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Augenreisser: Thriller
Augenreisser: Thriller
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eBook349 Seiten4 Stunden

Augenreisser: Thriller

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Über dieses E-Book

Stell dir vor, du kannst es sehen… im Bruchteil einer Sekunde! Ein Mensch steht vor dir, eure Blicke treffen sich und du weißt was er in den letzten zwei Stunden getan hat. Gefühlt hat. Erlebt hat.
Ist genau das die schicksalhafte Gabe von Ryan Cramer, einem Analysten des deutschen Geheimdienstes, oder entstammt die Kraft doch einer ganz anderen Welt? Einer Welt der Technologie; regiert von Big Data, Brain Interfaces und digitaler Innovation.
Augenreisser ist weniger Fiktion als du es dir wünschen wirst!
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Nov. 2020
ISBN9783753121321
Augenreisser: Thriller

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    Buchvorschau

    Augenreisser - Lukas Kellner

    Prolog

    Ryan betrat das Restaurant, das sich seinen Eingang mit einem kleinen Kino teilte. Nach einer Weile führte ihn ein Kellner zum Tisch und er nahm Platz.

    Vor ihm lag feines Besteck. Auf der weißen Serviette ruhte ein silbernes Brotmesser, das im Licht der Hängelampen über ihm helle Punkten an die Decke reflektierte. Ryan schenkte dem Glitzern keine Beachtung und ließ seinen Blick lieber durch den Raum schweifen, als es von Neuem begann. Noch vor zwei Jahren hätte es ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben, der Versuch, etwas dagegen zu unternehmen oder es gar zu steuern, wäre ihm missglückt. Doch dort im Restaurant hatte er es ganz gut unter Kontrolle. Er sah nur das, was er sehen wollte, Gegenwart und ein bisschen Zukunft, keine Vergangenheit, das Hier und Jetzt war spannend genug!

    Draußen wurde es dunkler, Wolken türmten sich mächtig übereinander und schon auf dem Weg zum Restaurant hatte es nach Regen gerochen. Gerade war wohl ein Film zu Ende gegangen, denn dutzende Leute schoben sich wild schwatzend durch das verglaste Foyer hindurch raus auf die Straße.

    Dann stand sie da. Ryans Augen begannen zu leuchten. Sie hielt die Hand ihres Papas und trug noch immer eine Mütze. Ihre Haare waren anscheinend noch nicht nachgewachsen, aber wenn die Ärzte ihr erlaubten, sich im Kino einen Film anzusehen, dann konnte das nur eines bedeuten: Sie war über das Schlimmste hinweg. Ryan hatte die kleine Jasmin zuletzt im Krankenhaus gesehen. Er machte das hin und wieder, packte seine Gitarre ein und besuchte wildfremde Menschen auf den Krankenstationen, Junge, Alte, dem Tode Geweihte. Mit ihnen redete er dann, spielte ein bisschen Musik oder verschenkte hineingeschmuggelte Schokolade. Er war sicherlich kein Heiliger und baute erst recht keine persönliche Beziehung zu denen auf, die er traf. Er tauchte lediglich für ein paar Stunden in ihre Welt ein, genauso schnell verließ er sie dann auch wieder und nahm nichts davon mit hinüber in seine eigene. Eigentlich tat er es für sich. Im Grunde war sein Handeln im höchsten Maße egoistisch. Wenn man selbst nicht genau wusste, was mit einem passierte, wo einem der Kopf steht, welche Entscheidungen man treffen sollte, dann tat es immer gut, sich vor Augen zu führen, was Leben bedeutet: Sterben. Schlafen. Nichts weiter. 

    Ryans Gedanken waren jetzt vollends bei Jasmin und ihrem Sieg angekommen, sein Blick galt nur ihr und ihrem Vater. Doch während sich dieser gerade daran machte, der Kleinen den Schuh neu zu binden, drängte sich etwas anderes in das Bild, etwas Neues. Ryan biss sich auf die Zähne, sein Kiefer verkrampfte, knackte unter der Last, die er ihm auferlegte. Er kannte den Mann, dessen Beine sich soeben zwischen ihn und das kleine Mädchen gedrängt hatten. Ihre Blicke trafen sich. Er hatte dunkles, zur Seite gegeltes Haar und trug einen modischen, schwarzen Mantel, obwohl es dafür eigentlich viel zu schwül war.

    Es passierte schnell, Ryan war chancenlos. Weil der Mann ohne Vorwarnung aufgetaucht war, blieb ihm keine Zeit sich vorzubereiten, geschweige denn dagegen anzukämpfen. Dann sah er es. Zwei Stunden waren genug, um Ryans Leben zu zerstören, es in Trümmer zu zerschlagen. Hätte er noch zögern sollen, darüber nachdenken? Alle Optionen durchgehen? Wozu? Es gab keine Optionen mehr. Ryan konnte die Stimme des Mannes in seinem Kopf hören: Ich möchte, dass du erkennst, dass es keinen Ausweg gibt.

