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Blutschuld: Ein Hadessphere-Roman
Blutschuld: Ein Hadessphere-Roman
Blutschuld: Ein Hadessphere-Roman
eBook677 Seiten9 Stunden

Blutschuld: Ein Hadessphere-Roman

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Über dieses E-Book

Chris Delaire, Sänger einer erfolgreichen Rockband, überlebt einen Motorradunfall, bei dem sein Freund Charles stirbt. Chris hat keine Erinnerung an den Unfall, um so mehr jedoch an einen erbitterten Streit mit Charles. Wie die Öffentlichkeit auch, gibt er sich die Schuld an Charles' Tod und er sucht Vergessen im Alkohol. Als ihm plötzlich ein Engel erscheint, wähnt er sich bereits im Delirium.
Doch Faye ist kein Engel, sondern eine Frau auf der Flucht und das Letzte, was sie gebrauchen kann, sind noch mehr Probleme. Aber gerade die handelt sie sich mit dieser Begegnung ein, angefangen bei der ungewollten Faszination, die der charismatische Star auf sie ausübt, über die Konfrontation mit ihrer unbewältigten Vergangenheit bis zu der Lebensgefahr, in die sie die Geheimnisse um die verhängnsivolle Nacht bringen, in der Charles Hayden starb.

Dritter Roman der Hadessphere-Reihe.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. Aug. 2016
ISBN9783955002251
Blutschuld: Ein Hadessphere-Roman

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    Buchvorschau

    Blutschuld - Charlott E. Martin

    Prolog

    Der Raum lag im Halbdunkel. Die Luft war zum Schneiden dick, vollgesogen mit Schweiß und Alkohol. Die Fenster waren geschlossen und schwere, bodenlange Vorhänge schlossen das Licht des sonnendurchfluteten Nachmittags aus. Lediglich zwei kleine, in die entferntesten Winkel des Raumes verbannte, Lampen verbreiteten ihren matten Schein, der jedoch kaum mehr als die unmittelbare Umgebung der Lichtquellen erhellte.

    Auf einem Sessel aus tabakbraunem Leder saß, vielmehr hing ein Mann, die langen Glieder schlaff von sich gestreckt. Hellblondes Haar hing in langen verschwitzten Strähnen über sein Gesicht. Er bewegte sich nicht, schien nicht einmal zu atmen.

    Chris Delaire wusste nicht, wie lange er schon hier saß, ob es Tag oder Nacht war - es interessierte ihn nicht. Es war in Ordnung so, solange sie ihn nur in Ruhe ließen, mit ihrem Mitleid, ihrer Besorgnis, ihren guten Ratschlägen. Er wollte niemanden sehen, nicht seine Eltern und nicht den kläglichen Rest, der ihm von seinen vielen Freunden geblieben war. Wie er es hasste, wenn sie auftauchten, auf ihn einredeten und ihn aufzurütteln versuchten; er hasste es noch mehr, wenn sie versuchten, ihn zu trösten, ihn tätschelten oder umarmten. Anfangs hatte es Ewigkeiten gedauert, bis sie aufgaben und wieder verschwanden, aber nach und nach waren die Besuche kürzer geworden und seltener, bis schließlich nur noch seine Mahlzeiten zu ihm gebracht wurden, die er unberührt ließ und die hochprozentigen Tröster, die er dringender brauchte, als die Luft zum Atmen. Nur wenn er genug trank, gelang es ihm, zu vergessen. Dann war er nur noch Gast in seinem Körper, ein unbeteiligter Zuschauer, der jedem Schluck nachsann, wie er sich durch seine Kehle bis in seinen Magen brannte und sich von dort als wohlige Wärme ausbreitete, die ihn einhüllte, wie in einen dichten warmen Kokon und ihn blind und taub und müde machte. Dann war er frei. Dann starrte er aus Augen, die ihm nicht mehr gehorchten auf eine Wand, die ihn einen Dreck interessierte und fühlte - nichts. Es war der erträglichste Zustand, den er erreichen konnte, warum konnten sie das nicht akzeptieren?

    Aber das Vergessen entfernte sich mit jedem Tag weiter von ihm und wenn die Realität ihn wieder einholte, brauchte er noch mehr Alkohol für den Sprung zurück. Aber er hatte Pläne. Irgendwann, wenn der Alkohol allein nicht mehr wirkte, würden ihm die kleinen blauen Pillen helfen, die er immer bei sich trug. Niemand wusste, dass er sie hatte; er wollte keine Fragen beantworten, sich nicht rechtfertigen müssen. Immerhin war es gut zu wissen, dass er Freunde hatte, die wussten, was er brauchte.

    Er hatte das Tablettendöschen schon einige Male geöffnet, aber es dann wieder zurück in seine Hosentasche gesteckt. Irgendwie scheute er vor dieser letzten Zuflucht zurück. In der Klinik hatten sie ihm anfangs genug Schmerz- und Beruhigungsmittel gegeben, um ihn in einem schmerzlosen dunklen Schwebezustand zu halten, aber irgendwann hatten sie die Medikamente reduziert und sobald er wieder einigermaßen bei sich gewesen war, hatten die Albträume angefangen. Seitdem drehte er sich in einer endlosen Spirale aus Angst und Albträumen, aus der es kein Entkommen gab. Er wollte nicht schlafen, nicht träumen, nicht schweißnass und schreiend aufwachen, aber er wollte auch nicht wach sein, weil dann die Erinnerungen kamen und die Schuldgefühle. Er wollte doch nur die Dunkelheit zurück, nichts sehen, nichts wissen, nichts fühlen und die Tabletten versprachen genau das. Aber wenn sie nicht hielten, was er sich erhoffte oder alles noch schlimmer machten? Sollte er nicht lieber gleich allem ein Ende machen? Früher oder später würde er es ohnehin tun. Warum nicht gleich?

    Er tastete nach der Flasche, die griffbereit neben ihm auf dem Boden stand und nahm einen Schluck. Den Umweg über ein Glas ersparte er sich schon seit geraumer Zeit.

    Schritte knallten auf dem Gang vor seinem Zimmer, schnell, hart, entschieden. Chris runzelte die Stirn. Nicht schon wieder! Hoffnung, dass die Schritte an seiner Tür vorbeigehen würden, hatte er nicht. Ins obere Stockwerk kam nur, wer zu ihm wollte.

    Die Schritte stoppten, die Tür barst auf und prallte zitternd gegen die Wand. Ein weißer Lichtstreifen stach durch die Dämmerung. Chris blinzelte irritiert. Das war neu. Bis jetzt hatten sie die Tür lautlos und vorsichtig geöffnet, um ihn nicht zu erschrecken oder aufzuregen. Einen flüchtigen Blick lang sah er die schwarze Silhouette eines hochgewachsenen, schlanken Mannes im hellen Rechteck der Tür. Rafael, schoss es ihm in den Sinn, dann flammte die Deckenbeleuchtung auf.

    Chris rollte sich stöhnend in einer Sesselecke zusammen und kniff die Augen zusammen, weil die Lichtstrahlen durch seine Netzhaut direkt in sein Gehirn zu schießen schienen. Wütend schleuderte er seine halbleere Flasche gegen den Eindringling. Die Flasche zerschellte weit neben der Tür an der Wand, Scherben prasselten wie Hagel auf die Steinfliesen.

    „Du hast nachgelassen. Rafael „Viper Estes klang unbeeindruckt. „Das letzte Mal hast du wenigstens noch die Tür getroffen."

    Chris barg sein Gesicht noch tiefer in seinen Armen. Er war lange genug mit Rafael „Viper Estes befreundet, um zu wissen, dass er ihn so einfach nicht wieder loswerden würde. Rafael war ein harter Hund, einer, den man gerne an der Seite hatte, wenn es zu einer Konfrontation kam, der sich nie durch übermäßige Liebe für seine Mitmenschen hervorgetan hatte, aber seit dem Unfall schien er zu einer richtigen Glucke zu mutieren. Aber es interessierte ihn einen Dreck. Beides. Den Unterarm über die Augen gepresst würgte er ein undeutliches „raus!, hervor.

