunkle Geschäfte verwickelt gewesen war. Aber diese Überlegungen wollte die Hauptkommissarin dem Banker nicht auf die Nase binden. Stattdessen bat sie darum, noch mit den Kollegen der Toten sprechen zu dürfen.

    Der Nachmittag verging mit zähflüssigen Befragungen. Lag es an der immer noch zunehmenden Hitze, dass es nicht voranging? Jedenfalls kam es Heike so vor, als ob sie auf der Stelle treten würde.

    Die Banker schienen sich abgesprochen zu haben. Jeder von ihnen sagte mehr oder weniger das Gleiche über die ermordete Kollegin. Nina sei tüchtig, freundlich und allseits beliebt gewesen. Allerdings schien keiner der Zeugen näheren Kontakt zu ihr gehabt zu haben. Immerhin gab es offenbar eine Mitarbeiterin, die auch privat enger mit Nina Cordes befreundet war, eine gewisse Anja Keppler. Ausgerechnet diese Kollegin hatte aber zurzeit noch Urlaub.

    »Anja ist nach Portugal geflogen«, erklärte eine andere Bankerin. »Sie kommt aber morgen zurück.«

    Heike nickte. Sie notierte sich den Namen der Freundin. Gleich am nächsten Tag wollte sie sich Anja Keppler zur Brust nehmen. Es war keine Zeit zu verlieren. Doch einstweilen konnte die Hauptkommissarin nichts weiter erreichen. Sie machte relativ pünktlich Feierabend, damit Dr. Magnussen nicht wieder wegen ihres Überstundenkontos meckerte.

    Aber es fiel der blonden Hamburgerin schwer, sich von dem Fall zu lösen. Das war auch kein Wunder. Denn sobald sie ihre Wohnung betreten wollte, erblickte sie das polizeiliche Siegel an der nachbarlichen Wohnungstür. Sie hatte es schließlich selbst dort angebracht.

    Heike fühlte sich ruhelos. Sie aß nur einen Jogurt im Stehen. Dann verließ sie ihre Wohnung wieder, um zum Kung-Fu-Training zu fahren.

    »Heike, meine Tochter. Deine Gedanken sind wie die Bewohner eines Ameisenhaufens.«

    Mit diesen Worten wurde die Kriminalistin von Meister Li empfangen, ihrem Kung-Fu-Lehrer. Sie musste innerlich schmunzeln. Der chinesische Kampfsportler erkannte meist nur mit einem Blick oder wenigen Worten, was mit ihr los war.

    An diesem Abend wurde Heike von Meister Li jedenfalls dazu verdonnert, einem neuen Schüler die Schläge und Tritte seines Kung-Fu-Stils vorzuführen. Es waren insgesamt 108. Diese Zahl galt im Buddhismus als heilig, wie Heike wusste. Und sie strengte sich sehr an, um nichts durcheinander zu bringen. Jedenfalls ließ der Trainer sie die Bewegungen immer und immer erneut wiederholen. Plötzlich merkte Heike, dass sie völlig entspannt war. Li hatte es geschafft, durch das Trainingsprogramm ihre Nervosität zu beseitigen.

    Sie empfand große Dankbarkeit für ihren Meister, als sie später zu Hause in ihrem Bett lag. Nach dem anstrengenden Training und dem Schlafmangel der vorherigen Nacht schlummerte Heike schnell ein. Am nächsten Morgen fühlte sie sich allerdings keineswegs erholt. Die Luft in ihrem Schlafzimmer war stickig und verbraucht. Sie hatte bei geschlossenem Fenster geschlafen, was bei der momentanen Hitzewelle für eine Backofen-Atmosphäre in ihrer Wohnung sorgte.

    Undamenhaft fluchend stellte sich Heike unter die Dusche. Sie würde eine andere Lösung finden müssen. Das kalte Wasser auf ihrer Haut war herrlich erfrischend. Als sie sich gerade abgebraust hatte, klingelte das Telefon.

    Heike griff sich ein Handtuch. Sie hoffte inständig, dass der Anruf wenigstens wichtig war. Die Hauptkommissarin hob den Hörer ab.

