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10 Krimis März 2023
10 Krimis März 2023
10 Krimis März 2023
eBook1.509 Seiten19 Stunden

10 Krimis März 2023

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Über dieses E-Book

Der Inhalt dieses E-Books entspricht ca. 1.300 Taschenbuchseiten.

 

Folgende Spannungsromane sind enthalten:

 

  • Brückenteufel
  • Todestaucher
  • Messermädchen
  • Kalis Todestempel
  • Tokyo Speed
  • Grabeshaus
  • Mordkuhle
  • Brüssel Barbaren
  • Amok in Amsterdam
  • Raubhure

 

1300 Seiten Krimispannung von Jerry-Cotton-Autor Martin Barkawitz!

 

 Der Autor 

 Martin Barkawitz schreibt seit 1997 unter verschiedenen Pseudonymen überwiegend in den Genres Krimi, Thriller, Romantik, Horror, Western und Steam Punk. Er gehört u.a. zum  Jerry Cotton  Team. Von ihm sind über dreihundert Heftromane, Taschenbücher und E-Books erschienen. 

 

 SoKo Hamburg - Ein Fall für Heike Stein: 

   

  •  Tote Unschuld 
  •  Musical Mord 
  •  Fleetenfahrt ins Jenseits 
  •  Reeperbahn Blues 
  •  Frauenmord im Freihafen 
  •  Blankeneser Mordkomplott 
  •  Hotel Oceana, Mord inklusive 
  •  Mord maritim 
  •  Das Geheimnis des Professors 
  •  Hamburger Rache 
  •  Eppendorf Mord 
  •  Satansmaske 
  •  Fleetenkiller 
  •  Sperrbezirk 
  •  Pik As Mord 
  •  Leichenkoje 
  •  Brechmann 
  •  Hafengesindel 
  •  Frauentöter 
  •  Killer Hotel 
  •  Alster Clown 
  •  Inkasso Geier 
  •  Mörder Mama 
  •  Hafensklavin 
  •  Teufelsbrück Tod 

   


Ein Fall für Jack Reilly 

   

  •  Das Tangoluder 
  •  Der gekreuzigte Russe 
  •  Der Hindenburg Passagier 
  •  Die Brooklyn Bleinacht 
  •  Die Blutstraße 
  •  Der Strumpfmörder 
  •  Die Blutmoneten 

 

 Undercover Unit One 

 

  •  Todesschwadron von Lissabon 
  •  Die Bastarde von Belgien 
  •  Die Sklavenhalter von Malta 
  •  Todesroulette in Monte Carlo 
  •  Der Karpaten-Job 
  •  Die Organdealer von London 
SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum19. März 2023
ISBN9783755436362
10 Krimis März 2023

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    Buchvorschau

    10 Krimis März 2023 - Martin Barkawitz

    Brückenteufel - Prolog

    Der Stein war groß wie die Welt und schwarz wie der Tod.

    Tatjana sah ihn auf sich zu rasen. Er wurde immer größer, wuchs scheinbar riesenfach vor der Windschutzscheibe ihres Autos. Tatjanas Herz schien sich in einen Eisklotz zu verwandeln, während das Blut heiß wie Lava durch ihren Körper jagte. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war plötzlich staubtrocken geworden.

    Sie dachte an Boris und an ihre bevorstehende Hochzeit, während sie verzweifelt das Lenkrad herumriss. Aber Tatjanas Überlebensinstinkt versagte gegenüber der Mordwaffe. Der Stein war schneller als die Ausweichbewegung des PKWs.

    Und dann kam der Schmerz – ein Blitz, der den Leib und die Seele gleichermaßen zerriss. Ein Gefühl, das alle anderen Empfindungen hinweg spülte, und zwar für immer. Als Tatjanas Wagen gegen die Leitplanke knallte und einige hundert Meter weiter endlich zum Stehen kam, war die Fahrerin bereits nicht mehr am Leben.

    1

    Saskia Koch ahnte nichts Gutes, als sie die beiden Männer in die Arztpraxis kommen sah. Sie kannte nur einen von ihnen, nämlich Polizeiobermeister Lothar Schlösser. Er gehörte zu den wenigen Beamten, die auf der kleinen Revierwache von Löhrfelden Dienst taten. Sein Begleiter war in Zivil. Aber er hatte ebenfalls das, was Saskia insgeheim den „Polizistenblick" nannte. Die Beiden sahen so ernst wie Sargträger bei einer Beerdigung aus. Und sie wandten sich direkt an Saskia, nicht etwa an eine ihrer Kolleginnen.

    „Wir müssen dringend mit Ihrem Bruder sprechen, Frau Koch."

    Mit diesen Worten wandte sich Schlösser an Saskia. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Es war jetzt vermutlich fast so weiß wie ihre Arzthelferin-Montur.

    Was hat denn Julian jetzt schon wieder angestellt? Dachte sie grimmig. Es ist elf Uhr, um diese Zeit pennt der Blödmann doch normalerweise noch.

    Es war nicht das erste Mal, dass Saskia wegen ihrem Bruder mit der Polizei zu tun hatte. Allerdings kamen die Beamten normalerweise zu ihr nach Hause, wenn wieder einmal eine Ruhestörung, ein Diebstahl oder ein BTM-Delikt angezeigt worden war. Die Polizisten wussten, wo sie das schwarze Schaf von Löhrfelden zu suchen hatten. Es war nach Saskias Meinung kein gutes Zeichen, dass die Beamten an ihrem Arbeitsplatz aufkreuzten.

    Sie atmete tief durch, bevor sie antwortete. Und sie versuchte, ihre professionelle Höflichkeit beizubehalten.

    „Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wo sich mein Bruder momentan aufhält, Herr Schlösser. Haben Sie es noch nicht bei uns daheim versucht?"

    „Selbstverständlich haben wir das!"

    Diese Worte kamen nicht aus dem Mund des Polizeiobermeisters. Es war sein Kollege, der gesprochen hatte. Und seine tiefe Stimme hörte sich sehr ungeduldig an. Saskia blickte zu ihm auf und schaute in graue Augen. Sie konnte die mühsam unterdrückte Wut dieses Mannes förmlich spüren. Beklemmung machte sich in ihrem Inneren breit.

    Der Unbekannte fuhr fort: „Ich bin Oberkommissar Frank Lehmann von der Kriminalpolizei. Es geht um ein Tötungsdelikt, das sich heute auf der Autobahn südlich der Auffahrt Löhrfelden-Dreikirch ereignet hat. Wenn Sie uns etwas verschweigen, dann machen Sie sich der Beihilfe zum Mord schuldig, Frau Koch."

    Die Sätze des Kommissars trafen Saskia wie Hammerschläge. Ihr Kreislauf spielte plötzlich verrückt, was sie nicht verwunderte. Julian hatte ja schon eine Menge Unsinn verzapft, und bei einer einzigen Jugendstrafe war es bisher leider nicht geblieben. Zweifellos war ihr Bruder der größte Tunichtgut in Löhrfelden und Umgebung. Aber sie konnte sich Julian beim besten Willen nicht als Mörder vorstellen.

    Saskia nahm ihren ganzen Mut zusammen, als sie antwortete.

    „Ich verschweige Ihnen nichts. Um acht Uhr ist hier in der Arztpraxis Arbeitsbeginn. Seitdem bin ich hier, das können Ihnen meine Kolleginnen, Dr. Bruckner sowie zahlreiche Patienten betätigen. Als ich unser Haus um 7.30 Uhr verließ, war Julian womöglich noch in seinem Zimmer. Ich weiß es nicht, da ich mich von ihm nicht verabschiedet habe. Er schläft morgens gern länger, ich wollte ihn nicht stören."

    Weil er die halbe Nacht vor dem Computer zockt, fügte sie in Gedanken hinzu. Der Polizeiobermeister sprach nun wieder, und er klang etwas freundlicher als sein Kripo-Kollege.

    „Wir waren bereits bei Ihnen zu Hause, Frau Koch. Ihre Großeltern waren anwesend und sagten aus, dass sie Ihren Bruder heute früh noch nicht gesehen hätten. Ihre Eltern halten sich momentan offenbar in den USA auf. Ihr Großvater erlaubte uns, einen Blick in Julians Zimmer zu werfen. Es war leer."

    „Und sein Mountainbike befand sich nicht im Schuppen, ergänzte Lehmann. „Der Mistkerl, der den Stein von der Brücke geworfen hat, hinterließ dort einen deutlich erkennbaren Reifenabdruck eines 29 x 2,0 Fahrradreifens.

    „Es gibt aber noch mehr Mountainbikes in Löhrfelden, brachte Saskia schüchtern hervor. „Und außerdem könnte der Täter auch aus einem anderen Dorf gekommen sein.

    „Überlassen Sie die Ermittlungen bitte uns, sagte der Oberkommissar ruppig. „Wissen Sie nun, wo Ihr Bruder ist oder nicht?

    „Ich kann Ihnen seine Mobilfunknummer geben", bot Saskia an. Ihre Hand zitterte, als sie ihr Smartphone aus ihrer Tasche holte. Die beiden Polizisten notierten sich die Zahlenfolge. Schlösser versuchte sofort, Julian anzurufen. Aber das Gerät war ausgeschaltet.

    Lehmann knallte seine Visitenkarte auf den Tresen.

    „Bitte melden Sie sich sofort bei uns, wenn Ihr Bruder Kontakt zu Ihnen aufnimmt oder falls Ihnen noch etwas einfällt. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein."

    Die Beamten drehten sich um und eilten grußlos davon. Saskia wagte kaum, aufzublicken. Sie spürte, dass sie sowohl von ihren Kolleginnen Melanie und Birgit als auch von sämtlichen Patienten angestarrt wurde. Die Tür zum Wartezimmer war offen gewesen, so dass mindestens ein halbes Dutzend Dorfbewohner den Auftritt der Polizisten mitbekommen hatten. In spätestens einer Stunde würde ganz Löhrfelden wissen, dass Julian Koch von der Polizei als ein mörderischer Steinwerfer gesucht wurde.