    „Keine Chance, Steel. Ich gehe erst, wenn ich hier fertig bin. Es sei denn, du findest etwas besseres, als das eben, um mich rauszuwerfen."

    Chris riskierte einen misstrauischen Blick. Rafael sah aus, wie immer, ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans, die Armani auf seinen schlanken, durchtrainierten Körper gesprüht zu haben schien und Bikerboots mit Silberkappen. Seine nachtschwarzen Locken waren streng aus seiner Stirn gebürstet und mit einem Lederband im Nacken zusammengebunden, von wo aus sie ihm weit über seinen Rücken fielen. Ohne eine Miene zu verziehen begegnete er seinem Blick aus schmalen, frostgrünen Augen, nüchtern, unbewegt, bedrohlich - wie immer also. Als ob nichts geschehen wäre. Als ob nicht vor drei Monaten auch sein Leben auf den Kopf gestellt worden wäre. Vor drei Monaten waren sie Mitglieder einer der erfolgreichsten Rockbands der Welt gewesen - es schien Jahrhunderte her. Es war nur ein Wimpernschlag gewesen, eine Entscheidung zwischen Schwarz und Weiß. Schwarz hatte gewonnen. Nicht die Laune einer Schicksalsgöttin, nicht das Fallen eines Würfels in einem kosmischen Spiel hatte alle ihre Pläne, ihre Hoffnungen und ihre gesamte Zukunft zerstört, sondern er. Er und sein verdammtes Temperament, er und sein Jähzorn, dessen er nie Herr geworden war. Oh, Gott! Nicht daran denken, nicht zurücksehen, nicht die Bilder, die immer wieder gleichen, schrecklichen Bilder.

    Chris schauderte, als kalter Schweiß in Rinnsalen über sein Gesicht lief. Seine Muskeln verkrampften sich und seine Hände zitterten. Er wollte nicht, dass Rafael es bemerkte. Chris verschränkte die Arme und barg seine Hände unter seinen Achseln. Aber Rafaels Auftauchen hatte die Bilder in seinem Gehirn in Gang gesetzt, den Horrorfilm, der sich seit Wochen immer und immer wieder vor seinem inneren Auge abspulte: Es war eine fröhliche Party zur Feier ihres neuen Albums gewesen. Irgendwann hatten er und Charles sich in die Wolle gekriegt. Ihr lange schwelender Konkurrenzkampf um Joan war eskaliert. Sie hatten sich angeschrieen, beschimpft und sich wilde Drohungen an den Kopf geworfen. Sie waren beide Hitzköpfe und hatten sich schon früher erbittert um Nichtigkeiten gestritten, aber sie hatten sich immer schnell beruhigt und wieder vertragen. So war es auch an jenem Abend gewesen. Gott, Charles hatte ihn sogar damit aufgezogen, dass er, Chris, zwar für vieles Preise bekommen würde, nie jedoch für seine Selbstbeherrschung. Sie hatten ein bisschen gerangelt, sich spielerisch in die Rippen geboxt und sich auf ihre Motorräder gesetzt um zu Joan zu fahren. Auf dem Weg hatten sie noch gelacht, eine dumme Wette abgeschlossen und dann.... Nein! Nicht daran denken, nicht daran, nicht jetzt!

    Rafael setzte sich in den Sessel Chris gegenüber und lehnte sich zurück. Er zuckte zusammen, zog eine Grimasse und fischte hinter seinem Rücken zwei leere Flaschen hervor, die er mit spitzen Fingern zu Boden fallen ließ.

    Chris fluchte. Das Klirren von Glas auf den Steinfliesen schrillte erbarmungslos in seinen Ohren. Er drückte sich tiefer in seine Sesselecke und barg sein Gesicht in seiner Armbeuge.

    „Wie lange willst du noch so weitermachen?", fragte Rafael ruhig.

    Chris antwortete nicht. Er wollte Dunkelheit und Stille, er wollte allein sein und seinen Gedanken dabei zusehen, wie sie aus seinem Kopf rieselten und in der leisesten Brise davonschwebten. Wenn er Rafael lange genug ignorierte, würde er vielleicht gehen. Irgendwo musste noch eine volle Flasche sein. Er brauchte jetzt dringend einen Schluck.

    Er rang mit sich, ob er warten oder der inneren Leere nachgeben und nach der Flasche suchen sollte, als ihn harte Hände ihn an den Handgelenken zerrten, bis er aufrecht saß.

    „Was soll das?" Chris blinzelte verstört, als er Rafaels Gesicht sah. Trauer hatte die gleichmütige, allzu beherrschte Maske, die immer Rafaels Markenzeichen gewesen war, von seinem Gesicht gewaschen. Seine sonst gletscherkalten Augen zeigten so tiefe Besorgnis, dass Chris sein Gesicht abwenden musste. Rafael hatte jedes Recht, wütend zu sein – auf ihn wütend zu sein, er dagegen hatte jeden Anspruch auf jedwede Besorgnis verwirkt.

    „Steel, verdammt noch mal: Charles ist tot!" Rafael sprach langsam, deutlich, wie zu einem Kind.

    „Er", sagte er betont langsam und schüttelte Chris so heftig, dass sein Kopf auf seinen Schulter herumtaumelte.

    „Ist." Wieder ein Schütteln, noch heftiger. Chris wollte sich wehren, aber es gelang ihm noch nicht einmal, eine Hand zu heben.

    „Tot!"

    Klar, brutal und auf den Punkt. Euphemismen wie „er ist von uns gegangen" existierten in Rafaels Wortschatz nicht.

    Chris schluckte. Er wusste besser als jeder andere, dass Charles nicht sanft und würdevoll entschlafen, sondern jämmerlich im Straßengraben verreckt war.

    Rafael seufzte. Immerhin hörte er auf, ihn zu schütteln. Aber er gab nicht auf, sondern starrte ihn an und versuchte, seinen Blick festzuhalten. Wollte er ihn hypnotisieren oder einschüchtern? Keine Chance. Oder wollte er versuchen, etwas von dem zu finden, was ihn einmal ausgemacht hatte? Oh, hier ist noch ein Rest Willen, dort ein Funken Selbstbewusstsein und ganz weit hinten eine Prise Temperament? Viel Glück beim Suchen.

    Rafael versuchte es erneut: „Du kannst dich nicht ewig gegen die Wahrheit stemmen. Er ist tot und du bringst ihn nicht wieder zurück!"

    Chris lachte bitter. „Meinst du, ich weiß das nicht? Ich sehe es vor mir, in jeder einzelnen, verfluchten Minute eines jeden einzelnen, verfluchten Tages. Ich sehe es wenn ich wach bin und es verfolgt mich bis in meine Träume und ich werde es noch sehen, wenn ich deswegen in der Hölle schmore. Also erzähl mir nichts von vergessen! Ich muss damit klarkommen und ich muss mich für seinen Tod verantworten. Ich, nicht du, nicht irgendwer! Also verschwinde, lass mich allein!"

    „Du kannst dich wieder an den Unfall erinnern?"

    Rafael beugte sich zu Chris, bis ihre Nasen sich fast berührten und zwang ihn so, seinen Augen zu begegnen. „Woran genau?"

    Chris zerrte an Rafaels Griff, doch seine Handgelenke waren wie in eisernen Zwingen eingespannt. Er wand sich, zog, zerrte, doch Rafael gab nicht nach.

    „Verdammt, lass mich los!" Er wollte sich auf Rafael stürzen, ihn zum Schweigen bringen, ihn... - er wusste nicht, wie, aber er wollte es beenden, den Schmerz, die Angst, das unendliche, hilflose Warten.

    Etwas blitzte in Rafaels kühlen Augen auf, Erwartung, ein Hauch von Hoffnung. „Kannst du dich erinnern? Was ist geschehen? Red mit mir."

    Chris fauchte, wie ein gefangenes Raubtier. Er wollte weg, wollte seine Hände zurück, aber er wand sich in Rafaels Griff so hilflos wie in seinen Erinnerungen.