    »Stein!«

    »Hier spricht Heidrun Weger«, meldete sich die Polizeikollegin vom Dezernat für Sexualverbrechen. »Es ist noch sehr früh, aber …«

    »Kein Problem, ich wollte sowieso gerade ins Präsidium fahren«, schwindelte Heike.

    »Ich rufe jedenfalls an, weil wir möglicherweise den Mörder festnehmen konnten. Also den Mann, der diese Nina Cordes getötet hat.«

    »Ist er bei dir im Präsidium?«, fragte Heike aufgeregt. Ihr Adrenalinspiegel schoss in die Höhe.

    »Der Beschuldigte wird gleich hierher überstellt. Er ist leicht verletzt worden, aber durchaus vernehmungsfähig, wie der Arzt sagt. Der Täter muss noch ambulant behandelt werden. Und ich dachte, du willst gewiss am Verhör teilnehmen …«

    »Darauf kannst du wetten!«, rief Heike. »In fünf Minuten bin ich da!«

    Das war zwar leicht übertrieben. Aber nachdem Heike sich abgetrocknet, gestylt und in eine Caprihose sowie eine Seidenbluse mit kurzen Ärmeln geschlüpft war, radelte sie mit einem Irrsinnstempo zum Präsidium. Innerhalb einer Viertelstunde war sie wirklich dort. Mit hängender Zunge traf sie bei Heidrun ein.

    »Du siehst so aus, als ob du einen Kaffee vertragen könntest!«, lachte die Kollegin. Heike warf ihr einen dankbaren Blick zu. Während die beiden Kriminalistinnen die heiße aromatische Flüssigkeit tranken und auf den Verhafteten warteten, brachte Heidrun Heike auf den neuesten Stand.

    »Heute Morgen gegen 4.30 Uhr gab es eine versuchte Vergewaltigung. Ein dunkel gekleideter und maskierter Täter drang in die Wohnung einer jungen Frau am Leinpfad ein. Er versuchte, sich an ihr zu vergehen. Allerdings hatte er wohl nicht damit gerechnet, dass der Freund des Opfers genau um diese Zeit von der Nachtschicht kam.«

    Die dunkelhaarige Kripobeamtin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

    »Der Zeuge arbeitet bei einem privaten Wachdienst. Er hat den Täter überwältigt, wobei dieser einige Blessuren davongetragen hat. Die junge Frau hat einen Schock erlitten, ist ansonsten aber unverletzt geblieben.«

    »Jedenfalls passt diese Tat vom Muster her bestens zu dem Mord an meiner Nachbarin«, dachte Heike laut nach. »Nächtliches Eindringen in eine Wohnung, dunkle Kleidung … Hast du schon etwas über den Täter in Erfahrung bringen können?«

    Heidrun verzog das Gesicht, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte.

    »Es handelt sich um einen gewissen Norbert Hanner. Er ist in unserer Abteilung kein Unbekannter, Heike. Bereits vor acht Jahren hat er zwei Notzuchtverbrechen begangen. Oder besser gesagt hat man ihm diese beiden Taten nachweisen können. Ich möchte nicht wissen, wie viele ähnliche Verbrechen er begangen hat und damit ungeschoren davongekommen ist.«

    »Wieso befand sich dieser Vogel überhaupt auf freiem Fuß?«, wunderte sich Heike. Aber gleich darauf beantwortete sie ihre Frage selbst. »Nein, sag’ nichts, Heidrun. Ich tippe mal auf die Psychologen, richtig?«

    Die Kollegin aus dem Dezernat für Sexualverbrechen nickte.

    »Hanner wurde nach diesen beiden Taten vor acht Jahren in die Nervenheilanstalt eingewiesen. Die Gehirnklempner meinten, ihn erfolgreich therapiert zu haben.«

    Heike konnte die Frustration verstehen, die aus den Worten ihrer Kollegin sprach. Polizeiliche Arbeit von Monaten wurde auf einen Schlag zunichte gemacht, wenn durch ein psychologisches Gutachten ein gefährlicher Gewalttäter wieder auf die Öffentlichkeit losgelassen wurde.