    2

    „Und Sie sind sicher, dass dieser Julian Koch der Täter ist?"

    Diese Frage stellte Oberkommissar Lehmann seinem einheimischen Kollegen, nachdem sie in die Polizeistation von Löhrfelden zurückgekehrt waren. Lothar Schlösser machte eine unbestimmte Handbewegung.

    „Zumindest ist er mein Hauptverdächtiger. Wir waren uns ja einig, dass die Mountainbike-Spuren auf einen Jugendlichen hindeuten. Ich kenne die Altersgruppe gut, unser Dorf hat ja kaum zweitausend Einwohner. Die meisten Kids machen entweder eine Berufsausbildung oder besuchen das Gymnasium in der Kreisstadt. Es gibt eigentlich nur eine junge Person, die für die Tatzeit kein Alibi hat und der ich so eine Irrsinnstat zutrauen würde. Wie Sie wissen, ist Julian Koch kein unbeschriebenes Blatt."

    Lehmann nickte grimmig.

    „Ich schlage vor, dass Sie eine Nahbereichsfahndung einleiten. Brauchen Sie Verstärkung?"

    „Das wäre nicht schlecht, Herr Oberkommissar. Ich kenne zwar die Umgebung wie meine Westentasche, aber der Nationalpark bietet zahlreiche Versteckmöglichkeiten."

    „Gut, dann schicke ich Ihnen eine Einsatzhundertschaft von der Landesbereitschaftspolizei. Wir müssen davon ausgehen, dass Julian Koch seine Flucht fortsetzt. Ich werde bundesweit nach ihm fahnden lassen, wir sollten auch die Medien einschalten. Immerhin haben mir die Großeltern seine Kontoverbindung verraten. Sobald er irgendwo Geld abzuheben versucht, kriegen wir ihn."

    Schlösser verzog den Mund.

    „Julian wird nicht weit kommen, denke ich. Er ist kein besonders raffinierter Krimineller, eher ein Tollpatsch ohne Unrechtsbewusstsein."

    „Er hat eine junge Frau auf dem Gewissen, stellte der Oberkommissar klar. „Wie schätzen Sie seine Schwester ein? Wird sie versuchen, ihm zu helfen?

    „Die Frage lässt sich schwer beantworten. Saskia Koch ist ein braves Mädchen, eine graue Maus. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hat sie niemals Mist gebaut, soweit mir bekannt ist. Saskia hat nach der Schule sofort eine Ausbildung als Arzthelferin gemacht und arbeitet seitdem in der Praxis von Dr. Bruckner. Ich kann mir schon vorstellen, dass sie ihren Bruder zu kontaktieren versucht. Aber sie wird ihm nicht bei der Flucht helfen, sondern ihn zum Aufgeben bewegen. Im Gegensatz zu Julian ist Saskia die Tragweite seines Handelns bekannt."

    Lehmann stieß ein heiseres Lachen aus, das eher an das Bellen einer Hyäne erinnerte. Es klang jedenfalls nicht amüsiert. Der Polizeiobermeister kniff die Augen zusammen.

    „Habe ich etwas Komisches oder Unpassendes gesagt?"

    Der Oberkommissar schüttelte den Kopf.

    „Nein, überhaupt nicht. Es ist nur so, dass Sie nicht wissen, mit wem das Opfer verlobt gewesen ist. – Sagt Ihnen der Name Boris Dupic etwas?"

    Der Dorfpolizist schüttelte den Kopf. Lehmann sprach nun langsamer, betonte jedes Wort.

    „Dupic arbeitet für das organisierte Verbrechen. Er hat mindestens zwei Männer gefoltert und getötet, aber wir können ihm nicht das Geringste nachweisen. Dupic ist so clever, dass er sich noch nicht mal beim Falschparken erwischen lässt. Er gehört zu den gefährlichsten Verbrechern, die ich kenne."

    Die Wirkung dieser Information bliebe bei dem Polizeiobermeister nicht aus. Seine Lider begannen nervös zu flattern. Schlösser stieß langsam die Luft aus den Lungen.

    „Sie meinen – dieser Mann wird nach Löhrfelden kommen und die Sache auf seine Art regeln wollen?"

    „Falls das geschieht, dann Gnade uns Gott. – Ich habe jetzt zunächst das zweifelhafte Vergnügen, ihm die Todesnachricht zu überbringen. Wir müssen im engen Kontakt bleiben, Herr Schlösser. Ich weiß nicht, ob sich ein Blutbad wirklich vermeiden lässt. Aber wir sollten es um jeden Preis versuchen."

    Die beiden Beamten verabschiedeten sich mit Handschlag voneinander. Lehmann stieg in seinen Dienstwagen und kehrte nach Köln zurück. Er musste eine Umleitung nehmen. An der Stelle, wo dieser verfluchte Steinwerfer zugeschlagen hatte, war die Autobahn immer noch gesperrt. Die Spurensicherung arbeitete mit Hochdruck. Der Oberkommissar fragte sich, ob Dupic nicht schon längst Bescheid wusste. Er hielt den Verbrecher eigentlich nicht für einen Mann, der den ganzen Tag lang den Verkehrsfunk hörte. Aber wenn Tatjana mit ihrem Verlobten verabredet gewesen war, dann würde er sie allmählich vermissen. Oder?

    Lehmann führte sich vor Augen, dass Tatjanas Auto sich von der Großstadt weg bewegt hatte. Was war ihr Fahrtziel gewesen? Der Oberkommissar begab sich zunächst zum Präsidium und erstattete seinem Vorgesetzten Bericht. Kriminalrat Degenhardt zog seine Augenbrauen zusammen.

    „Das ist eine üble Sache. Ich werde mich um die Suchmannschaften für Löhrfelden kümmern. Nehmen Sie Frau Teich mit, wenn Sie Ihren Kondolenzbesuch bei Dupic machen."

    „Wieso das denn, Herr Kriminalrat? Glauben Sie, Dupic reagiert wie ein antiker Herrscher, der den Überbringer der schlechten Botschaft töten lässt?"

    „Ich meine, dass dieser Kriminelle völlig unberechenbar ist. Am liebsten würde ich das SEK zu ihm schicken. Aber Erstens liegt absolut nichts gegen ihn vor, und Zweitens wäre eine solche Aktion ein gefundenes Fressen für seine Staranwälte und ihre Pressekontakte. ‚Bewaffnete Spezialeinheit drangsaliert trauernden Witwer‘ – ich kann mir die Schlagzeilen schon lebhaft vorstellen."

    „Okay, ich nehme die Teich mit. Lehmann erhob sich von seinem Stuhl. „Und Sie haben recht, Herr Kriminalrat. Dupic ist absolut unberechenbar. Wenn er in der richtigen Stimmung ist, wird er auch zwei Kriminalbeamte töten. Aber nach unseren Leichen müssen Sie dann nicht suchen lassen, denn die wird man niemals finden.

    „Malen Sie den Teufel nicht an die Wand. Wir setzen jetzt alles daran, diesen Julian Koch aufzustöbern – und zwar, bevor Dupic es tut."

    Lehmann nickte und verließ das Büro seines Vorgesetzten. Er fand die junge blonde Kommissarin an ihrem Arbeitsplatz, wo sie fleißig auf der PC-Tastatur tippte.

    „Kleben Sie sich Ihr Kaugummi hinters Ohr, Eva. Es geht in den Außeneinsatz. Sie haben nicht zufällig ein schwarzes Kleidungsstück dabei?"

    „Nee, das kleine Schwarze wollte ich zum Dienst nicht anziehen, erwiderte Eva Teich frech. „Worum geht es denn?

    Der Oberkommissar brachte sie mit wenigen Sätzen auf den neuesten Stand. Daraufhin verging ihr das Scherzen. Eva Teich hatte eines der mutmaßlichen Folteropfer von Dupic gesehen und war danach nächtelang von Alpträumen geplagt worden.

    „Wir müssten Dupic eigentlich rund um die Uhr observieren, damit er keinen Unsinn macht", murmelte Eva Teich, während sie gemeinsam mit Lehmann ins Bahnhofsviertel fuhr.

    „Was Sie nicht sagen!, gab der Oberkommissar schlecht gelaunt zurück. „Und woher soll ich die Beamten für diese Maßnahme nehmen? Außerdem nützt es nichts, das wissen Sie genauso gut wie ich. Dupic hat gewiss einen Freund oder Kumpel, der diesen verfluchten Julian Koch liebend gern in Streifen schneidet, während Dupic mit angesehenen Bürgern Skat spielt oder sich ein anderes bombensicheres Alibi verschafft.

    „Dann gibt es also nichts, was wir tun können?"

    „Doch. Wir verbinden unseren Kondolenzbesuch mit einer möglichst taktvollen Gefährderansprache."

    Sie verließen das Präsidium und stiegen in den Dienstwagen. Die sonst so lockere und quirlige Eva Teich war schweigsam. Sie hatte die Lippen zusammengekniffen, so dass ihr Mund einem roten Strich ähnelte. Lehmann warf ihr einen Seitenblick zu.

    „Haben Sie Angst?"

    Die Kommissarin nickte.

    „Ich auch, räumte Lehmann ein. Das hatte er noch niemals zuvor getan, jedenfalls nicht in einem Einsatz. „Wenn wir reingehen, bleiben Sie einen Schritt hinter mir. Sie dürfen Ihre Waffe natürlich noch nicht ziehen. Aber es wäre gut, wenn Sie die Pistole möglichst schnell aus dem Holster holen könnten.

    „Meinen Sie wirklich, dass Dupic uns niedermetzelt?"

    Die Frage blieb zunächst unbeantwortet. Lehmann starrte nachdenklich auf die Fahrbahn, während er das Auto durch das Bahnhofsviertel lenkte.

    „Wir werden es wohl darauf ankommen lassen müssen", sagte er schließlich.

    Der Kriminalbeamte parkte neben dem Handyladen, der Dupic als Tarnexistenz diente. Der Killer stand hinter der Verkaufstheke und strahlte die Polizisten an. Aber Lehmann und Eva Teich fielen auf seine falsche Freundlichkeit nicht herein. Sie wussten zu viel über diesen Mann.