    „Ich weiß nichts", würgte er heraus, als er keine Kraft mehr hatte. Seine Erinnerung brach irgendwann auf der Fahrt die Küstenstraße entlang abrupt ab und setzte genau so abrupt wieder in einem Gestrüpp unterhalb einer Böschung ein. Dazwischen war schwarze Leere. Er hatte keine Erinnerung an den Unfall und auch nicht daran, was unmittelbar davor geschehen war, aber es gab etwas, über das er noch zu niemandem gesprochen hatte: Die Erinnerung daran, dass Charles im Wissen gestorben war, dass er ihn getötet hatte.

    „Wenn du den Quatsch aus der Presse gelesen hast, vergiss ihn gleich wieder, unterbrach Rafael seine schweifenden Gedanken. „Du bist nicht schuld an Charles’ Tod! Lass dir das nicht einreden. In der Klinik haben sie Alkoholtests gemacht und danach hattet ihr beide an jenem Abend nichts getrunken. Das ist Fakt. Und selbst wenn es so gewesen wäre: Du fährst betrunken immer noch besser, als die meisten anderen nüchtern. Es gibt nichts, was man dir anhängen könnte. Dein Anwalt sieht es genauso. Nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen wird keine Anklage gegen dich erhoben. Es war ein Unfall.

    Chris winkte müde ab. „Wen interessiert das?"

    „Mich! Rafael schüttelte ihn erneut. „Herrgott, wach endlich auf! Charles war auch mein Freund und ich vermisse ihn, aber ich will nicht noch einen Freund verlieren. Verstehst du mich? Ich will dich nicht auch noch verlieren! Also reiß’ dich zusammen. Dein elendes Selbstmitleid geht mir endgültig auf den Sack.

    Chris fuhr auf. Flüche, Drohungen und Beschimpfungen sprudelten aus ihm heraus, wie Blut aus einer Wunde - und Wut, unendliche, hilflose Wut.

    Rafaels Mundwinkel kräuselten sich zum Hauch eines Lächelns. „Nett. Sogar ziemlich kreativ - dafür, dass du dich seit Wochen im Vollsuff befindest. Jetzt, nachdem du einigermaßen ansprechbar bist, sag mir: Denkst du nebenbei eigentlich daran, was um dich herum vorgeht? An deine Eltern, die mit ihren Nerven am Ende sind? Oder an deine Freunde, den Rest, den du nicht vergrault hast, die sich nicht trauen, einen Fuß über deine Schwelle zu setzen oder an deine Angestellten, die verheult herumlaufen, als ob du bereits tot wärst?

    Chris hatte keine Wahl, er musste den Wortschwall über sich ergehen lassen, ohne Rafael Einhalt gebieten zu können. Zwar hörte er die einzelnen Worte, doch wurde er von ihrer Masse derart überschwemmt, dass ihm der Sinn immer wieder entglitt. Entschlossen klammerte er sich an den einzigen Schwachpunkt, den er glaubte, ausmachen zu können: „Wylie nicht."

    Er hatte Wylie als lebendes Inventar übernommen, als er sein Haus gekauft hatte. Seitdem hatte Wylie die Aufgaben eines Butlers, Haushälters oder Leibwächters übernommen - was gerade benötigt wurde. Derzeit bestanden Wylies Aufgaben darin, ihm Besucher vom Hals zu halten und dafür zu sorgen, dass sein Bourbon nicht ausging. Wylie tat, was er ihm auftrug so, wie er es ihm auftrug, ohne zu jammern, mitleidig zu seufzen oder gute Ratschläge zu erteilen. Falls er überhaupt zu Gefühlen fähig war, verwahrte er die in seinem Nachtschrank. Eigenartig, er hatte noch nie darüber nachgedacht, was die rundliche, stets gut gelaunte, Rosita Wylie wohl dazu bewogen hatte, mit einem Roboter vor den Altar zu treten.

    Rafael holte ihn brüsk in die Wirklichkeit zurück. „Wylie ist nicht unser Thema. Wir reden über dich und darüber, dass du aus dieser stinkenden Gruft heraus musst."

    Chris hob uninteressiert eine Schulter. Seine Zuflucht war ein ungenutztes Zimmer am Ende des Korridors. Leere weiße Wände, rote Terrakottafliesen, drei Ledersessel, die nicht zusammenpassten und eine Klavierbank als Tisch, auf der Wylie die Flaschen abstellte und das Essen - mehr brauchte er nicht. Nicht mehr.

    „Du musst hier raus. Also reiß’ dich endlich zusammen und krieg’ deinen Arsch hoch!"

    Rafael versuchte, seinen Blick einzufangen, doch Chris hatte genug. Er schloss die Augen und ließ sich zurückfallen.

    „Warum lässt du mich nicht in Ruhe, ich will nachdenken", murmelte er.

    „Du willst nachdenken? Rafael schüttelte ihn wieder, jetzt aber so heftig, dass sein Hals seinen taumelnden Kopf kaum halten konnte. „Ich helfe dir, dass du es auch richtig machst. Wir beide fliegen nach Hawaii. Dort sind wir unter uns: du, deine Gedanken und ich, dazu Ruhe, Sonnenschein und jede Menge frische Luft - niemand wird uns stören.

    Chris riss die Augen auf. Er wollte etwas einwenden, protestieren, schreien, doch Rafael redete ungerührt weiter. „Es ist alles vorbereitet. Du denkst nach und ich fische. Es ist höchste Zeit, dass du wieder zu dir selbst findest. Ich habe Wylie angewiesen, für dich zu packen."

    „Du kannst mich nicht zwingen", murmelte Chris.

    Rafael zeigte seine ebenmäßigen Zähne, doch das Lächeln, falls das Präsentieren der oberen Zahnreihe als solches gelten konnte, erreichte seine Augen nicht. „Nein?"

    „Nein!"

    Chris versuchte, Rafael wütend anzufunkeln, doch es bereitete ihm bereits außerordentliche Mühe, seinen ständig abdriftenden Blick überhaupt auf seinen Gegner zu richten.

    „Nun, du hast die Wahl: Entweder wir fliegen morgen früh oder ich bleibe gleich hier und wir denken gemeinsam nach. Was denkst du: Wie lange wird es dauern, bis du freiwillig in eine Entzugsklinik gehst?"

    Chris stöhnte. So betrunken konnte man nicht sein, um von Rafaels Hilfe nicht entsetzt zu sein. Rafael hatte in seinem ganzen Leben noch keine leere Drohung ausgestoßen. Drohungen, ja, aber jede einzelne war die Ankündigung seines persönlichen Armageddons gewesen. Chris überlegte krampfhaft. In seinem Schädel drehte sich alles. Gütiger Himmel, war ihm schlecht. Er ließ sich zur Seite fallen, um über die Sessellehne nach der zweiten Flasche zu sehen, doch er fand nichts, außer ein paar Glasscherben, die die Wucht des Aufpralls bis an seinen Sessel geschleudert hatte. Also kein Whiskey. Zuerst musste er Rafael loswerden, dann konnte er nachsehen, ob nicht noch in einer der anderen Flaschen ein Rest war.

    Obwohl – der Vorschlag hatte etwas für sich. Zumindest entkam er so den lästigen Ratschlägen, mit denen jeder über ihn herzufallen pflegte. Allerdings hatte die Sache einen Schönheitsfehler...

    „Also gut. Ich fliege - aber allein!"

    Als Rafael den Mund öffnete, wehrte er den Einwand mit einem Zähnefletschen ab. „Kannst oder willst du es nicht verstehen? Ich kann niemanden ertragen. Sobald irgend jemand versucht, mich zu bemuttern, fange ich an, durchzudrehen. Ich muss über alles nachdenken, ob hier oder auf Lanis Island ist mir egal – alles ist okay, solange es keine Klinik ist. Ich komme schon klar. Aber ich will, verdammt noch mal ,kein Kindermädchen dabei haben! Falls dein Angebot auch so gilt, nehme ich es an - für eine Woche, oder so."

    So viele Worte, so viel Konzentration, viel mehr als in vielen Wochen. Erschöpft ließ Chris seinen Kopf an die Rückenlehne zurückfallen und schloss die Augen.

    „Selbstverständlich gilt mein Angebot noch."