    Es gab immer einen Ausweg! Der Mann machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder nach draußen. Hinter ihm waren Jasmin und ihr Vater bereits verschwunden. Gut. Sie sollte nicht sehen, was gleich passieren würde. Ryan erhob sich, berührte dabei seine Jacke, die glitt vom Stuhl und fiel zu Boden. Egal, er würde sie nicht brauchen, wohl aber das Brotmesser, das auf der weißen Serviette immer noch fröhlich glänzte. Wie in Trance schob er sich Richtung Ausgang, streifte dabei eine Kellnerin, die torkelte und ein Glas Wein von ihrem Tablet auf den Boden fallen ließ. Die weißlich-gelbe Flüssigkeit des Chardonnay entfloh dem zerberstenden Gefängnis aus Kristall und verteilte sich quer über den Boden. An jedem anderen Tag hätte sich Ryan tausendfach entschuldigt, hätte der Dame höchstpersönlich geholfen die Splitter aufzusammeln, um die Folgen seines Missgeschicks aus der Welt zu schaffen. Heute gab es keinen Grund mehr dazu. Er wusste, was er zu tun hatte, was vor ihm lag, hässlich, aber unausweichlich. Alle Blicke waren jetzt auf ihn gerichtet, während er durch die beiden gläsernen Türen zuerst in das Foyer und schließlich nach draußen gelangte. Der Mann in Schwarz war schon ein gutes Stück die Straße hinunter gelaufen. Ryan kam ihm immer näher.

    „Hey!", rief er ihm nach. Der Mann blieb stehen, ohne sich umzudrehen. Damit war alles klar. Ryan wäre per se durch seine Größe und Statur schon ein gefährlicher Gegner gewesen, doch die Tatsache, dass er ein Ex-Militär, ein Mann der Schlacht war, machte ihn zu einem überlegenen Gegenspieler. Er hob das Brotmesser hoch in die Luft, die Messerspitze verdrängte dabei dicke Regentropfen aus ihrer Bahn. Erst jetzt drehte sich der Mann um und blickte entsetzt der Klinge entgegen. Ryan grinste ihn an. Vom Licht einer Straßenlaterne erhellt, blitzte das Silber mehrmals auf, während es durch die kühle Nachtluft schnitt. Es kam seinem Ziel immer näher und verschwand schließlich vollends darin.

    Der Mann japste und taumelte, während Ryan das Messer noch tiefer in seine eigene, rechte Augenhöhle rammte. Der Schmerz durchrannte seinen ganzen Körper, überfiel ihn, drohte ihn zu überwältigen, doch er hielt stand. Jeder Millimeter seiner Physis schrie, brüllte um Erbarmen, aber er konnte nicht aufhören, noch nicht, denn der schwerste Teil stand ihm erst bevor. Mit einem festen Ruck riss er das Messer aus seinem Schädel. Der Schmerz war so überwältigend, dass er auf die Knie fiel.

    Ab jetzt wird es besser, komm schon, KOMM SCHON! Zitternd bewegte er seinen Daumen und Zeigefinger auf das Loch zu, das er soeben geschlagen hatte. Während er in sich hineingriff, begann er zu schreien, brüllte so laut er konnte. Oder vielleicht auch nicht. Er wusste es nicht mehr genau. Seine Sinne begannen sich zu trüben, zu entsagen, faul zu werden. Er kannte jetzt nur noch ein Bestreben und Scheitern war ihm nicht vergönnt. Er tastete scheinbar endlos in sich herum und wurde dabei los, was vor weniger als zwei Minuten noch sein Auge gewesen war. Blut spritzte um ihn herum und färbte den feuchten Teer in ein bedrohliches Zinnoberrot.

    Zuletzt riss er die Hand aus sich heraus und fiel vorn über. Das Eindringen hatte Spuren an seinen Denkprozessen hinterlassen. Es gab keine Sprache oder Logik mehr, keine Mathematik oder Physik, kein Prosa oder Kitsch, es gab nur noch Eines. Obwohl er sich gerade die Hälfte seiner Sehkraft selbst genommen hatte, sah er doch klarer und intensiver als je zuvor. Zuerst Jasmin, dann sie. Es gab nur sie. Sterben, Schlafen und sie.