    Dupic war groß und athletisch. Sein Schädel war rasiert, der schwarze Vollbart kurz und gepflegt.

    „Was kann ich für Sie tun, Herr Oberkommissar? Benötigen Sie oder Ihre charmante Kollegin ein neues Smartphone?"

    „Wir sind leider dienstlich hier, Herr Dupic."

    Lehmann schaffte es immerhin, dass seine Stimme nicht zitterte. Eva befand sich momentan nicht in seinem Gesichtsfeld. Er hoffte einfach darauf, dass sie wirklich zurückschießen würde, wenn der Killer ausrastete. Doch Lehmann selbst würde zunächst als Kugelfang dienen müssen.

    Dupic griente. Er schien immer noch nicht zu ahnen, worum es ging. Umso größer würde der Schock für ihn sein.

    „Was soll ich denn angestellt haben, Herr Oberkommissar? Hat mich wieder so ein Dreckskerl verleumdet? Muss ich Dr. Zacharias anrufen?"

    Dr. Zacharias war ein Staranwalt, der Dupic schon öfter aus der Klemme geholfen hatte. Lehmann schüttelte den Kopf.

    „Das wird nicht nötig sein. Sie werden keiner Straftat beschuldigt, Herr Dupic. Wir sind gekommen, um Ihnen eine traurige Nachricht zu überbringen. Es geht um Tatjana Keller, sie …"

    „Was ist mit ihr?"

    Dupic unterbrach den Kriminalisten, schrie ihn an. Zwischen den beiden Männern befand sich die Verkaufstheke. Aber das war keine Barriere, die einen Mann wie Dupic hätte aufhalten können. Er hob seinen rechten Arm, wollte den Oberkommissar am Kragen packen. Doch er beherrschte sich. Die Frage war nur, wie lange sich Dupic noch zusammenreißen konnte.

    Lehmann wäre am liebsten einen Schritt zurückgewichen. Aber das war keine gute Idee. Nun war er seinem Vorgesetzten doch dankbar. Immerhin hatte der Oberkommissar Eva Teich als Rückendeckung. Aber ob das etwas nützen würde?

    „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Tatjana Keller heute gegen 11 Uhr bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist."

    Dupics Gesicht verzog sich zu einer Fratze des Schmerzes. Es fiel Lehmann schwer, für diesen eiskalten Mörder Mitleid zu empfinden. Aber in diesem Moment gab es für den Oberkommissar keinen Zweifel daran, dass Dupic Tatjana geliebt hatte. Falls dieser Mann überhaupt zu solchen Gefühlen fähig war. Die Augen des Killers schimmerten feucht. Lehmann konnte sich nicht vorstellen, dass Dupic weinen würde. Und wenn doch, dann keinesfalls vor den beiden Beamten.

    Lehmann und seine Kollegin warteten schweigend, während Dupic um Fassung rang. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Seine Unterlippe zitterte. Die Hände hatte er um die Kante der Ladentheke gekrampft. Seine Knöchel traten weiß hervor, so fest packte er zu.

    Es vergingen Minuten, bis Dupic wieder sprechen konnte. Seine Stimme bebte.

    „Moment mal … da kam doch vorhin eine Radiomeldung … Eine junge Frau sei gestorben, nachdem ein Steinwerfer auf der Autobahnbrücke … sprechen Sie von diesem Unfall? War Tatjana das Opfer?"

    „Unsere Ermittlungen dauern an", erwiderte der Oberkommissar. Ihm war selbst klar, wie dämlich diese Phrase für Dupic klingen musste.

    „Es war also der Steinwerfer!"

    Der Killer sprach diesen Satz aus, als ob er ihn in Granit meißeln wollte.

    „Wir haben großes Verständnis für Ihre Trauer, Herr Dupic. Aber ich muss Sie bitten, sich in unsere Ermittlungen nicht einzumischen. Ich gehe davon aus, dass wir den Täter verhaften und seiner gerechten Strafe zuführen können."

    „Wer war es?"

    „Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben, das wissen Sie. Außerdem haben wir bisher nur Verdachtsmomente, die …"

    „Raus!, brüllte Dupic. „Verschwinden Sie, bevor ich mich vergesse!

    „Sie sind jedenfalls gewarnt, kommen Sie der Polizei nicht in die Quere."

    Lehmanns Satz klang in seinen eigenen Ohren mehr als lahm. Er wagte es auch nicht, dem Killer den Rücken zuzukehren. Dupic war es ohne Weiteres zuzutrauen, den Oberkommissar von hinten zu erschießen.

    Aber der Oberkommissar und die Kommissarin gelangten unangefochten nach draußen und stiegen in ihren Wagen.

    „Unsere Gefährderansprache scheint Dupic nicht besonders beeindruckt zu haben", bemerkte Eva Teich trocken.

    „Immerhin leben wir noch, gab Lehmann zurück. „Für diesen Steinwerfer sehe ich allerdings schwarz, wenn wir kein Überwachungsteam genehmigt bekommen.

    3

    Nachdem die Beamten gegangen waren, eilte Saskia in den Pausenraum und rief sofort daheim an. Als sie die vertraute Stimme ihrer Oma hörte, ging es ihr sofort etwas besser.

    „Die Polizei war gerade hier!", sprudelte es aus Saskia hervor. Sie berichtete ihre älteren Verwandten, was sich ereignet hatte.

    „Uns bleibt wohl nichts Anderes übrig, als für deinen Bruder einen guten Anwalt zu beauftragen", sagte Marlies Koch. Sie hörte sich beherrschter an als ihre Enkelin. Dennoch war Saskia sicher, dass auch ihre Großmutter sich Sorgen machte.

    „Wie konnte Julian nur so etwas Schreckliches tun, Oma?"

    „Die Frage lässt sich nicht beantworten, mein Kind. Noch steht ja gar nicht fest, dass er wirklich der Täter ist. Du musst dich beruhigen."

    „Das sagt sich so leicht! Saskia konnte ihr Schluchzen nicht unterdrücken. „Alle starren mich an, als ob ich selbst einen Menschen auf dem Gewissen hätte!

    „Kannst du den Doktor nicht fragen, ob er dir frei gibt?"

    Die Frage ihrer Großmutter drang wie aus weiter Ferne zu Saskia durch. Mit tränenerstickter Stimme antwortete sie: „Nein, das will ich auf keinen Fall. Ich muss den heutigen Arbeitstag irgendwie durchstehen."

    Sie beendete das Telefonat mit ihrer Oma und versprach, so bald wie möglich nach Hause zu kommen. Dann flitzte sie ins Bad und versuchte, ihr Äußeres halbwegs in Ordnung zu bringen. Aber man konnte ihr immer noch auf drei Kilometer gegen den Wind ansehen, dass sie geweint hatte.

    Als Saskia wieder an ihrem Arbeitsplatz erschien, nahm Birgit sie schwesterlich in die Arme.

    „Geht es wieder einigermaßen, Süße? Der Chef möchte mit dir sprechen."

    Saskia nickte ihrer Kollegin zu. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Dr. Bruckner von dem Polizeibesuch in seiner Praxis erfahren hatte. Sie ging ins Behandlungszimmer und kam sich dabei vor wie auf dem Weg zum Schafott.

    Der Arzt erhob sich hinter seinem Schreibtisch, sobald Saskia den Raum betrat. Dr. Bruckner war ein sechzigjähriger magerer Mann mit schlohweißem Haar.

    „Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Koch. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Wir waren alle sehr bestürzt. Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?"

    Saskia ließ sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch plumpsen. Ihre Knie waren weich wie Pudding.

    „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Herr Doktor. Ich schwöre Ihnen, dass ich nichts von Julians Irrsinnstat geahnt habe. Sonst hätte ich ihn mit allen Mitteln davon abgehalten."

    Kaum hatte Saskia diese Worte ausgesprochen, als sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Denn sie gab durch ihre Aussage zu, dass sie ihren Bruder für den Mörder hielt.

    Und wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, dann hatte sie das vom ersten Moment an getan.

    Der Arzt machte eine hilflose Geste.

    „Wenn Sie Zeit für sich und Ihre Familie benötigen, dann gebe ich Ihnen frei."

    Genau das, was Oma vorgeschlagen hat, dachte Saskia. Aber sie schüttelte heftig den Kopf.

    „Nein danke, Herr Doktor. Daheim fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich will versuchen, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Vielleicht kann die Polizei Julian bald verhaften, damit dieser Alptraum ein Ende hat."

    Dr. Bruckner nickte.

    „Sie sind eine tapfere junge Frau. Wir werden Ihnen den Rücken stärken, das verspreche ich. Und nun würde ich gern Ihren Blutdruck messen."

    Saskia ließ die Prozedur über sich ergehen. Sie wusste selbst, dass ihr Kreislauf verrückt spielte. Der Arzt gab ihr ein leichtes pflanzliches Beruhigungsmittel. Danach fühlte sie sich wirklich etwas besser.

    Den Rest des Arbeitstages funktionierte Saskia wie eine Roboterin. Ihre Kolleginnen und ihr Chef behandelten sie wie ein rohes Ei, aber dadurch ging es ihr nicht besser. Immerhin bewirkte die Medizin, dass sie sich durch ihre Sorgen nicht völlig aus der Bahn werfen ließ. Außerdem war Melanie so rücksichtsvoll gewesen, das Radio im Pausenraum auszuschalten. Saskia wollte nicht stündlich in den Nachrichten hören, dass eine junge Frau getötet worden war. Ihrer Meinung nach war es nur eine Frage der Zeit, bis die ganze Welt den Täter kennen würde. Wie sollte es dann weitergehen? Wie sollte Saskia in Löhrfelden leben, wo sie jeder kannte? Würden die Menschen mit dem Finger auf sie zeigen, sie die Mörderschwester nennen? Musste sie sich auf Psychoterror einstellen?

    Endlich konnte sie ihre weiße Kluft mit ihrer Alltagskleidung vertauschen. Birgit berührte sie zum Abschied leicht am Oberarm.