    Chris nickte müde. „Okay, dann verpiss dich, bevor ich es mir anders überlege."

    Rafael zögerte, doch dann hörte Chris ihn zur Tür gehen.

    „Viper?"

    Rafaels Schritte stoppten. Chris öffnete die Augen, suchte Rafaels Blick und hielt ihn fest. „Es ist mein Leben. Ich kann mich überall umbringen, egal wohin du mich verfrachtest. Du kannst es nicht verhindern."

    „Wenn es das ist, was du willst, bring’ es hinter dich. Alles ist besser, als das hier länger mit ansehen zu müssen."

    Ohne ihm Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, wandte sich Rafael um und schloss die Tür hinter sich.

    Chris starrte schockiert auf die Tür. Zum ersten Mal seit Wochen war etwas durch die Wolke aus rosa Watte, die er um sich aufgehäuft hatte, gedrungen. Dabei hatte er Rafael treffen wollen, hart treffen, ihm zusetzen, wie er ihm zugesetzt hatte, nein, mehr noch. Aber Rafael war nicht der Typ, der auch die andere Wange hinhielt. Mit zitternden Fingern strich sich Chris über sein eingefallenes Gesicht, den mehrere Tage alten Bart. Wie aus einem Traum erwachend sah er sich um.

    Leere Flaschen auf dem Boden, Essensreste auf und neben dem provisorischen Tisch, Glassplitter überall. Er stank nach Schweiß und Alkohol, sein T-Shirt und seine Jeans starrten vor Dreck. Über allem stach der Alkoholdunst aus der zerschmetterten Flasche scharf in seine Nase.

    „Scheiße", murmelte er.

    Zum ersten Mal seit Wochen war er wieder so weit bei Sinnen, um zu erkennen, wie weit es inzwischen mit ihm gekommen war. Er fühlte sich ausgelaugt, erschöpft und deprimiert. Die letzten Wochen waren vollständig an ihm vorbeigezogen, ohne Eindruck zu hinterlassen. Vage erinnerte er sich an das verzweifelte Gesicht seiner Mutter, die auch irgendwann hier gewesen war. Er hatte sich geweigert, mit ihr zu reden, hatte ihre Hände abgewehrt und an ihr vorbei in die Ferne gestarrt. Er wollte, er hätte ihr das nicht angetan. Aber sie würde ihn verstehen - sie hatte ihn immer verstanden. Vielleicht hatte Rafael recht, dass es so nicht weitergehen konnte. Vielleicht war es gut, dass er ihm die Entscheidung aufgezwungen hatte. Oder nicht?

    Mühsam stemmte Chris sich auf die Beine und tappte mit bloßen Füßen durch den Raum. Er brauchte dringend einen Schluck, um die Spinnweben in seinem Gehirn zu vertreiben.

    Er versuchte, nicht auf die herumliegenden Scherben zu treten, hatte aber genug damit zu tun, einigermaßen gerade auf die Tür zusteuern zu können. Mit viel Glück gelang es ihm, den Raum unverletzt zu verlassen. Grelles Sonnenlicht stach durch die hohen Fenster und die gläserne Decke der Halle und direkt in seine Augen. Er hielt sich am Geländer fest, um von der Galerie hinunter in die Halle zu sehen, zuckte zurück und fluchte, als ein stechender Schmerz durch seine linke Hand fuhr. Die abrupte Bewegung war zu viel; die Welt um ihn herum schwankte und er packte das Geländer erneut. Wieder jagte ein glühender Schmerz durch seine Hand bis in sein Rückgrat, aber Chris krampfte seine Finger nur noch fester um das kühle Holz. Für einen kostbaren Augenblick war der Schmerz in seiner Hand stärker als der in seiner Seele, doch viel zu schnell konnte er wieder denken und fühlen. Er löste seine Hand vom Geländer und sah wieder in die Halle hinunter. Die Sonne spiegelte sich auf dem glänzenden Mosaikboden und trieb ihm Tränen in die Augen. Die schwarz-weißen Rauten verschwammen. Er kniff die Augen zusammen, aber das Muster tanzte weiter vor seinen Augen. Chris ließ sich auf den Boden sinken, zog die Beine gegen seine Brust und legte seine Stirn auf seine Knie. Er musste den Verstand verloren haben. Gerade hatte er mit Mühe die paar Schritte bis zur Empore geschafft; wie konnte er hoffen, eine ganze Woche zu überstehen und das noch alleine? Ihm war so schwindelig, dass er hätte schreien können. Er wünschte sich eine dunkle Ecke, in der er sich auskotzen konnte, bis nichts mehr von ihm übrig war oder, besser noch, eine Mauer, gegen die er mit seinem verdammten, schmerzenden Schädel anrennen konnte, bis er vergaß, wer er war. Aber was er sich auch wünschte, es war jetzt vergeblich, weil nämlich Rafael beschlossen hatte, ihn zu retten und er würde ganz gewiss nicht vergessen, am nächsten Tag wiederzukommen.

    Es war von vorn bis hinten eine beschissene Idee! Und was er jetzt davon hielt war nur ein Hauch dessen, was er davon halten würde, wenn er aufwachte und ihn ein ausgewachsener Kater in den Fängen hielt.

    Kapitel 1

    Faye öffnete die Augen. Vor ihren Augen erstreckte sich endloser Sand, er war überall, zwischen ihren Fingern, in ihrem Mund, in ihrer Nase und Gott allein wusste, wo sonst noch. Ihr Kopf dröhnte wie ein Flugzeugmotor und jede einzelne Stelle ihrer Haut fühlte sich an, wie mit einem Flammenwerfer geröstet.

    Sie fühlte sich unendlich schwer, aber sie zwang ihre Muskeln und Knochen, zu gehorchen und stemmte sich hoch. Faye stöhnte, als ein Wahnsinniger ihren Schädel von innen mit einem Schmiedehammer bearbeitete. Jeder Schlag traf einen Nerv und jeder Nerv zersplitterte in tausende schwarzgoldener Splitter. Schmerz! Rasender, gellender rotglühender Schmerz! Faye rollte sich zusammen und presste die Hände gegen ihre Schläfen und atmete langsam und flach, bis der Schmerz abebbte. Sie öffnete die Augen und setzte sich auf. Um sie herum erstreckte sich ein jungfräulich weißer Strand und ein türkisfarbenes Meer, dessen lichtdurchflutete Wellen leise flüsternd auf dem Sand aufliefen, ganz anders, als die kleinen scharfen Wellen, die sie eben noch hatten zermürben und verschlingen wollen. Eben noch? Wie lange war das her? Hatte sie Stunden oder nur Minuten geschlafen?

    Ihr erster Urlaub seit zehn Jahren und beinahe wäre es ihr letzter gewesen. Das Schlimmste war, dass alles ihre eigene Schuld war. Hätte sie die Einladung zur Party auf der „Conqueror" doch ausgeschlagen. Susan und Jennifer wären beleidigt gewesen, na und? Sie hatten sich die ganze Woche ohne sie amüsiert und sie hätten auch an diesem Abend ohne sie Spaß gehabt. So wie sie. Sie würde sich jetzt für das Hotel-luau fertigmachen und endlich herausfinden, wie Poi schmeckte. Faye schauderte, als ein wutverzerrtes Gesicht vor ihrem geistigen Auge aufblitzte und für einen Moment die grandiose Natur verdrängte. Sie kniff die Augen zusammen. Nicht jetzt! Sie wollte nicht daran denken, was sie hinter sich hatte, nicht jetzt, wenn sie ihre gesamte Kraft benötigte, Hilfe zu bekommen. Sie hatte in ihrem Reiseführer gelesen, dass alle hawaiianischen Inseln bewohnt waren, aber das galt sicher nur für die großen wie Kauai und Maui. Jetzt musste sie herausfinden, ob das auch für die kleinen Atolle, die sie vom Sonnendeck der „Conqueror" gesehen hatte, galt. Falls sie ein Haus fand, würde sie sicher auch ein Boot bekommen können, das sie nach Honolulu zurückbrachte. Sie fuhr mit der Zunge über ihre ausgetrockneten Lippen. Vor allem aber benötigte sie etwas zu trinken, Kokosmilch oder einfach nur Wasser – irgendetwas. Vielleicht fand sie schneller eine Quelle, als ein Haus, oder wenigstens eine Kokosnuss, eine ganz kleine... Sie schluckte. Lieber Wasser, denn obwohl sie bei einer der Touristenshows im Polinesian Cultural Center gesehen hatte, wie die Hawaiianer Kokosnüsse öffneten, traute sie sich in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht mehr zu, als vor einer Kokosnuss zu verdursten. Welch eine Schlagzeile: ‚Touristin in inniger Umarmung mit einer Kokosnuss verdurstet’. Faye kicherte. Sie kicherte, kicherte und konnte nicht aufhören.