    Doch bevor Heike solchen trübsinnigen Gedanken weiterhin nachhängen konnte, wurde die Ankunft des Beschuldigten im Präsidium gemeldet. Zwei Justizwachtmeister brachten Norbert Hanner direkt in einen Verhörraum. Heike bemerkte mit einer gewissen Schadenfreude, dass die Nase des Sexstrolchs von einem Wundverband bedeckt war.

    Hanner war ein mittelgroßer Mann von nichts sagendem Äußeren. Nur sein stechender, heimtückischer Blick wies auf die Gefährlichkeit dieses Täters hin.

    Heidrun forderte den Beschuldigten auf, Platz zu nehmen. Hanner setzte sich an den einzigen freien Stuhl, der sich in dem kleinen Verhörraum befand. Die beiden anderen Sitze wurden von den Kriminalbeamtinnen eingenommen. Heidrun klärte den Täter über seine Rechte auf und wollte sein Einverständnis, das Verhör mit Tonband aufzunehmen.

    »Was soll der Schmus?«

    Hanner hatte eine raue, unangenehme Stimme.

    »Ich habe Mist gebaut, na und?! Ich wollte der Tante nur ihre Brieftasche klauen. Oder ihre Sparbücher, Scheckheft, was weiß ich. Da müsst ihr Bulletten doch nicht gleich so einen Zwergenaufstand machen.«

    »Was erlauben Sie sich?«, blaffte Heike zurück, bevor Heidrun etwas entgegnen konnte. »Wollen Sie uns für dumm verkaufen? Wie ich erfahren habe, sind Sie direkt auf Ihr Opfer losgegangen und haben ihr das Nachthemd zerrissen. Sie wird ihre Brieftasche oder ihre Sparbücher ja wohl kaum im Bett gelagert haben!«

    »Wissen Sie’s?!« Hanner grinste frech. »Was meinen Sie, wo manche Leute ihre Spargroschen bunkern. – Ich habe einen Bruch gemacht, okay. Das gebe ich zu. Etwas anderes können Sie mir nicht beweisen.«

    »Sie wollten die Frau missbrauchen«, sagte Heidrun dem Täter auf den Kopf zu. »Und das werden wir Ihnen beweisen.«

    »Na dann – viel Vergnügen! Kann man hier eigentlich rauchen?«

    »Wenn es sein muss …«

    Heike fischte eine Zigarettenschachtel aus ihrer Jacke. Sie war zwar überzeugte Nichtraucherin, kaufte aber alle Jubeljahre eine Packung, um daraus kettenrauchenden Ganoven anbieten zu können. Sie ging zu Hanner hinüber, steckte ihm einen Glimmstängel in den Mund und gab ihm Feuer. Die Hände des Gefangenen waren immer noch mit Handschellen gefesselt.

    Die Hauptkommissarin bemerkte, wie der Kerl intensiv ihre Figur taxierte. Ihr drehte sich beinahe der Magen um.

    Heike hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. Das vereitelte Verbrechen, bei dem Hanner überwältigt wurde, interessierte sie nur am Rande. Ihr ging es darum, einen Mord aufzuklären.

    »Wo waren Sie in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni, Herr Hanner?«

    »Häh? Das war doch die Nacht vor der Nacht, als ich den Bruch gemacht habe.«

    »Erraten. Und was haben Sie in dieser Nacht getan?«

    »Gepennt.«

    »Gibt es dafür Zeugen?«

    »Nee, Frau Kommissarin. Ich bin nur ein einsamer Junggeselle …«

    Ein einsamer Junggeselle, der Frauen vergewaltigt, dachte Heike erbost. Aber sie sagte: »Demnach könnte es durchaus sein, dass Sie gegen 3 Uhr morgens in ein Haus in der Isestraße eingedrungen sind und dort eine junge Frau erwürgt haben.«

    »Was?!« Hanners ironische Fassade bröckelte. Er starrte Heike mit einer Mischung aus Furcht und Hass an. »Ihr blöden Hühner wollt mir was anhängen! Aber nicht mit mir! Ich will meinen Anwalt sprechen!«

    »Das ist Ihr gutes Recht«, entgegnete Heike zuckersüß. »Übrigens können Sie sich leicht von jedem Verdacht rein waschen, indem Sie einem DNA-Test zustimmen. Wir besitzen nämlich Gewebeproben des Mörders. Wenn Sie es nicht waren, lässt sich Ihre Unschuld sehr leicht beweisen.«

    Diese Bemerkung brachte Hanner aus dem Konzept. Er nahm die Zigarette mit seinen gefesselten Händen aus dem Mund und paffte eine Weile vor sich hin. Der Täter schien nachzudenken. Schließlich schüttelte er den Kopf.