    „Nimm‘ dir die Sache nicht so zu Herzen, Süße. Vielleicht hat Julian es ja gar nicht getan."

    Aber es hörte sich nicht so an, als ob ihre Arbeitskollegin wirklich daran glauben würde. Und Saskia selbst tat es auch nicht.

    „Ja, vielleicht, murmelte sie höflichkeitshalber. „Danke, Birgit. Ich wünsche dir einen schönen Feierabend, wir sehen uns dann morgen.

    Saskia schloss ihr Fahrrad auf und schwang sich in den Sattel. Sie wohnte gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem verfluchten Bruder in der geräumigen weitläufigen Villa ihrer Großeltern, die sich am Waldrand befand. Das Haus war seit vielen Generationen in Familienbesitz. Saskias Ururgroßvater hatte einst eine Fabrik besessen, die aber schon vor dem Zweiten Weltkrieg in Konkurs gegangen war. Unternehmer waren die Kochs schon lange nicht mehr, Aber aus dieser Zeit stammte die Villa, die eigentlich für eine normale Familie viel zu groß war. Doch ihr Opa sah es als seine Aufgabe an, die geerbte Immobilie in Schuss zu halten und zu restaurieren. Deshalb bastelte er meist irgendwo herum, denn etwas von der alten Bausubstanz bröckelte ständig ab.

    Saskia fuhr auf der Umgehungsstraße, als plötzlich ihr Smartphone klingelte. Automatisch nahm sie das Gespräch an, obwohl das Display eine unbekannte Nummer zeigte.

    „Hallo?"

    Einen Moment lang herrschte Stille, man hörte nur ein Rauschen. Saskia glaubte schon, einen Perversen in der Leitung zu haben. Da ertönte eine wohlbekannte Stimme.

    „Ich bin es."

    Saskia wäre vor Schreck beinahe in den Straßengraben gefahren. Das war auch kein Wunder, denn ihr Bruder rief sie gerade an! Sie bremste, ihre Knie waren wieder butterweich. Saskias Herz raste, und sie konnte kaum einen Ton herausbringen.

    „Julian! Wo bist du? Alle suchen dich."

    „Glaubst du, das weiß ich nicht? Was meinst du, weshalb ich mir ein neues Billighandy besorgt habe? Mit meinem Smartphone kann ich nicht mehr telefonieren. Die Bullen würden es sofort orten, wenn ich es einschalte."

    Daran hatte Saskia noch gar nicht gedacht. Sie war verblüfft darüber, dass ihr Bruder zu so einer vorausschauenden Überlegung fähig war. Aber dann überlagerte ihre heiße Wut jedes andere Gefühl.

    „Du bist ja so clever!, schrie sie ins Telefon. „Warum warst du nicht so klug, bevor du einen unschuldigen Menschen getötet hast?

    Für einen Moment herrschte wieder Schweigen. Saskia hörte nur, wie ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschte. Dann meldete sich ihr Bruder wieder zu Wort.

    „Ist der echt tot?"

    Sie, Julian! Du hast eine junge Frau getötet, falls es dich interessiert. Warum hast du das nur getan?"

    „Keine Ahnung. – Hör‘ zu, du musst mir helfen …"

    Keine Ahnung. Das war genau die Antwort, die Saskia von ihrem Bruder erwartete. Er schaltete nie das Gehirn ein, bevor er etwas tat. So war es schon immer gewesen. Sie hätte nicht sagen können, weshalb er so viel anders tickte als sie selbst. Gewiss, Menschen waren nun einmal unterschiedlich.

    Aber die Meisten wurden niemals zu Mördern.

    „Nein, ich werde dir nicht helfen. Du musst dich der Polizei stellen, Julian. Sonst machst du alles nur noch schlimmer."

    Es war, als ob er nicht zugehört hätte. Aber auch das war nichts Neues für Saskia.

    „Ich bin dein Bruder, okay? Du kannst mich doch nicht einfach hängenlassen. Außerdem war Andi auch dabei. Ich muss untertauchen, ich brauche mindestens 1.000 Euro."

    „Soll ich dir jetzt auch noch Geld dafür geben, dass du Mist gebaut hast?"

    „Ich kann nicht in den Knast gehen, Saskia. Da gehe ich kaputt. Bringst du mir die Kohle um Mitternacht in die Tannenschonung? Ich warte dort auf der Lichtung."

    Saskia gab es ungern zu, aber in gewisser Weise hatte Julian recht. Er war eine Memme, ein Schwächling. Wenn die Zustände in den Gefängnissen wirklich so schlimm waren, wie man sagte, würde Saskias Bruder dort sehr leicht zum Opfer werden. Wollte sie das wirklich?

    Julian spürte wahrscheinlich, dass sie weich wurde. So war es bisher immer gewesen.

    „Du bist die Einzige, der ich vertraue. Kein Wort zu den Bullen, okay? Wir sehen uns dann um Mitternacht."

    Saskias Bruder beendete das Telefonat und ließ sie mit einem fürchterlichen Gewissenskonflikt zurück. Sie zog die Visitenkarte von Oberkommissar Lehmann aus der Tasche, drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern. Sie konnte den Kriminalisten einfach anrufen und die Polizei dann zum Treffpunkt führen. Julian würde buchstäblich ins offene Messer laufen, er hätte keine Chance.

    Aber – wenn er es nun doch nicht gewesen war? Saskias Bruder hatte von Andi geredet. Damit konnte nur Andi Brauer gemeint gewesen sein. Dieser Typ war ein Sonderling, der in einem ausrangierten Bauwagen mitten im Wald lebte. Er war rund zehn Jahre älter als Julian. Saskia wusste nicht, was die beiden verband, wenn man von einer Vorliebe für Drogen absah. Andi war einmal in der Arztpraxis gewesen, weil er sich beim Holzhacken verletzt hatte. Saskia mochte den Kerl nicht, sie verabscheute seinen lauernden Blick und seine schleimige Art. Sie traute es auch Andi zu, einen Stein von der Autobahnbrücke zu werfen. Wieso war sie noch nicht früher darauf gekommen?

    Ob sie Oberkommissar Lehmann einen Tipp geben sollte? Aber dann würde der Kriminalist wissen wollen, wie sie auf Andi kam. Und wenn dieser Freak nach seiner Verhaftung die ganze Schuld auf ihren Bruder abwälzte, sich vielleicht sogar als Tatzeuge aufspielte?

    Nein, das war keine gute Idee. Nachdem sie eine Weile mit sich selbst gekämpft hatte, steckte Saskia die Visitenkarte wieder ein. Sie wendete ihr Fahrrad, kehrte in den Ortskern zurück und hob am Geldautomaten 1.000 Euro ab. Dafür musste sie tief in den Dispo tauchen, aber normalerweise machte sie ja keinen Schulden.

    Als sie die Banknoten in ihre Tasche schob, fiel ihr ein, dass die Polizei womöglich schon ihr Konto überwachte. Oder sah sie jetzt schon Gespenster? Durften die Behörden das so einfach machen? Saskia wusste es nicht. Obwohl ihr Bruder schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, kannte sie sich mit den Rechten und Pflichten der Familienangehörigen von Straftätern nicht besonders gut aus. Saskia hatte immer versucht, ihre Augen vor diesem Teil der Wirklichkeit zu verschließen. Und sie hoffte, dass Julian irgendwann einmal zur Vernunft kommen würde.

    Aber momentan sah es absolut nicht danach aus. Saskia verdrängte den Gedanken. Sie wollte jetzt nur noch nach Hause und sich am liebsten die Bettdecke über den Kopf ziehen. Doch als sie ihr Rad im Schuppen abgestellt hatte und die Villa durch die Vordertür betrat, wurde sie sofort von ihren Großeltern bestürmt.

    Ihre Oma umarmte sie, und auch ihr Opa zog sie an sich, obwohl Kurt Koch normalerweise kein besonders gefühlsbetonter Mann war. Aber sie befanden sich eben alle in einer Ausnahmesituation.

    Saskias Großmutter war zwar genau wie ihr Ehemann über siebzig Jahre alt, sah aber jünger aus. Marlies arbeitete ständig im Garten, das hielt sie offenbar fit. Sie schaute Saskia forschend an.

    „Du bist ganz schön tapfer, Kleines. Es war gewiss nicht leicht, den heutigen Arbeitstag durchzustehen."

    „Die Leute müssen sich eben immer ihre Mäuler über ihre Mitmenschen zerreißen, sagte Opa grimmig. „Dabei steht noch gar nicht fest, ob Julian wirklich für diese Abscheulichkeit verantwortlich ist. Es wäre am besten, wenn er bei den Behörden eine Aussage machen würde. Hast du etwas von ihm gehört?

    Die Frage war an Saskia gerichtet. Sie fühlte sich miserabel, weil sie ihren Großvater anlügen musste. Also beließ sie es bei einem energischen Kopfschütteln.

    „Warum sollte sich Julian denn auch bei seiner Schwester melden?, fragte Oma. „Er kann sich doch denken, dass die Polizei schon Kontakt zu uns aufgenommen hat.

    Saskia versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

    „Wissen Mama und Papa eigentlich schon Bescheid?"

    Kurt Koch nickte.

    „Ich habe vorhin bei Manfred angerufen und ihm von dem … Verdacht erzählt. Jutta und mein Sohn wollen so schnell wie möglich zurückkehren. Wenn sie noch einen Flug erwischen, sind sie vielleicht morgen schon wieder in Löhrfelden. Das erfahren wir dann aber rechtzeitig."

    „Du musst jetzt etwas essen, entschied Oma, während sie sich wieder an ihre Enkelin wandte. „Gerade in solchen Zeiten ist es wichtig, bei Kräften zu bleiben.

    Saskia protestierte nicht, obwohl sie überhaupt keinen Appetit hatte. Aber als sie dann in der Küche saß und Marlies ihre legendäre Gulaschsuppe servierte, langte Saskia doch zu. Nachdem sie ihren Teller brav leergegessen hatte, durfte sie auf ihr Zimmer gehen.