    „Reiß dich zusammen, flüsterte sie. „Du hast es bis hier geschafft, du schaffst auch noch den Rest!

    Nach dem Sonnenstand war es später Nachmittag, Zeit genug, eine Quelle oder ein Haus zu finden, bevor es dunkel wurde. Unter normalen Umständen hätte ihr die Schönheit der Bucht den Atem geraubt, jetzt jedoch hatte sie keinen Blick für die anmutig geschwungenen Palmen mit ihren im Sonnenlicht flirrenden Wedeln, das satte Grün der Rankpflanzen und die leuchtend bunten Blüten im dichten Grün. Die dichte Vegetation bedeutete, dass es eine Quelle gab, oder nicht? Faye quälte sich auf die Füße. Schon nach den ersten Schritten erkannte sie, dass selbst das Laufen in dem lockeren Sand ihre gesamte Kraft und Konzentration erforderte. Übelkeit und Schwindel überfielen sie in immer dichter aufeinanderfolgenden Wellen.

    „Sonnenstich", konstatierte sie nüchtern. Gut, dass sie ihre Bluse nach dem Sprung ins Wasser nicht ausgezogen hatte. Die langen Ärmel waren beim Schwimmen hinderlich gewesen, aber der weiße Stoff hatte sie vor einem schweren Sonnenbrand bewahrt. Dennoch, sie hatte bereits auf dem Schiff genug Sonne abbekommen, mehr als ihre helle Haut eigentlich vertrug und sie wusste, sie hatte gerade begonnen, dafür zu büßen. Ihr blieb nicht viel Zeit, bald würde es ihr noch schlechter gehen..

    Die Pflanzen standen nicht so dicht, wie es vom Strand aus den Anschein gehabt hatte und Faye schleppte sich dankbar in den Schatten der Bäume. Bereits nach wenigen Schritten stolperte sie über eine Wurzel und fiel der Lange nach hin. Sie musste sich an einem Baumstamm hochziehen, um wieder auf die Füße zu kommen. Nicht schlappmachen! Sie biss die Zähne fest aufeinander und zwang sich, tief und gleichmäßig zu atmen, um die Übelkeit zu bekämpfen, obwohl jeder Atemzug einen heißen Stich durch ihr Gehirn jagte. Weiter! War das nicht ein Pfad? Vielleicht ein Wildwechsel. Wildwechsel führten zum Wasser. Gab es hier Tiere? Es war so still hier. Egal. Weiter, nur weiter. Linkes Bein, rechtes Bein - immer wieder, immer weiter. Zweige peitschten gegen ihre verbrannten Beine, sie spürte es kaum. All ihre Sinne waren auf Wasser gerichtet, auf ein Plätschern vielleicht, oder Spuren auf dem Boden oder, welch himmlische Vorstellung, eine Quelle.

    Sie bemerkte das Haus erst, als sie schon fast davor stand. Ganz aus Holz, Glas und rauem Naturstein erbaut, fügte es sich so vollkommen in seine Umgebung ein, als sei es aus der Lava gewachsen. Ein Haus bedeutete Wasser. Faye schluckte krampfhaft. Ein Glas mit Wassertropfen beschlagen, voll mit kühlem, klaren Wasser.

    Wie von einem Magneten gezogen, ging sie auf die verglaste Front des Hauses zu. Mit zitternden Händen berührte sie eine der riesigen Glasflächen und zu ihrer Überraschung glitt die Scheibe mit leisen Raunen zur Seite. Ein Schwall kühler Luft schlug ihr entgegen, tat ihrer glühenden Haut wohl.

    Es dauerte einige Sekunden, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel des Raumes angepasst hatten.

    Der Wohnraum wurde von einem riesigen, schwarzen Konzertflügel beherrscht, an dem zusammengesunken, die Beine von sich gestreckt, ein Mann saß. Helles, langes Haar fiel ihm unordentlich ins Gesicht. Seine Rechte umklammerte ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Die halbleere Flasche vor ihm auf dem Flügel ließ den Schluss zu, dass es nicht der erste Drink an diesem Tag war.

    Er war betrunken. Wie Rodland. Aber wo ein Haus war, musste auch noch ein anderes sein. Mit einer Familie vielleicht. Sie wusste, sie sollte gehen, aber ihr Durst war zu groß. Sie schaffte keinen weiteren Schritt. Sie räusperte sich. „Entschuldigen Sie bitte..."

    Es war nur ein Wispern, aber es traf ihn wie ein Stromschlag.

    Chris Delaire wandte den Kopf. Wie lange saß er schon hier? Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung. Zeit hatte hier keine Bedeutung am Ende der Welt. Hier gab es nur ihn, diese Flasche und viele Dinge, die er gerne vergessen hätte, die aber in den schattigen Winkeln dieses Raumes lauerten, bereit, sich anzuschleichen, an ihm zu nagen.

    Die Stimme! Er runzelte die Stirn und versuchte, sich zu konzentrieren. Seine Augen wollten nicht so, wie er, die Glastür war nur ein schwimmendes, helles Viereck, aber er blinzelte und zwang seine Augen, sich auf den dunklen Fleck im grellen Weiß zu konzentrieren. Zuerst vermochte er, es nicht zu glauben, doch so sehr er auch blinzelte, es änderte sich nichts. Im Türrahmen erschien ihm ein fleischgewordener Traum, eine Vision. Eine feurige Wolke umwogte eine zarte, zerbrechliche Mädchengestalt in einem durchscheinend weißen Hemdchen.

    „Ein Engel."

    Erstaunt lauschte er dem Klang seiner Stimme nach, die, rau und kratzig, nicht seine eigene war.

    Ob der Engel gekommen war, ihn zu holen? Gut, es war also zu Ende. Dennoch – auch nach seinem, zugegeben beschränkten religiösen Wissen, lehnten Engel nicht lasziv und in aufreizender Kleidung am Türrahmen von gerade Verblichenen. Also kein Engel! Das war auch nicht zu erwarten. Wenn ihn der Alkohol umgebracht hätte, würden eher die Schergen des Höllenfürsten bei ihm einfallen.

    Lautloses Lachen schüttelte ihn. Kein Engel – also war er noch nicht tot. Ob das ein Vor- oder Nachteil war, wagte er derzeit noch nicht abzuschätzen. Doch allein der Anblick war es wert, im Moment noch am Leben zu sein.

    Verdammt - jetzt hatte er nicht mitbekommen, was sie gesagt hatte. Ganz offensichtlich war er nur imstande, eines zu tun, denken oder zuhören. Unwichtig, Hauptsache sie war da. Gestern noch, oder war es schon vorgestern gewesen, hatte er geglaubt, die Anwesenheit keines Menschen mehr ertragen zu können. Doch die Stille lastete wie Blei auf ihm und ließ viel zuviel Raum für Erinnerungen, die er noch nicht, vielleicht nie, ertragen konnte.

    Seine Hand krampfte sich um sein Glas. Schon wieder leer? Doch das war jetzt nicht so wichtig. Wichtig war allein sein Engel mit dem Flammenhaar.

    „Ich weiß nicht, wie du hergekommen bist, aber, glaub mir, du bist hier goldrichtig. Das Badezimmer ist hinten rechts. Geh schon mal vor, ich komme gleich nach. Er kicherte. „Bin etwas indisponiert, verstehst du?