    »Mörder? Wie bitte? Ich … ich sage nichts mehr aus. Erst will ich mit einem Anwalt reden.«

    Heidrun ließ den Beschuldigten von uniformierten Kollegen fortschaffen, damit er seinen Anruf tätigen konnte. Inzwischen gönnten sich die beiden Kriminalistinnen eine Pause. Heike kochte vor Wut.

    »Dieser gemeine Schänder! Wie hältst du es bloß mit solchen Typen aus, Heidrun? Der ist doch völlig verstockt! Manchmal wünsche ich mir, bei der indischen Polizei zu arbeiten …«

    Die Kollegin vom Dezernat für Sexualverbrechen hob eine Augenbraue.

    »Das war kein guter Spruch, Heike.«

    Heidrun wusste natürlich genau, was Heike mit ihrer Anspielung auf die indische Polizei meinte. Die Ordnungskräfte des großen asiatischen Landes waren weltweit berüchtigt für ihre Brutalität. Dort geschah es immer wieder, dass ein Geständnis aus dem Angeklagten herausgeprügelt wurde.

    Heike schlug die Augen nieder.

    »Ja, das war ein dummer Spruch. Ich hab’s nicht so gemeint, Heidrun. Ich fühle mich bloß so hilflos.«

    Die dunkelhaarige Kollegin legte Heike freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.

    »Das geht mir manchmal auch so. Aber wenn Hanner der Mörder ist, dann kann er uns nicht mehr entwischen. Wegen der versuchten Vergewaltigung in der vorigen Nacht haben wir ihn auf jeden Fall am Schlafittchen. Du kannst also in aller Ruhe deine Ermittlungen fortsetzen. Selbst wenn der Vogel heute nicht mehr singt – es wird ihm nichts nützen.«

    4

    Der Vogel sang wirklich nicht, weder an diesem Tag noch am Tag darauf.

    Schließlich aber erklärte sich Dr. Helmut Laubach, der frisch ernannte Prozessbevollmächtigte des Vergewaltigers, großzügig zu einem DNA-Test seines Mandanten bereit.

    Norbert Hanner war laut Testergebnis nicht der Mörder von Nina Cordes. Die genetischen Fingerabdrücke stimmten absolut nicht miteinander überein.

    Heikes Laune sank auf den Nullpunkt, während die Außentemperaturen kletterten. Inzwischen war wenigstens Anja Keppler aus dem Urlaub zurück, die Kollegin und Freundin von Nina Cordes. Die Kriminalistin fuhr noch einmal zum Wandsbeker Markt. Anja Keppler wirkte blass trotz ihrer Urlaubsbräune.

    »Ich war eigentlich gut erholt, aber Ninas Tod hat mich getroffen wie ein Keulenschlag«, bekannte die Bankerin, als sie Heike im Pausenraum des Kreditinstituts gegenübersaß. »Nina war so lebenslustig, immer vergnügt … Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie tot sein soll.«

    Anja Keppler tupfte sich einige Tränen von den Wangen. Sie war eine zierliche sommersprossige Frau. Ihr Blondhaar war um einige Töne dunkler als das von Heike. Die Hauptkommissarin nippte an dem Mineralwasser, das die Bankerin ihr angeboten hatte.

    »Wir verfolgen verschiedene Spuren, um den Täter zu ermitteln, Frau Keppler. Für mich ist es wichtig, ob Nina Cordes irgendwelche Feinde hatte. Menschen, die ihr ans Leben wollten. Aus was für Gründen auch immer.«

    »So gut kannten wir uns auch wieder nicht«, wich die Bankerin aus. Aber damit biss sie bei Heike auf Granit. Die Hauptkommissarin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

    »Wollen Sie mich veräppeln?«, fragte sie scharf. »Erst weinen Sie sich die Augen aus dem Kopf um Ihre Freundin – und dann behaupten Sie, Nina Cordes gar nicht so gut gekannt zu haben! Könnten Sie sich vielleicht einmal entscheiden?«