    4

    Saskia hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als ihr die Tränen kamen. Sie warf sich auf das Bett und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Dabei konnte sie gar nicht so genau sagen, was sie überhaupt traurig machte.

    Eine junge Frau war gewaltsam und sinnlos ums Leben gekommen, so viel stand fest. Aber Saskia hatte das Opfer überhaupt nicht gekannt. Darum blieb ihr Bedauern abstrakt. Bei Julian lag die Sache anders. Er hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass er jetzt in der Klemme steckte. Dabei spielte es eigentlich keine Rolle, ob nun Saskias Bruder oder dieser verflixte Andi den Stein geworfen hatte. Auf jeden Fall war der zweite Mann ein Mittäter. Man musste nicht Jura studiert haben, um diese Tatsache zu begreifen.

    Saskia verachtete sich selbst dafür, dass sie ihrem Bruder helfen wollte. Weshalb war sie nur so weich? Warum konnte sie nicht Nein sagen, obwohl er durch seine eigene Schuld in der Tinte saß?

    Saskia wollte über diese Frage nicht nachdenken. Sie schob sich ihre Ohrstöpsel ein und schaffte es einige Stunden lang, Musik zu hören. Ihre Gedanken ähnelten einem Ameisenhaufen. Kopfschmerzen stellten sich ein. Endlich war es beinahe Mitternacht. Die Tannenschonung befand sich keine zehn Minuten Fußweg von Saskias Elternhaus entfernt. Mit dem Fahrrad konnte man nicht gut dorthin gelangen, jedenfalls nicht in der Dunkelheit.

    Saskia trug Jeans und ein blaues T-Shirt. Sie zog sich Tennisschuhe und einen dunklen Kapuzenpullover über. Leise öffnete sie ihre Zimmertür und lauschte. Nein, von ihren Großeltern war nichts mehr zu hören. Wahrscheinlich hatten sie sich schon in ihr Schlafgemach begeben. Ob sie noch wach waren?

    Sie schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. So ein altes Haus „arbeitete" eigentlich ständig. Als Teenager hatte Saskia eine Zeitlang gerne Horrorstories gelesen und sich in dem verwinkelten Gebäude entsprechend gefürchtet. Aber irgendwann hatte sie begriffen, dass ihr von dem Haus keine Gefahr drohen würde.

    Nur von Menschen.

    Saskia kannte sich bestens aus und konnte sich auch in der Dunkelheit fast geräuschlos bewegen. Sie schlüpfte durch die Hintertür nach draußen. Die kalte Nachtluft tat ihr gut. Hier am Ortsrand gab es keine Straßenbeleuchtung. Die Sterne am tintenschwarzen Nachthimmel blinkten nur umso heller.

    Eine Taschenlampe hatte sie trotzdem mitgenommen. Saskia stieg über den Gartenzaun und verschwand wenig später im Unterholz. Ihr Orientierungssinn funktionierte bestens, aber dieser Wald war ihr auch fast so vertraut wie die Villa. In ihrer Kindheit hatte er für Saskia und Julian als Abenteuerspielplatz gedient.

    Sie musste die Taschenlampe nur dann und wann aufblitzen lassen, während sie sich zwischen den Bäumen auf ihr Ziel zu bewegte. Obwohl Saskia sich selbst für einen Angsthasen hielt, fürchtete sie sich nicht nachts allein in dem dunklen Gehölz. Menschen versetzten sie in Panik, aber nicht die Natur.

    Saskia atmete flacher, als sie die Lichtung betrat. Sie schaltete ihre Lampe nur ganz kurz an. Wenn Julian hier war, dann würde er jetzt wissen, dass sie gekommen war. Das Display ihres Smartphones zeigte 0.01 Uhr an. Sie war sehr pünktlich.

    Aber ob ihr Bruder auch kommen würde? Sie hoffte nur, dass er diesen Andi nicht im Schlepptau hatte. In Gegenwart dieses Kerls fühlte Saskia sich immer unwohl. Und sie hoffte insgeheim, dass der Freak den Stein geworfen hatte.

    Es raschelte im Gebüsch. Saskia führte sich vor Augen, dass auch jemand anders sich hier aufhalten konnte. Ein Triebtäter, beispielsweise. Und wenn so ein Sexmonster sich auf sie stürzte, dann waren zwar theoretisch ihre Schreie noch bis zu ihrem Elternhaus zu hören. Doch bis dann Hilfe eintraf, konnte ein Perverser sie in aller Ruhe vergewaltigen und umbringen.

    Saskia begann zu zittern, als sie die Umrisse einer Gestalt im fahlen Mondlicht vor sich erblickte. Aber gleich darauf hörte sie Julians Stimme.

    „Ich wusste, dass du kommen würdest."

    „Bilde dir bloß nichts ein!, antwortete sie patzig. „Ist dir überhaupt klar, was ihr angerichtet habt?

    Saskia sagte nicht du, sondern ihr. Es fiel ihr leichter, die Schuld am Tod der jungen Frau auf zwei Personen zu verteilen. Es war, als ob die Verantwortung ihres Bruders dadurch geschmälert wurde. Aber im nächsten Moment erkannte Saskia, dass sie damit nur sich selbst etwas vormachte.

    Julian druckste herum, er wollte offenbar nicht antworten. Sie zog das Geld hervor und drückte es ihm in die Hand.

    „Danke. Dieses Wort quetschte er sich ab. „Ich wollte nicht, dass es so krass abgeht, echt.

    „Was dachtest du denn, was geschehen würde, wenn man einen Stein von einer Autobahnbrücke schmeißt?"

    Diese Frage schwebte weiterhin im Raum, denn Julian reagierte nun nicht mehr. Saskia kannte ihn besser als die meisten Menschen auf der Welt. Und obwohl sie ihn nicht verstehen konnte, wusste sie doch genau, wie er tickte. Ihr Bruder dachte nicht nach, machte Unsinn, verwischte dann seine Spuren und versuchte, die Schuld auf andere abzuwälzen. So war es bisher immer gewesen.

    „Ich mach‘ den langen Schuh, sagte er schließlich. „Ich tauche erst mal in Frankreich oder Belgien unter, bis sich die Sache abgekühlt hat.

    „Wovon redest du überhaupt?, fragte sie entgeistert. „Was für eine Sache, Julian? Sprichst du von dem Tod der jungen Frau? Mord verjährt nicht, dafür kann man dich auch in vierzig oder fünfzig Jahren noch belangen.

    „Echt?"

    Saskias Ansage schien ihren Bruder zu überraschen. Aber es verwunderte sie nicht, dass er sich darüber keine Gedanken gemacht hatte. Julian war es egal, was übermorgen passierte. Warum sollte er sich dann über einen Zeitraum von fünfzig Jahren den Kopf zerbrechen?

    „Hör‘ zu, ich bin dann mal weg. Ich melde mich bei dir, wenn ich in Sicherheit bin. Du bist echt cool, große Schwester."

    Mit diesen Worten drücke Julian sie kurz an sich, dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand in der Finsternis. Saskia blickte ihm nach. Sie war völlig sprachlos. Nicht ein einziges Wort des Bedauerns oder der Reue war über seine Lippen gekommen. Sollte ihr Bruder wirklich so ein gefühlloser Dreckskerl sein, der andere Menschen ohne Gewissensbisse töten konnte?

    Saskia fühlte sich schrecklich, weil sie ihm auch noch Geld gegeben hatte. Wie sollte es nun weitergehen? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass man sie jetzt als Komplizin oder Mitwisserin ansehen konnte. Wäre es nicht das Beste, zur Polizei zu gehen und reinen Tisch zu machen?

    Einige Momente lang blieb Saskia unschlüssig auf der Lichtung stehen, dann ging sie zu ihrem Elternhaus zurück. Inzwischen zweifelte sie nicht mehr daran, dass ihr Bruder der Mörder war.

    5

    „Julian! Julian war es!!!"

    Der Schrei aus Andi Brauers Mund ging in einem Winseln unter, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Julian Kochs Kumpan saß auf einem Stuhl, konnte sich aber kaum rühren. Seine Arme und Beine waren mit Panzerband an dem Möbelstück fixiert worden. Und obwohl Andi soeben sehr laut gewesen war, konnte ihn kein Unbeteiligter hören. Der Stuhl stand nämlich in einem ehemaligen Lagerhaus, das sich inmitten einer Industriebrache befand.

    Andi war hier allein mit Boris Dupic und dessen Freunden Gregor und Eric.

    Das Blut tropfte von Andis gebrochenen Fingern auf den Boden. Dupic schwenkte die schwere Zange, die er in der Hand hielt, spielerisch hin und her. Der Killer konnte keine Genugtuung empfinden, obwohl es ein Kinderspiel gewesen war, diesen Versager zu kidnappen.

    Dupic hatte mit Hilfe seiner Freunde nur wenige Stunden benötigt, um zumindest einen der beiden Täter einzufangen und zu verschleppen. In der Nähe dieser verfluchten Autobahnbrücke gab es nur ein Dorf, nämlich Löhrfelden. Dupic kannte den Dealer, der in diesem öden Landstrich der Hauptlieferant für Drogen aller Art war. Der Killer hatte ihn einfach nur nach seiner Meinung gefragt.

    „Du kennst doch jede Menschenseele in diesem Kaff. Wem würdest du zutrauen, einen Stein von der Brücke zu schmeißen?"

    Der Dealer hatte nicht lange überlegen müssen: „Die meisten Typen dort sind total bieder und haben Schiss vor den Bullen. Für mich kommen eigentlich nur Andi und Julian in Frage. Der Eine ist ein durchgeknallter Waldschrat, der Andere ein Vollpfosten, der nichts auf die Kette kriegt."

    Gregor und Eric hatten Andi gefunden und in diesen Unterschlupf von Dupic geschleift. Der Killer hatte sich auf seiner Fahrt hierher vergewissert, dass er nicht von der Polizei verfolgt wurde. Auch seine beiden Freunde hatten keine Aktivität der Ordnungsmacht feststellen können. Also gab es keine Hilfe, auf die der Freak hoffen konnte.