    Er nickte und sann dem schwierigen Wort nach, ob es auch zutreffend und passend war. Das Glas entglitt seinen schlaffen Fingern und rollte über die polierte Oberfläche des Flügels. Chris sah ihm nach. Als er wieder aufblickte, war die Erscheinung verschwunden. Völlig unberührt von dem Gedanken, sie könnte andere Pläne für den Abend haben, als ihm im Bett Gesellschaft zu leisten, sann er über diesen glücklichen Zufall nach. Es hatte ihm nie an Bettpartnerinnen gefehlt. Als Sänger einer erfolgreichen Band genoss er mehr oder weniger das Privileg der freien Auswahl. Aber eine Nacht mit einem Engel hatte er sich in seinen wildesten Fantasien nicht vorstellen können. Ein Engel ganz für ihn allein... Gedankenversunken schlug er eine Tonfolge an. Immer wieder. Vage grinsend gestand er sich ein, dass es ihm sicherlich größere Mühe bereiten würde, gerade zu gehen. Doch Klavierspielen, das schien noch zu gehen. Es ging eben nichts über eine gute Technik.

    Noch einmal! Ganz langsam begann sich der Nebel in seinem Gehirn aufzulösen. Er variierte die Sequenz, langsam und suchend zunächst, dann zunehmend sicherer. Unbewusst nahm er die linke Hand, die bis jetzt tatenlos auf seinem Schenkel gelegen hatte zu Hilfe. Schon beim ersten Anschlag durchfuhr ihn ein schneidender Schmerz.

    „Verdammt!", knirschte er und hieb mit der nutzlosen Hand auf die Tasten. Die schrille Dissonanz übertönte sein Aufstöhnen. Er hatte vergessen, dass er ein Krüppel war! Mit schmerzverzerrtem Gesicht betrachtete er voller Abscheu die langen, blutroten Narben auf seinem linken Handrücken, deutliche Zeichen dafür, dass er drei seiner Finger nur noch eingeschränkt und unter Schmerzen bewegen konnte.

    Er fingerte hastig nach seinem Glas und goss es erneut bis zum Rand voll. Doch - halt. Sein Engel wartete. Waren Minuten vergangen, seit sie in seiner Tür erschienen war, oder Stunden? Langsam, um seinem Schädel keine allzu heftigen Bewegungen zuzumuten, erhob er sich. Na also, es ging besser, als erwartet.

    Im Badezimmer war sie nicht mehr. Hoffentlich hatte er sie nicht zu lange warten lassen. Er erschrak, als ihm aus dem Spiegel ein hohlwangiges, unrasiertes, bleiches Gespenst aus blutunterlaufenen Augen anstierte. Angewidert schloss er die Augen. Nachdem er Mengen eiskalten Wassers über seinen Kopf hatte laufen lassen, fühlte er sich etwas menschlicher.

    Erwartungsvoll ging er auf die Schlafzimmertür zu. Wie sie wohl aussah? Ihre Figur hatte sich deutlich unter ihrem Hemdchen abgezeichnet, doch ihr Gesicht hatte er im Gegenlicht nicht erkennen können. Sicherlich war sie hübsch. Er lächelte. Engel waren immer hübsch.

    Wo kam sie her, woher hatte sie erfahren, wo er zu finden war? Sie würde es ihm sicherlich erzählen - später fand sich sicher Zeit für ein Gespräch. Und er würde dafür sorgen, dass derjenige, der nicht dichtgehalten hatte, Probleme bekam. Obwohl - eigentlich schuldete er ihm eher einen Gefallen. Er seufzte. Für Problemlösungen war er im Moment nicht in der richtigen Verfassung. Jetzt hatte er Wichtigeres vor.

    Vielleicht konnte er später sogar schlafen, ohne aus dem Schlaf hochzuschrecken, in den Ohren das Krachen und Kreischen reißenden Metalls, die entsetzten Schreie, das Gefühl zu fallen, dann der Aufprall und die Stille, diese lange, unheimliche Stille...

    Er strich sich mit zitternden Fingern über die Augen. Nicht daran denken - nicht jetzt.

    Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt, er stieß sie auf.

    Der Raum war durch die heruntergelassenen Jalousien fast dunkel. Schmale Lichtbahnen, in denen Staubkörnchen tanzten, fanden den Weg durch die Lamellen und zeigten ihm, dass das Bett, bis auf die zerwühlten Laken, leer war. Nichts deutete darauf hin, dass sie jemals hier gewesen war. Chris ließ sich schwer auf die Bettkante sinken.

    „Jetzt ist es endlich so weit - du hast dir den letzten Rest Hirn versoffen!"

    Das Kinn auf die gesunde Hand gestützt, überlegte er laut: „Mit Halluzinationen soll es anfangen. Du siehst Dinge, die es nicht gibt, du sprichst mit Leuten, die nicht da sind. Verdammter Whiskey!"

    Er strich sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht und zuckte zusammen, als ein scharfer Stich durch seine linke Hand fuhr.

    Enttäuscht tappte er zurück ins Wohnzimmer. „Aber sie war echt!"

    Als er mit bloßen Füßen in eine Whiskeylache trat, verzog er angewidert das Gesicht. Der Alkoholdunst im Raum war ihm plötzlich zuviel. Er öffnete die Schiebetür etwas weiter und stutzte. Dann verklärte ein entzücktes Lächeln sein Gesicht. „Keine Halluzinationen! Du bist noch nicht auf dem Weg in die ewigen Jagdgründe!"

    Auf der Scheibe und auf dem Rahmen waren rötliche Flecken; sie sahen aus wie - ja, Blut. Wenn die Naturgesetze noch in Kraft waren, und es gab eigentlich keinen Grund, dass sich die Ordnung der Dinge seit seiner Ankunft hier verändert hatte, hinterließen Träume keine Spuren.

    Er würde sie suchen. Die Insel war nicht besonders groß und durch die dicht unter der Wasseroberfläche liegenden Korallenbänke war es nur an zwei Stellen möglich, mit einem Boot anzulegen.

    Nach dem angenehm kühlen Innern des Hauses traf ihn die Nachmittagshitze wie ein Schlag. Er taumelte und konnte sich gerade noch am Verandageländer festhalten. Vor ihm führte ein Weg hinunter zum Anlegeplatz, doch der Steg war leer, kein Boot war zu sehen. Auch weiter draußen sah er nichts weiter als Wasser und Himmel, aber ihm blieb noch die Bucht auf der anderen Seite der Insel.

    Zielstrebig folgte er dem schmalen Pfad, der auf dem kürzesten Weg zu der kleinen Bucht führte. Der Pfad mündete im feinen Sand des Strandes. Blutrot grinste ihm die Sonne entgegen. Chris kniff die Augen gegen das stechende Licht zusammen, doch so angestrengt er auch Ausschau hielt, er konnte kein Boot ausmachen. Ohne viel Hoffnung sah er sich nochmals um, dann machte er sich auf den Rückweg. Er sehnte sich nach starkem Kaffee. Vielleicht sollte er auch mal wieder etwas essen. Er seufzte enttäuscht. Wohin war sie verschwunden und warum war sie überhaupt aufgetaucht?

    Er hatte bereits die Hälfte des Rückwegs geschafft, als er sie sah. Sie lag zusammengerollt im Schatten eines dichten Busches, ihre Augen waren geschlossen. Chris ließ sich vorsichtig auf die Knie nieder und legte die Hand auf ihre Schulter.

    „Angel!"

    Sie rührte sich nicht. Er berührte ihre Schulter, aber sie erwachte nicht. Er versuchte es erneut, lauter: „Angel, wach auf!"

    Der Name passte zu ihr. In Ermangelung einer Alternative und eingedenk der Tatsache, dass sein Gehirn nach den Exzessen der vergangenen Wochen überhaupt noch zu Assoziationen in der Lage war, passte er sogar ausgezeichnet, fand er.

    Jetzt musste sie nur noch aufwachen.

    Beunruhigt registrierte er, dass etwas nicht stimmte. Sie reagierte nicht auf sein Rufen, auch nicht auf Schütteln oder leichtes Klopfen auf die Wangen. Chris spürte, wie Panik in ihm aufstieg.