    Heike machte es keinen Spaß, die wildgewordene Furie zu spielen. Vor allem deshalb nicht, weil sie Anja Keppler im Grunde gut leiden konnte. Aber sie musste ein Kapitalverbrechen aufklären. Mit ihrem beruflichen Instinkt hatte die Kriminalistin schnell erkannt, dass ihr Gegenüber sich vor etwas fürchtete. Und es gab nur ein Mittel, diese Angst zu überwinden: Nämlich die Zeugin so unter Druck zu setzen, dass sie trotzdem aussagte.

    »Es … es ist privat«, stammelte Anja, die schon ziemlich eingeschüchtert wirkte.

    »Wenn Sie nicht alles sagen, was Sie wissen, machen Sie sich möglicherweise der Mittäterschaft schuldig«, drohte Heike. Und dann startete sie einen Versuchsballon: »Außerdem wissen wir schon einiges über Herrn Wolfgang Evers.«

    Heike war auf dem richtigen Dampfer, wie sie nun sofort bemerkte. Bei der Erwähnung von Nina Cordes’ Exfreund loderte die Angst nur noch höher in Anjas Augen auf.

    »Wenn Sie schon so viel erfahren haben …«, stammelte die Bankerin.

    Heike machte eine wegwerfende Handbewegung.

    »Ich will das hören, was Sie wissen, Frau Keppler. Und zwar lückenlos und ohne Umschweife.« Sie fügte freundlicher hinzu: »Außerdem müssen Sie keine Angst haben, weil Sie eine Aussage machen. Die Polizei wird Sie schützen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

    Anja Keppler brachte ein kleines Lächeln zu Stande. Dann überlegte sie offenbar, wo sie mit ihrer Geschichte beginnen sollte. Und schließlich fasste sie sich ein Herz und öffnete den Mund.

    »Nina lernte Wolf Evers vor einem halben Jahr kennen. Er hat ja diese private Ballettschule, wie Sie zweifellos wissen, Frau Kommissarin. Nina wollte damals etwas für ihre Fitness tun und meldete sich zu einem Ballettkursus an. Sie konnte ja nicht ahnen, dass sie sich gleich in ihren Lehrer verlieben würde.«

    »Nina Cordes kam also durch den Ballettkursus mit Wolfgang oder Wolf Evers zusammen«, vergewisserte sich die blonde Hauptkommissarin.

    Die Bankerin nickte.

    »Ja, genau. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick, wie man so schön sagt. Und zwar von beiden Seiten. Auch Wolf war sofort für meine Freundin Nina entflammt. Allerdings hatten seine Gefühle von Anfang an etwas Besitzergreifendes an sich.«

    »Wie meinen Sie das, Frau Keppler?«

    »Wolf war unglaublich eifersüchtig. Er ist ja ein sehr attraktiver Mann. Das fand nicht nur Nina, auch ich bin dieser Meinung. Aber obwohl er so gut aussieht, betrachtet Wolf Evers jeden anderen Mann als Rivalen. Er hätte Nina am liebsten eingesperrt, glaube ich. Der Gedanke, dass sie hier in der Bank täglich mit männlichen Kollegen und Kunden zu tun hatte, machte ihn fast wahnsinnig.«

    »Das klingt ja nach einem richtigen Pascha«, warf Heike trocken ein.

    »Ja, das kann man wohl sagen, Frau Kommissarin. Aber denken Sie bitte nicht, dass Nina nur gelitten hätte in ihrer Beziehung mit Wolf. Er muss ein fantastischer Liebhaber sein. Jedenfalls hat sie mir das öfter anvertraut, von Frau zu Frau eben. Wolf hat Nina wohl im Bett wirklich glücklich machen können. Nur in anderer Hinsicht wurde meine Freundin unglücklich durch ihn.«

    »Wie meinen Sie das?«

    »Weil Wolf Nina seelisch fast erdrückte mit seinem Kontrollwahn, Frau Kommissarin! Wenn Nina sich mit mir verabredete, dann ging es ja noch. Weil ich eben auch eine Frau bin. Trotzdem haben wir es öfter erleben müssen, dass Wolf uns nachspionierte. Er wollte abchecken, ob sich seine Freundin nicht vielleicht doch heimlich mit einem anderen Mann traf.«

    Ist das krank, dachte Heike für sich. Aber sie sagte: »Hat Wolf Evers Ihre Freundin Nina Cordes jemals in Ihrer Gegenwart bedroht?«

    Die Bankerin zögerte einen Moment. Dann nickte sie entschlossen.