    Dupic baute sich breitbeinig vor ihm auf. Dieses Wrack zitterte am ganzen Leib. Andi starrte auf die Zange, mit der Dupic ihm schon so viel Schmerz zugefügt hatte. Und er ahnte wahrscheinlich, dass seine Qualen noch nicht beendet waren.

    „So, dann hat also dein Freund Julian den Stein geworfen?"

    Andi nickte eifrig, antwortete mit krächzender Stimme.

    „Ja, es war Julian. Das schwöre ich!"

    „Und wo finde ich diesen Hurensohn?"

    „Das weiß ich nicht, ich …"

    Dupic ließ Andi nicht ausreden, sondern schlug ihm die schwere Zange ins Gesicht. Es knackte laut, als die Nase des Freaks brach. Nun floss das Blut nicht nur von seinen Händen aus auf den Boden, sondern sickerte auch aus seiner Nase auf sein Sweatshirt. Dupic zog unheilverkündend die Augenbrauen zusammen.

    „Wir sind hier nicht in Disneyland! Glaubst du, ich lasse den Dreckskerl entkommen, der meine Braut getötet hat? Weißt du, warum Tatjana mit dem Wagen unterwegs war? Sie wollte ihr Kleid anprobieren, das sie für unsere Hochzeit ausgesucht hatte. Ich durfte es noch nicht sehen, es sollte eine Überraschung für mich werden. Sie sagte, es brächte Unglück, wenn ich es vor unserer Eheschließung anschaue. Unglück …"

    Dupic ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Dann schlug er noch einmal zu.

    „Es tut mir leid!", jaulte Andi.

    Der Killer grinste freudlos und wandte sich an seine Freunde.

    „So, es tut ihm leid. Na, wenn das so ist, dann müssen wir ihn wohl gehen lassen. Oder was meint ihr?"

    Gregor zuckte mit den Schultern.

    „Es ist deine Show, Boris."

    „Ja, damit liegst du wohl richtig", bestätigte Dupic.

    „Julian wollte abhauen, wegen der Bullen, sprudelte es aus Andi hervor. „Aber vielleicht hat er mich ja angelogen, keine Ahnung. Ich kann euch sagen, wo seine Familie lebt. Die Adresse ist Ahornweg 1 in Löhrfelden. Das Haus steht ganz dicht am Waldrand, da gibt es keine Nachbarn in der Nähe. Womöglich hat sich Julian dort im Keller verkrochen. Oder in einem Schuppen.

    „Soso, im Keller. Da sollten wir doch gleich mal nachschauen. Oder was meint ihr, Männer?"

    Gregor nickte.

    „Klingt nach einer guten Idee."

    „Und was machen wir mit dem Bastard?", wollte Eric wissen.

    „Ich werde dichthalten, darauf könnt ihr euch verlassen, beteuerte Andi. Seine aufgeplatzte Unterlippe bebte, seine Augen waren blutunterlaufen.

    „Ja, du wirst dichthalten", bestätigte Dupic. Dann zog er seine Pistole und erschoss den Gefesselten. Die Kugel drang in die Stirn. Andi kippte mitsamt dem Stuhl um. Der Killer wandte sich an seine Freunde.

    „Ihr lasst die Leiche verschwinden, kapiert? Mit ein paar Gewichten an den Füßen wird sich der Wichser problemlos bei Nacht im Rhein versenken lassen."

    „Wird erledigt, versicherte Gregor. „Und was machst du, Boris?

    Dupic schob die Pistole ins Clipholster am Gürtel zurück und reckte sich.

    „Ich brauche dringend etwas Luftveränderung, mir ist nach einer kleinen Landpartie zumute. Löhrfelden soll ja sehr schön sein, wie man hört."

    6

    Am nächsten Morgen wurde Saskia von Pressegeiern belästigt, als sie vor der Arztpraxis vom Fahrrad stieg. Irgendwie mussten die Sensationsjournalisten herausbekommen haben, dass einer der Hauptverdächtigen ihr Bruder war.

    Immerhin hatte der Oberkommissar sie am Vortag in Anwesenheit von etlichen Patienten und ihren Kolleginnen nach Julian gefragt. Wenn auch nur einer von ihnen gegenüber den Medien geplaudert hatte, war dieser Auftrieb nur allzu nachvollziehbar.

    „Wie fühlt man sich als Schwester eines Mörders?"

    „Wo versteckt sich der Brückenteufel?"

    „Was sagen Sie zu den Vorwürfen der Polizei?"

    Die Fragen der Medienmeute prasselten auf Saskia herab. Die Worte trafen sie so hart wie Keulenschläge. Aber der Mob gab keine Ruhe. Sie presste die Fäuste gegen ihre Ohren und floh förmlich in die Praxisräume. Die Journaille wollte ihr folgen, aber Dr. Bruckner stellte sich den Reportern entgegen.

    „Meine Praxis ist meinen Patienten und meinen Mitarbeitern vorbehalten. Sie haben hier nichts verloren. Gehen Sie bitte, oder ich rufe die Polizei."

    Die ruhige und bestimmte Art des Mediziners vertrieb die Sensationsjournalisten einstweilen. Saskia benötigte einige Minuten, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte.

    „Wir wissen es zu schätzen, dass Sie trotz Ihrer schwierigen Situation Ihre Pflicht erfüllen, sagte der Arzt zu ihr, und die Kolleginnen nickten zustimmend. „Wir werden alles tun, um wieder Normalität in Löhrfelden einziehen zu lassen.

    Saskia nickte und versuchte ein tapferes Lächeln, das aber wahrscheinlich eher einer Grimasse glich. Jedenfalls kam es ihr selbst so vor. Ja, auch sie wünschte sich nichts sehnlicher herbei als den ganz normalen Alltag. Aber momentan schien dieses Ziel in weite Ferne gerückt zu sein.

    Nachdem Saskia noch einmal das Beruhigungsmittel bekommen hatte, konnte sie sich während der folgenden zwei Stunden halbwegs auf ihre Arbeit konzentrieren. Die neugierigen Blicke und geflüsterten Bemerkungen der Patienten überhörte sie einfach. Sie wünschte sich Scheuklappen, so wie Turnierpferde sie trugen.

    Saskias Herz blieb beinahe stehen, als Oberkommissar Lehmann erneut die Praxis betrat. Diesmal wurde er nicht von Polizeiobermeister Schlösser begleitet. Der Kriminalist schaute sie forschend an und kam sofort zur Sache.

    „Kannte Ihr Bruder einen gewissen Andreas Brauer?"

    Saskia musste einen Moment lang nachdenken. Dann wurde ihr klar, dass Lehmann von Andi sprach.

    „Sie meinen Andi, der in dem Bauwagen im Wald lebt? Ja, Julian kannte ihn. Aber das trifft auch auf mich zu, und auf alle anderen Löhrfeldener. Andi ist ein Einsiedler, ich weiß nicht viel über ihn. Aber warum sprechen Sie in der Vergangenheitsform von ihm?"

    „Ich habe vorhin seine Behausung aufgesucht. Es gibt dort Hinweise auf einen Kampf, außerdem konnten wir Blutspuren entdecken. Wissen Sie, ob Ihr Bruder öfter mit Andreas Brauer Kontakt hatte? Gab es möglicherweise Streit zwischen den beiden Männern? Es könnte um Rauschgift gegangen sein. Betäubungsmittel sind ja Julian nicht völlig unbekannt, oder?"

    Für Saskia wurde immer deutlicher, dass sich der Oberkommissar auf Julian als Täter eingeschossen hatte. Aber obwohl sie ebenfalls von dessen Schuld überzeugt war, glaubte sie, ihren Bruder verteidigen zu müssen.

    „Warum suchen Sie Andi nicht? Er kann Ihnen Ihre Fragen bestimmt selbst beantworten. Ich habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Es können manchmal Monate vergehen, ohne dass man ihm in Löhrfelden begegnet."

    „Wir fahnden bereits nach Andreas Brauer, da können Sie unbesorgt sein, Frau Koch. Sie hatten nicht zufällig Kontakt zu Ihrem Bruder?"

    Lehmann stellte die Frage mit einem so lauernden Unterton, dass Saskia sofort das Herz in die Hose rutschte. Ob die Polizei Julian observiert hatte und von dem Treffen im Wald wusste? Nein, das war unmöglich. Die Behörden suchten fieberhaft nach ihrem Bruder und hätten ihn gewiss längst verhaftet, wenn ihnen sein Aufenthaltsort bekannt gewesen wäre.

    „Nein, ich weiß nicht, wo Julian sich aufhält."

    Und diese Aussage von Saskia war noch nicht einmal gelogen. Sie hätte natürlich dem Oberkommissar mitteilen können, dass sich ihr Bruder nach Frankreich oder Belgien absetzen wollte. Aber dann wäre sie sich wie eine Verräterin vorgekommen.

    Lehmann wirkte ohnehin nicht so, als ob er ihr glauben würde.

    „Nun gut, Frau Koch. Sie müssen wissen, was Sie tun. Ich bin sicher, dass wir sowohl Ihren Bruder als auch Andreas Brauer bald finden werden."

    Der Kriminalist drehte sich um und ging grußlos heraus. Die Information, die er hinterlassen hatte, trug allerdings nicht zu Saskias Beruhigung bei. Was hatten die Spuren in Andis Bauwagen zu bedeuten? Ob Julian auch den Freak umgebracht und die Leiche dann beseitigt hatte? Wollte er sich einen unliebsamen Mitwisser vom Hals schaffen?

    Kaum waren Saskia diese Überlegungen in den Sinn gekommen, als sie sich selbst stoppte. Sie traute es ihrem Bruder durchaus zu, aus purer Dämlichkeit eine Frau durch einen Steinwurf zu töten. Das war eine Tat, die bestens zu Julians leichtfertigem Charakter passte. Aber ein eiskalter geplanter Mord an einem Freund oder Kumpel? Das war schon eine andere Hausnummer.