    „Ihr Puls, ich muss ihren Puls fühlen."

    Er legte zwei Finger auf ihre Halsschlagader. Etwas rasch, aber wohl nicht beängstigend. Ruhiger nun, begann er, sie auf sichtbare Verletzun­gen hin zu untersuchen, fand jedoch zu seiner unendlichen Erleichterung nichts außer einigen oberflächlichen Schnittverletzungen an ihren Händen und Sonnenbrand an ihren Beinen. Aber sie glühte vor Fieber. Er schüttelte den Kopf. Da solle doch einer die Frauen verstehen, die sich, gesegnet mit einer so wundervoll zarten, hellen Haut stundenlang in der Sonne braten ließen. Wenn sie erwachte, würde sie sich so elend fühlen, wie er.

    Das Wichtigste im Moment war, sie ins Haus zu bringen. Dazu würde er sie tragen müssen, überlegte er unbehaglich. Auf Hilfe konnte er nicht zählen. Die Insel war ein Feriendomizil und er bewohnte das einzige Haus darauf. Wenn er am Tag zuvor nicht so unklug gewesen wäre, sein Mobiltelefon ins Meer zu werfen und damit alle Brücken hinter sich abzubrechen, hätte er jetzt Hilfe anfordern können. So musste er allein zurechtkommen.

    In Anbetracht seiner verletzten Hand wäre es am einfachsten, sie über der Schulter zu tragen. Doch schon bei dem Gedanken, den Kopf so weit nach vorne zu beugen, dass er sie über seine Schulter legen konnte, wurde ihm schwindlig. Daran, mit der zusätzlichen Last aufzustehen, wagte er noch nicht einmal zu denken.

    Vorsichtig schob er seine Arme unter ihren Nacken und ihre Kniekehlen und zog sie auf seinen Schoß. Sie reagierte immer noch nicht und lag beunruhigend schlaff in seinen Armen. Er versuchte, sie so zu fassen, dass seine verletzte Hand nicht allzu sehr belastet wurde, und stand vorsichtig auf.

    Großer Gott, war ihm schwindlig. Schmerz schoss wie ein schwarzer Blitz durch seine linke Hand bis in seine Schulter und seine Fantasie gaukelte ihm platzende Nähte und reißende Metalldrähte vor. Chris zerquetschte jeden Fluch, den er jemals gehört hatte, zwischen den Zähnen, als er sich vorsichtig über den unebenen Weg zum Haus zurücktastete. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis er endlich die Stufen zur Veranda erreicht hatte.

    Das Haus empfing ihn mit angenehmer Kühle und er atmete erleichtert auf - gleich war es geschafft.

    Er legte seine Last auf dem Bett ab und gönnte sich wenige Atemzüge, um auszuruhen und seine verkrampften Muskeln zu lockern. Am liebsten hätte er sich ebenfalls hingelegt. Kaum zu glauben, wie sehr ihn die paar Schritte angestrengt hatten.

    Er konzentrierte sich wieder auf die Frau in seinem Bett. Nun hatte er sie genau da, wo er sie hatte haben wollen, doch schien es, als entwickele sich der Abend anders, als geplant.

    Er versuchte, die Fragmente von dem, was er über Krankenpflege wusste, zusammenzukratzen. Viel war es nicht, er konnte einen Kratzer verpflastern und einen Eisbeutel füllen, bei komplizierteren Fällen hatte sich immer jemand gefunden, der sich besser auskannte.

    Ganz zart strich er ihr das Haar aus der Stirn, wunderschöne, wilde Locken von einem geradezu herausfordernden Rot. Kaum wahrscheinlich, dass eine solche Pracht natürlich war. Sein Blick wanderte weiter über dunkle Brauen, wie Tuschestriche auf einer japanischen Zeichnung, lange, dunkle Wimpern, eine kleine, gerade Nase und einen feingeschwungenen Mund mit einer herzförmigen Oberlippe und einer vollen Unterlippe. Ausgeprägte Wangenknochen und ein festes Kinn deuteten auf einen der Haarfarbe entsprechenden Charakter hin. Ein interessantes Gesicht, nicht klassisch schön, reizend wäre wohl der Ausdruck, den er dafür verwenden würde, eher noch pikant.

    Chris seufzte und schlurfte ins Bad. Er richtete im Medikamentenschrank ein Chaos an, bis er endlich das Aspirin fand.

    Es würde eine lange Nacht werden.

    *

    Faye erwachte mit rasenden Kopfschmerzen und staubtrockenem Mund. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach der Wasserflasche, die sie immer auf ihrem Nachttisch stehen hatte, doch ihre Hand tastete ins Leere. Erstaunt riss sie die Augen auf - ein Fehler, denn das Morgenlicht, obwohl durch Jalousien gedämpft, schoss ihr wie ein Blitzstrahl direkt ins Gehirn.

    Sie stöhnte, doch nicht nur vor Schmerz.

    Sie lag in einem fremden Bett und hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie dorthin gekommen war und mit wem. Denn, dass sie nicht allein in diesem Bett lag, dafür hatte dieser eine Blick genügt. Und, wie es schien, war ihr die vergangene Nacht nicht allzu gut bekommen.

    Sie rief sich zur Ordnung, atmete tief durch und öffnete die Augen langsam. Zuerst das Zimmer, es musste doch irgend etwas geben, an das sie sich erinnerte. Sie vermied einen Blick auf den Mann an ihrer Seite. Ihn würde sie sich für zuletzt aufheben. Zuviel auf einmal konnte sie jetzt wirklich nicht ertragen.

    Die Wände waren in verschiedenen Grünschattierungen gestrichen und mit Gräsern und Ranken bemalt. Eine Seite des Raumes war vom Boden bis zur Decke verglast, doch die Lamellen einer Jalousie versperrten die Sicht nach draußen. Das Bett, in dem sie lag, eine schwere, geschnitzte Truhe aus dunklem Holz und mehrere kleine Tischchen aus dunklem Rattan waren das einzige Mobiliar, doch nichts löste eine Erinnerung bei ihr aus. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Aufgrund der Tatsache, dass jeder Gedanke wie ein Kiesel in ihrem Kopf umher rollte und schmerzhaft überall anstieß, verspürte sie auch keine Lust, weiter darüber nachzudenken.

    Seufzend drehte sie sich zur Seite, um sich den Mann näher zu betrachten, mit dem sie offensichtlich die Nacht verbracht hatte.

    Er trug eine verblichene, nachlässig oberhalb der Knie abgeschnittene Jeans, sein Oberkörper war nackt. Und er war tätowiert! Eine handgroße Tätowierung unterhalb seines rechten Schlüsselbeins zeigte einen Panther und auf seinem linken Unterarm, der über seinem halb abgewandten Gesicht lag, prangte ein Dolch. Lange, hellgoldene Haarsträhnen flossen über sein zerknautschtes Kissen und bedeckten auch einen Teil seines Gesichts.

    Eigentlich kein Mann, den man leicht vergaß. Aber auch kein Mann, mit dem sie sich üblicherweise abgegeben hätte. Sie bevorzugte, nun ja, mehr zivilisierte Männer. Die Sache war ihr ein Rätsel.

    Sie sollte ihn wecken, aber sie scheute davor zurück. Was konnte sie sagen? „Guten Morgen, es tut mir leid, aber ich habe deinen Namen vergessen?, oder das klassische „Wo bin ich, was ist passiert?

    Trotzdem, sie musste es hinter sich bringen, je schneller, um so besser. Zögernd streckte sie eine Hand aus, um ihn an der Schulter zu berühren, vorsichtig, wie sie es auch bei einem Hund getan hätte, von dem sie nicht sicher war, ob er gefährlich war, als ihr mit eisiger Deutlichkeit klar wurde, woher sie den Mann kannte. Dieses helle Haar! Es hätte ihr sofort auffallen müssen.

    Sie lag bei diesem völlig betrunkenen Menschen im Bett, den sie gestern um Hilfe gebeten hatte.