    »Ja, mehrmals. Einmal ist er ja sogar hier in der Bankfiliale erschienen und hat einen peinlichen Auftritt über die Bühne gebracht. Das war zu der Zeit, als Nina gerade eben mit ihm Schluss gemacht hatte. Ihr wurde seine erdrückende, Besitz ergreifende Art einfach zu viel. Aber Wolf konnte nicht hinnehmen, dass es aus war. Er hat Nina gepackt und gesagt, sie würde zu ihm gehören. Und er … er …«

    »Ja?«, hakte Heike nach.

    »Er würde Nina eher umbringen, als dass er sie gehen ließe«, flüsterte Anja Keppler.

    Heike schrieb die Worte sorgfältig mit. Das hatte der Filialleiter nicht erwähnt beziehungsweise abgeschwächt.

    »Gab es noch weitere Bedrohungen von Nina Cordes durch Wolf Evers, Frau Keppler?«

    Die Bankangestellte nickte.

    »Ja, jedenfalls beklagte sich Nina bei mir öfter darüber. Ihr Ex-Freund hat sie wohl öfter angerufen und ihr auch aufgelauert. Sie war ziemlich mit den Nerven herunter.«

    »Warum hat sie sich nicht an die Polizei gewandt?«, fragte Heike.

    »Das wollte sie tun, Frau Kommissarin. Jedenfalls sagte sie etwas in der Art zu mir, bevor ich in Urlaub fuhr. ›Wenn Wolf mich nicht in Ruhe lässt, zeige ich ihn an.‹ Das hat Nina vor zwei Wochen zu mir gesagt.«

    Und nun ist sie tot, dachte Heike. Die Bankerin schaute die Kriminalistin erschrocken an.

    »Glauben Sie, dass Wolf Evers meine Freundin getötet hat?«

    »Ich glaube gar nichts, Frau Keppler. Mein Job besteht darin, Fakten zu sammeln. Aber Herr Evers wird sich für sein bisheriges Verhalten verantworten müssen. Und ich werde sehr genau prüfen, was für ein Alibi er für die Tatzeit vorzuweisen hat.«

    »Arme Nina«, seufzte Anja Keppler. »Da hat sie nun das große Glück erwartet – und stattdessen fand sie den Tod.«

    »Wie meinen Sie das?«

    »Nina war vor einem Monat bei so einer … Hokuspokustante, die ihr die Zukunft aus dem Kaffeesatz gelesen hat. Und von der hat meine Freundin ihr weiteres Leben in den rosarotesten Farben ausgemalt bekommen. Ich halte absolut nichts von solchen Esoteriksachen, Frau Kommissarin. Für mich ist das nur Beutelschneiderei. Aber Nina – sie war durch Wolfs Psychoterror doch ziemlich aus der Bahn geworfen. Das hat sie vielleicht empfänglich gemacht für diesen Blödsinn, den die Wahrsagerin ihr aufgetischt hat.«

    Heike hob die Augenbrauen.

    »Man hört, dass Sie von dieser Zukunftsdeutung gar nichts halten, Frau Keppler. Hat Ihre Freundin Nina sich vielleicht von einer gewissen Andrea Kern wahrsagen lassen?«

    »Ja, so lautete wohl der Name. Wieso kennen Sie diese Person, Frau Kommissarin? Ist sie der Polizei schon wegen ihrer Machenschaften aufgefallen?«

    »Wir ermitteln in alle Richtungen«, erwiderte Heike unbestimmt. Die Hauptkommissarin wurde immer gespannter auf diese Esoterikerin. Aber zunächst wollte sie die Befragung von Anja Keppler über die Bühne bringen.

    »Fällt Ihnen sonst noch etwas anderes ein, das Ihre Freundin belastete, Frau Keppler? Der Ärger

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