    Doch wenn Julian Andi nicht getötet oder verletzt hatte, wer war es dann gewesen? Würde sich diese Person auch gegen ihren Bruder wenden?

    Oder gegen Saskia selbst oder ihre Familie?

    7

    Auch dieser Horror-Arbeitstag ging irgendwann zu Ende.

    Zu Saskias größter Erleichterung war die Medienmeute abgezogen, als sie nach Feierabend die Arztpraxis wieder verließ. Sie erwartete, dass die Journaille vor ihrem Elternhaus lauern würde. Aber zum Glück fehlte der Mob auch dort.

    Saskias Oma hatte eine einleuchtende Erklärung dafür.

    „Die Reporter haben uns tagsüber auch belagert. Kurt wollte schon mit dem Jagdgewehr nach draußen, ich konnte ihn gerade noch davon abhalten. Aber am frühen Nachmittag sind sie dann alle wie auf Kommando abgezogen. Die Erklärung hörten wir dann später im Radio. Ein Zeuge will Julian in einer Pension unweit der Grenze bei Aachen erkannt haben. Daraufhin hat sich die Karawane in die Richtung aufgemacht. Aber in den 18-Uhr-Nachrichten kam die Meldung, dass sich dieser Verdacht nicht bestätigt hätte. Womöglich haben wir die Bagage also morgen wieder am Hals."

    „Dann werden diese Dreckskerle schon eine passende Antwort von mir bekommen, stieß Saskias Opa grollend hervor. „Was für eine Unverschämtheit, unschuldige Menschen zu belästigen.

    Da erklang plötzlich eine unbekannte Männerstimme.

    „Unschuldig? Sie haben ein Monster großgezogen."

    Saskia erschrak beinahe zu Tode. Der Fremde musste durch die Tür aus Richtung Garten hereingekommen sein. Sie war meist unverschlossen, was sich nun als Fehler erwies. Der Mann hatte einen rasierten Schädel und einen dunklen Vollbart. Er trug Jeans und Lederjacke. Und obwohl er keine drohende Haltung einnahm, wirkte er auf Saskia unheimlich. Diese Reporter waren einfach nur lästig gewesen. Dieser Kerl kam ihr hingegen sehr gefährlich vor.

    Auch ihre Großeltern waren von dem unerwünschten Besuch völlig überrascht worden. Kurt Koch sprach den Bärtigen an: „Was fällt Ihnen ein, so einfach in ein fremdes Haus einzudringen?"

    Saskias Opa zeigte keine Angst, was sie beeindruckend fand. Ihrer Oma hingegen stand die Furcht ins Gesicht geschrieben, und ihr selbst ging es gewiss nicht anders. Darüber machte sich Saskia keine Illusionen.

    Der Mann zuckte mit den Schultern.

    „Zugegeben, ich hätte nicht einfach hereinkommen sollen. Aber ich bezweifele, ob Sie mich in Ihr Haus gebeten hätten. Ich heiße Boris Dupic. Und ich bin der Verlobte von Tatjana Keller. Falls Ihnen der Name nichts sagt: So hieß die Frau, der von Ihrem Enkel der Schädel zertrümmert wurde."

    Ein leiser Schmerzenslaut drang aus Großmutters Kehle. In ihren Augen glänzten Tränen. Und auch Saskia fühlte sich miserabel. Sie empfand einerseits Mitleid, doch andererseits versetzte die pure Anwesenheit Dupics sie in Panik. Er sprach wie ein Roboter in einem Science-Fiction-Film. Sie hätte diesen Mann besser ertragen können, wenn er irgendeine Art von Gefühl gezeigt hätte. Es kam Saskia so vor, als ob bei ihm jede Empfindung abgestorben sei. Vor ihr stand jemand, der buchstäblich nichts mehr zu verlieren hat.

    Opa atmete tief durch.

    „Wir bedauern zutiefst, was geschehen ist. Aber noch gibt es keinen Beweis dafür, dass Julian etwas mit diesem schrecklichen Unglück zu tun hat."

    Dupic schüttelte den Kopf.

    „Sie sprechen von einem Unglück, für die Polizei ist es Mord. Und wenn Ihr Enkel so unschuldig ist, dann kann er mir ja ins Gesicht sagen, was für eine Rolle er gespielt hat. Wo ist der Chorknabe? Haben Sie ihn vielleicht im Keller versteckt?"

    Tatjana Kellers Verlobter drehte seinen mächtigen Schädel langsam hin und her, als ob er mit Röntgenblicken durch die Wände schauen könne.

    „Nein, Julian hält sich nicht hier im Haus auf. Wir kennen seinen Aufenthaltsort nicht. Und ich muss Sie nun bitten, zu gehen", sagte Kurt Koch. Aber es war, als ob Dupic nicht zugehört hätte. Er wandte sich nun an Saskia.

    „Stimmt es, was dein Großvater sagt, Saskia? Hast du auch keine Ahnung, wo sich dein Bruder verkrochen hat? Hilfst du ihm vielleicht heimlich? Oder triffst du ihn auf dem Weg von deinem Zuhause zur Praxis von Dr. Bruckner? Ich weiß nämlich, wo du arbeitest. Und ich kenne auch die Namen und Adressen deiner Freundinnen."

    Es kam Saskia so vor, als ob plötzlich die Zeit stillstehen würde. Und einen verrückten Moment lang fragte sie sich, ob Dupic sie durchschaut hatte. Aber er konnte doch unmöglich wissen, dass sie sich mit Julian getroffen hatte! Oder?

    Opas Stimme riss Saskia aus ihren Grübeleien.

    „Sie drohen meiner Enkelin nicht, kapiert? Gehen Sie jetzt endlich, oder ich rufe die Polizei!"

    Dupic hob beschwichtigend die Handflächen und grinste breit.

    „Schon gut, ich verschwinde. Aber Sie sollten mir nicht drohen. Wenn Sie einen Verbrecher decken, machen Sie sich nämlich mitschuldig."

    Der unheimliche Kerl drehte sich um und verließ das Haus. Saskia fand es bemerkenswert, dass ein so großer und schwerer Mann sich fast lautlos bewegen konnte. Wenn er sich einmal an sie heranschleichen sollte, würde sie ihn wahrscheinlich nicht rechtzeitig hören.

    Sie schüttelte sich, um diesen Gedankengang abzustreifen.

    „Warst du nicht zu hart, Kurt?, fragte Oma, die sichtlich um Fassung rang. „Immerhin hat der Ärmste seine Braut verloren. Er ist gewiss vor lauter Leid und Schmerz außer sich.

    „Das gibt ihm aber noch lange nicht das Recht, uns zu bedrohen!, betonte Großvater. „Glaub‘ mir, ich kenne die Sorte. Dupic ist ein Gewaltmensch, der darauf baut, seine Umgebung einzuschüchtern. Ich hatte solche Typen auch in meiner Einheit. Man darf sich gar nicht erst von ihnen das Handeln diktieren lassen, sonst hat man verloren. Bei uns kamen diese Kerle schon bei der kleinsten Verfehlung vor ein Truppendienstgericht. Das hat immer geholfen.

    Opa war vor seiner Pensionierung Oberst bei der Bundeswehr gewesen. Es beruhigte Saskia, ihn in ihrer Nähe zu haben. Auf einen anderen Schutz konnte sie sich offenbar nicht verlassen. Ihr Blick schweifte zu Rowdy, dem irischen Wolfshund der Familie. Er hatte Dupics Besuch aus sicherer Entfernung verfolgt, während er weiterhin in seiner gewohnten Ecke lag und noch nicht einmal angeschlagen hatte.

    Es war, als ob ihr Großvater Saskias Gedanken gelesen hätte.

    „Rowdy ist kein Hund, sondern ein Teddybär. Ich fürchte, für die Bewachung unseres Hauses ist er denkbar ungeeignet. Bitte schließt ab sofort alle Türen ab und lasst kein Fenster unbeaufsichtigt offenstehen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Dupic nicht so leicht aufgeben wird."

    Saskia begriff allmählich, was Opas Worte zu bedeuten hatten. Und sie spürte, dass ihre Angst allmählich durch Zorn überlagert wurde. Das war ein sehr gutes Gefühl.

    „Also müssen wir uns vor Dupic verkriechen? Und wie lange soll das so weitergehen? Wir können uns nicht darauf verlassen, dass Julian irgendwann wieder auftaucht."

    „Der kommt schon zurück, meinte Kurt Koch. „Er hat schließlich kein Geld.

    Saskia lag die Bemerkung auf der Zunge, dass man sich mit 1.000 Euro schon einige Zeit über Wasser halten konnte. Aber sie konnte sich gerade noch rechtzeitig zurückhalten, bevor ihr dieser Satz herausrutschte.

    „Wir müssen die Polizei benachrichtigen, entschied Großvater. „Die Beamten sollten wissen, dass wir von diesem Dupic belästigt wurden.

    „Ist das denn wirklich notwendig?, fragte Oma. Sie zauderte. „Der Mann ist doch schon gestraft genug dadurch, dass seine Braut … verstorben ist.

    Opa schüttelte den Kopf, während er seine Schuhe anzog.

    „Es ist eine Frage des Prinzips, Marlies. Wenn du solchen Menschen gegenüber eine Schwäche zeigst, hast du keine Chance mehr. Dupic muss verstehen, dass wir uns von ihm nicht terrorisieren lassen."

    „Ich habe aber Angst, wenn du fortgehst!", platzte Oma heraus.

    „Aber es dauert nur ein paar Minuten, und Saskia bleibt doch daheim, nicht wahr? Und dann ist da auch noch Rowdy."

    Allerdings waren weder Kurt Kochs Enkelin noch der lammfromme Wolfshund im Ernstfall ein brauchbarer Schutz. Das musste auch Saskias Opa klargeworden sein, noch während er sprach.

    Da ergriff Saskia die Initiative.

    „Ich könnte zur Polizeistation fahren", bot sie an.

    „Und wenn wir einfach nur dort anrufen?", wandte ihre Großmutter ein.