    Sie musste weg! Langsam setzte sie sich auf, die reglose Gestalt neben sich misstrauisch im Auge behaltend. Jeder ihrer Muskeln schrie vor Schmerz, ihr rechtes Bein brannte wie Feuer und in ihrem Kopf tobte der Dritte Weltkrieg. Vorsichtig befreite sie ihre Beine aus dem zimtfarbenen Laken, in dem sie sich irgendwie verfangen hatten, als eine Bewegung an ihrer Seite sie erstarren ließ. Er war wach, er beobachtete sie.

    Zögernd wandte sie den Kopf und blickte direkt in die blauesten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Sie benötigte nur eine Sekunde, um den Rest des ungemein attraktiven Gesichts zu erfassen, die geschwungenen Augenbrauen, die kräftige, gerade Nase, die hoch angesetzten Wangenknochen und den perfekt geschnittenen Mund.

    „Herr der Finsternis!", entfuhr es ihr.

    In den verschleierten blauen Augen glomm ein Funken Amüsement. „Keine Titel, einfach nur Chris, flüsterte er, „aber sprich um Himmels Willen leise!

    Faye vergaß, ihren Mund wieder zu schließen. Sie war fassungslos. Der Mann neben ihr war Chris Delaire! Der Chris Delaire! Hades persönlich!

    Gott allein wusste, wie viele Frauen Jahre ihres Lebens dafür geopfert hätten, jetzt an ihrer Stelle sein zu können. Sie dagegen würde das zweifelhafte Privileg nur zu gerne abtreten. Wie um alles in der Welt war sie in dieses Bett gekommen? Was hatte sie getan?

    „Das überlebe ich nicht!", stöhnte sie und ließ ihren gemarterten Kopf auf die angezogenen Knie sinken. Ihr Haar fiel wie ein dichter Vorhang über ihr Gesicht und bot ihr zumindest vorübergehend ein Versteck.

    „Wieso nicht?"

    Er klang erstaunt, fast ein wenig beleidigt. Wahrscheinlich war er andere Reaktionen gewohnt.

    Faye atmete einmal tief ein und hob dann den Kopf. „Ich verstehe das alles nicht, flüsterte sie. „Warum bin ich hier? Wieso weiß ich nicht mehr, wie ich hierher gekommen bin? Mein Kopf schmerzt, dass ich nicht denken kann. Kann ich ein Glas Wasser haben und vielleicht ein Schmerzmittel?

    Widerwillig gestand die ihm zu, dass er verknautscht und verkatert immer noch phantastisch aussah. Doch sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Sie musste wieder einen klaren Kopf bekommen, um so schnell wie möglich aus diesem Schlamassel herauszukommen.

    „Kein Problem, Angel. Chris nickte und griff sich mit einer Grimasse an die Stirn. „Was hältst du von schwarzem Kaffee und einer kühlen Dusche? Zuvorkommend wies er auf die Tür rechts neben dem Bett. „Ladies first."

    Faye hatte gegen die Befriedigung ihrer zunächst dringendsten Bedürfnisse nichts einzuwenden. Nur eines bedurfte zuvor noch einer Klärung:

    „Faye. Mein Name ist Faye."

    Sie hatte es noch nicht ausgesprochen, als schlagartig die Erinnerung an die letzte Nacht, zumindest in Bruchteilen, zurückkehrte. Diese sanfte Stimme, die sie beharrlich Angel nannte, kühle Hände auf ihrer Stirn, starke Arme, die sie hielten, wenn das Meer sie wieder zu verschlingen drohte, das war Chris Delaire gewesen. Ein völlig Fremder hatte sie in einem Zustand erlebt, der ihr selbst im Nachhinein entsetzlich peinlich war. Sie musste sich bei ihm bedanken, doch bevor sie das tat musste sie wieder zu sich selbst finden.

    Sie vermied es, ihn nochmals anzusehen und rannte ins Bad. Meist vermied sie einen Blick in den Spiegel, bevor sie ihre Morgendusche hinter sich hatte. Heute jedoch, mit einem riesigen Spiegel an ungewohnter Stelle, traf sie der Anblick unvorbereitet. Gütiger Himmel! Ihr Haar loderte wie ein außer Kontrolle geratenes Buschfeuer um ihr Gesicht. Sie hatte Kratzer im Gesicht und ihre Haut war so bleich, dass sie fast grün aussah.

    Sie genoss das kühle Wasser mit geschlossenen Augen. Es war so angenehm, dass sie die Dusche am liebsten nie wieder verlassen hätte. Doch die Vernunft riet ihr, die Wasservorräte ihres Gastgebers nicht allzu sehr in Anspruch zu nehmen.

    Es widerstrebte ihr, die Bluse, die nach den Strapazen des letzten Tages mehr Ähnlichkeit mit einem Putzlappen, als mit einem Kleidungsstück hatte, wieder anzuziehen und lieh sich einen schwarzen Seidenkimono von einem Haken hinter der Tür.

    Chris lehnte in der kleinen Küche am Kühlschrank und trank langsam, mit geschlossenen Augen, ein Glas Orangensaft. Der Duft frisch gebrühten Kaffees stieg Faye unangenehm in die Nase. Im Moment wusste sie noch nicht, ob sie auch nur einen Schluck würde bei sich behalten können.

    Als Chris ihre Schritte hörte, öffnete er die Augen und wies mit dem Kinn auf den Tisch, auf dem neben Orangensaft in einem großen, mit Wasserperlen beschlagenen Glaskrug auch ein Jahresvorrat Aspirin standen und verschwand ohne ein Wort in Richtung Bad.

    Faye war froh, sich setzen zu können. Ihre Knie zitterten erbärmlich und sie musste ihr Glas mit beiden Händen zum Mund führen, weil ihre überanstrengten Muskeln ihr den Dienst verweigerten. Mit geschlossenen Augen verfolgte sie den Weg der eiskalten Flüssigkeit durch ihre ausgedörrte Kehle. Sie schluckte zwei Aspirin, aber bei starken Schmerzen konnten ein paar Tabletten mehr wohl nicht schaden.

    Sie schluckte zwei weitere, dann drückte sie das kühle Glas an ihre Stirn und wartete, dass der Mann mit dem Vorschlaghammer endlich Feierabend machte. Die Tabletten hatten die Durchschlagskraft von lauwarmem Tee. Noch immer spürte jeden Pulsschlag wie einen Hammerschlag. Kurz entschlossen schüttete sie weitere Tabletten in ihre Hand und schluckte sie, unterstützt von einem Glas Saft, auf einmal herunter.

    Chris hatte seine Toilette in Rekordzeit beendet. Faye öffnete die Augen, als er eine Tasse Kaffee vor sie auf den Tisch stellte und sich dann ihr gegenüber niederließ. Seine Augen blickten wieder völlig klar. Anscheinend gehörte er zu den glücklichen Menschen, die sich nach einer durchzechten Nacht einfach den Finger in den Hals stecken mussten, um sich wieder besser zu fühlen.

    Er hatte sich umgezogen, das hieß, er hatte sich überhaupt angezogen. Ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt betonte das Blond seiner Haare, die jetzt, nachlässig mit einem Band im Nacken gebändigt, ungehemmten Blick auf sein ungemein attraktives, wenn auch erschreckend bleiches, Gesicht freigaben.

    Dankbar trank sie den heißen Kaffee. Die Tabletten hatten ihre Arbeit aufgenommen, das Dröhnen war auf ein Denken und Reden zulassendes Maß herabgesunken.

    Chris hatte seine Tasse abgestellt und ließ seinen nachdenklichen Blick von Faye zu dem Tablettenglas wandern.

    „Wie viele von den Dingern hast du geschluckt? Das Glas war halb voll." Unauffällig entfernte er es aus ihrer Reichweite.

    Faye hob eine Schulter. „Nicht genug."

    Chris seufzte. „Wunderbar, ein Säufer und ein Junkie - eine erstklassige Kombination.

    „Blödsinn, ich bin kein Junkie! Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass du nicht genug davon hast. Ich werde sie dir so schnell wie möglich ersetzen. Und ich möchte bei dir bedanken. Du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet."

    Er schnaubte. „Nicht wahrscheinlich, Angel. Ganz

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