    „Das funktioniert nicht, erklärte Opa. „Wenn wir Dupic wegen Hausfriedensbruch anzeigen, dann muss man die Strafanzeige auch unterschreiben.

    Über diese Konsequenz hatte sich Saskia noch gar keine Gedanken gemacht. Wenn dieser unheimliche Gewaltmensch erfuhr, dass sie ihn bei den Behörden angeschwärzt hatte, dann würde sie noch mehr von seinem Hass auf sich ziehen. Falls das überhaupt möglich war. Aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

    Obwohl Saskia von dem Besuch des Schwarzbarts immer noch weiche Knie hatte, griff sie zu ihrer Jacke.

    „Ich erzähle den Polizisten, was geschehen ist und kehre gleich zurück."

    „Sei vorsichtig, Kind", mahnte ihre Oma. Dann trat Saskia durch die Vordertür in den großen unübersichtlichen Garten. Sie zögerte einen Moment lang. Wenn sich nun Dupic hinter einem der großen Apfelbäume verbarg, um ihr den Hals umzudrehen?

    Es dämmerte bereits, die Schatten wurden länger. Hatte sich gerade jemand hinter die Zierhecke an der westlichen Gartenseite geduckt? Saskia erkannte, dass sie hysterisch zu werden drohte. Sie zwang sich dazu, einfach nur ihr Fahrrad aus dem Schuppen zu holen. Dann aktivierte sie die Fahrradlampe und trat kräftig in die Pedale. Auf der schmalen Asphaltstraße am Ortsrand war sie zunächst ganz allein. Nur ihr Radlicht bewegte sich wie ein fahler heller Balken vor ihr her.

    Es waren mit dem Rad höchstens sechs oder sieben Minuten bis zur Polizeistation. An der Kreuzung mit dem Adenauerring bog plötzlich ein Auto hinter ihr ab. Saskia warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Sie hatte den Wagen noch nie zuvor gesehen. Es war ein fetter dunkler SUV mit getönten Scheiben. Genau so ein Auto passte ihrer Meinung nach zu Dupic. Ob der Mann wirklich hinter dem Lenkrad saß? Erkennen konnte sie nichts. Es wäre sehr einfach, Saskia zu rammen und zu überfahren. Weit und breit war keine Hilfe in Sicht.

    Saskia wurde schneller, trat aus Leibeskräften. Aber gegen die PS-starke Maschine hatte sie keine Chance. Der Motor heulte auf, die SUV-Scheinwerfer ließen Saskias Umgebung plötzlich taghell erscheinen. Das Licht blendete sie. Es war viel heller als das ihrer Radleuchte.

    Sie presste die Lippen aufeinander, erwartete den Zusammenstoß, den unvermeidlichen Schmerz.

    Aber das geschah nicht. Stattdessen überholte der SUV sie mit dem vorschriftsmäßigen Sicherheitsabstand. Der Fahrer setzte den Blinker und bog bei der Tankstelle an der Rheingaustraße nach links ab. Wenig später war das Auto verschwunden wie ein böser Traum.

    Saskias Hände schmerzten, weil sie ihre Finger so fest um den Lenker gekrampft hatte. Ihr Herz raste, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie führte sich vor Augen, dass es nicht den geringsten Beweis dafür gab, dass Dupic in dem SUV gesessen hatte. Das Nummernschild war nicht zu erkennen gewesen, der Überholvorgang hatte ja nur wenige Sekunden gedauert.

    Mach dich nicht verrückt! Sagte sie zu sich selbst. Saskia beobachtete ihre Umgebung genau. Aber sie konnte das Fahrzeug nirgendwo mehr entdecken. Wenig später hatte sie endlich die kleine Polizeistation von Löhrfelden erreicht.

    Als Saskia das Wachlokal betrat, erblickte sie sofort Polizeiobermeister Schlösser. Er nickte und warf ihr einen fragenden Blick zu.

    „Guten Abend, Frau Koch. Haben Sie etwas von Ihrem Bruder gehört?"

    Sie schüttelte den Kopf. Nach wie vor hatte sie ein mulmiges Gefühl dabei, die Ordnungsmacht zu belügen. Aber wenn sie die Wahrheit sagte, konnte sie sich auf eine Anklage wegen Beihilfe gefasst machen.

    „Nein. Aber ich möchte jemanden wegen Hausfriedensbruchs anzeigen", erwiderte sie mit fester Stimme. Dann berichtete sie dem Beamten von dem unerwünschten Besuch durch Dupic. Schlösser schrieb mit.

    „So, dann hat sich also Dupic bei Ihnen gemeldet …"

    Saskias Herzschlag beschleunigte sich noch weiter.

    „Dieser Name sagt Ihnen etwas, nicht wahr? Ist dieser Mann gefährlich? Hat er Vorstrafen?"

    „Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Ich habe die Anzeige aufgenommen, Frau Koch. Lesen Sie sich bitte die Angaben noch einmal durch und unterschreiben Sie dann dort unten."

    Saskia überflog die Zeilen und versah das Blatt Papier schließlich mit ihrem Namen. Dabei fühlte sie sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Und sie wunderte sich auch nicht darüber, dass ihre Hand zitterte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

    „Wie geht es jetzt weiter, Herr Schlösser?"

    „Da Boris Dupic in Köln wohnhaft ist, werde ich mich mit den dortigen Kollegen in Verbindung setzen. Dann bekommt der Beschuldigte Post von der Staatsanwaltschaft und wird zur Vernehmung aufs Präsidium vorgeladen."

    „Das ist alles? Saskia konnte es nicht glauben. „Dieser Mann hat uns bedroht! Bekommen wir keinen Polizeischutz?

    „Hat Boris Dupic eine konkrete Morddrohung gegen Sie oder Ihre Verwandten ausgesprochen? Wurde er gewalttätig, nachdem Ihr Großvater ihn des Hauses verwiesen hat?"

    „Das nicht, aber …"

    Saskia wollte sagen, dass ihr allein schon die Anwesenheit von Dupic Übelkeit verursacht hatte. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Polizeiobermeister sich von solchen Gefühlen beeindrucken ließ. Außerdem musste sie einräumen, dass er nur seinen Job machte. Objektiv gesehen wäre es völlig übertrieben gewesen, die Villa durch mehrere bewaffnete Beamte schützen zu lassen. Und doch hatte sich Saskia genau das gewünscht.

    Sie hatte ihren Satz nicht beendet und bemerkte, dass der Dorfpolizist sie immer noch forschend anschaute.

    „Es wäre am besten, wenn sich Julian stellen würde, nicht wahr?"

    „Sie sagen es, Frau Koch. Ich kenne Sie und Ihren Bruder jetzt schon seit vielen Jahren. Sie waren immer die Vernünftige und Julian der Traumtänzer. Sie haben doch gewiss noch Einfluss auf ihn, immerhin sind Sie seine große Schwester. Bewegen Sie ihn bitte zum Aufgeben, falls er Kontakt mit Ihnen aufnimmt. Je länger Julian sich der Festnahme entzieht, desto schlimmer wird seine Situation. Schlösser machte eine kurze Pause, bevor er weiterredete: „Und in der Untersuchungshaft können wir Ihren Bruder vor Dupic schützen. Das ist nicht möglich, wenn er auf sich allein gestellt durch die Welt geistert.

    Saskias Kehle fühlte sich völlig ausgetrocknet an. Dennoch schaffte sie es, einen Satz hervorzubringen.

    „Dupic will Julian töten, nicht wahr?"

    „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Oberkommissar Lehmann kennt den Bräutigam des Opfers viel besser als ich. Aber er hält Dupic ganz gewiss nicht für einen unschuldigen Chorknaben."

    Darüber hätte sich Saskia auch sehr gewundert. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig als sich zu bedanken und nach Hause zurückzukehren. Auf dem kurzen Weg zur Villa drehte sie sich mindestens ein Dutzend Mal um.

    8

    Saskia berichtete ihren Großeltern von dem Besuch auf der Polizeiwache. Dabei versuchte sie, sich ihre Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Immerhin hatte sie sich getraut, die Anzeige aufzugeben. Deshalb war sie ein wenig stolz auf sich. Die Frage war nur, ob es überhaupt etwas nutzen würde.

    Plötzlich wurde sie von einer bleiernen Müdigkeit übermannt. Der Psychostress forderte nun in Form von körperlicher Erschöpfung seinen Tribut.

    „Ich haue mich aufs Ohr, ich wünsche euch eine gute Nacht", sagte sie zu Oma und Opa. Marlies versuchte, Saskia zu einem späten Abendessen zu überreden, aber sie lehnte dankend ab. Saskia bekam jetzt wirklich keinen Bissen mehr herunter. Sie wollte nur noch die Augen schließen und die bedrohliche Welt um sie herum für einige Stunden vergessen.

    Nachdem sie sich ausgezogen und nachtfertig gemacht hatte, löschte sie die Lampe neben ihm Bett und zog sich die Zudecke bis an die Kinnspitze.

    Aber der ersehnte Schlaf blieb zunächst aus.

    Leise TV-Geräusche zeugten davon, dass die Großeltern sich noch im Wohnzimmer aufhielten. Sie würden vermutlich die Nachrichten schauen. Ob die Kriege, Krisen und Konflikte aus aller Welt sie von den eigenen Sorgen und Problemen ablenken konnten? Saskia hatte daran ihre Zweifel. Und sie war hundertprozentig sicher, dass es für kaum einen Menschen auf der Welt etwas Dringenderes gab als den Schutz der eigenen Familie vor Bedrohungen.

    Und zu dieser Familie zählte in ihrem Fall Julian. Auch, wenn sie es eigentlich nicht wahrhaben wollte. Immer wieder grübelte sie über die Frage nach, warum er den Stein geworfen hatte. Aber eigentlich war es Zeitverschwendung, solche Überlegungen anzustellen. Julian tat viele Dinge, die er selbst nicht überzeugend erklären konnte.

    Das war ja das Grundproblem seines Lebens, und er …

    Ein seltsamer Ton unterbrach Saskias Gedankengang. Er kam von irgendwo her, aber nicht aus dem Wohnzimmer. Sie lebte in

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