    Zwei Jahre zuvor

    Ryan drückte sein Augenlid nach unten. Das kalte Stück Metall kam seiner Iris gefährlich nahe. Erst im letzten Moment drehte es ab und fand sein hilfloses Ziel. Ryan zupfte sich mit der Pinzette eine Augenbraue weg, die ihm nicht gefiel. Er war Schmerz gewöhnt, es gab Zeiten, da hatte er dem trübendem Reiz regelrecht nachgejagt, dennoch war ihm gerade dieses Ritual immer unangenehm.

    Er hielt kurz inne, betrachtete sich im Spiegel und musste sich eingestehen, dass der Zahn der Zeit langsam an ihm zu nagen begann. Sonst hatte er sich immer auf die wenigen Merkmale konzentriert, die ihm an sich gefielen: seine blauen Augen, der symmetrisch zulaufende Kiefer mit leichtem Drei-Tage-Bart, die gleichmäßig robuste Haut, geprägt von Jahren in Mali und Afghanistan.

    Seine krumme Nase und die zarten Fältchen um die Augen ignorierte er dabei gerne, genauso wie die Farbe seiner Haare, eine Mischung aus Blond und Braun, nichts Halbes und nichts Ganzes. Weniger Außeneinsätze hätten ihm definitiv gut getan, er konnte die Spuren sehen, die sie hinterlassen hatten und das, obwohl es ganze drei Jahre her war, seit er um Versetzung gebeten hatte. Er wollte gerade ein weiteres Haar ausreißen, als ihn zwei Hände von hinten umklammerten, aus dem Nichts, ohne Vorwarnung. Sie packten ihn und verkrampften sich in seiner Brustmuskulatur. Ryan ließ die Pinzette in seiner Hand fallen, er würde sie nicht als Waffe verwenden können. Mit einem Ruck wirbelte er herum, bewegte die linke Hand des Angreifers über seinen Kopf, ging einen Schritt nach vorne, zog mit seinem Fuß das Bein des Gegenübers in die Luft und ließ ihn zu Boden gehen. Der war jedoch schwerer als erwartet, Ryan versuchte das Gleichgewicht zu halten, kippte dann aber doch vornüber und konnte sich gerade noch so mit den Armen abstützen, sonst wäre er auf die Frau unter ihm gefallen.

    „Früher hast du das eleganter gemacht!", stichelte Mia.

    „Und du warst früher nicht so grob!"

    „Was soll ich machen, ich mag deine Brust!", erwiderte sie, streckte ihm die Zunge raus und zwinkerte. Sie lag unter ihm. Ihr kastanienbraunes Haar und die grünlich-blauen Augen erstrahlten selbst im Licht der spärlich leuchtenden Deckenstrahler ihres Badezimmers.

    Sie begann breit zu grinsen und schon hatte sie Ryan ganz in ihren Bann gezogen. Obwohl er keine Chance hatte, ihren Brüsten oder dem straffen Bauch zu widerstehen; hätte er wählen müssen, er hätte sich für ein anderes Attribut an ihr entschieden: auf ihren Wangen entstanden zwei kleine Grübchen. Mit ihnen sah Mia aus, wie der glücklichste Mensch auf Erden. Wenn sie ihn so anlächelte, dann war die Welt gut und das Leben schön.

    „Ich liebe dich, flüsterte er ihr zu. Mia blickte ihm tief in die Augen, hielt kurz inne und sagte: „Danke.

    Mit einer flinken Drehung nutzte sie Ryans Blöße aus und drehte den Spieß um. Dann attackierte sie seinen einzigen Schwachpunkt, sein großes Geheimnis, eine Stelle direkt unterhalb der Arme. Sie griff beherzt zu und Ryan prustete los, weil das Kitzeln gar so unerträglich wurde. Irgendwann ließ sie doch Gnade walten und begann ihn zu küssen.

    „Nein, nein….", nuschelte er, während Mia ihren Kiefer geradezu auf den seinen presste.

    „…Ich muss los!"

    „Warum das denn?", fragte sie und zog dabei eine Braue hoch.

    „Grinder will mich sehen." Bei dem Namen verdrehte sie die Augen. Ryan wusste, dass sie seinen Chef nicht ausstehen konnte. Der Grund dafür war nicht mal Grinder selbst, sondern eher das, wofür er stand. Grinder war Teil der Maschinerie, die Ryan immer wieder auf Einsätze befehligt hatte. Mia kannte die Abgründe, die das Leben als Soldat tief in Ryans Seele geschlagen hatte und wäre sie nicht gewesen, wer weiß, ob ihm dann noch etwas von seinem Selbst übrig geblieben wäre. Obwohl das alles nun vorbei war und weit hinter ihm lag, hatte sie den Groll gegen Grinder nie ganz vergessen können.

    „Es ist Samstag, was will der denn?", schnaubte sie.

    „Irgendwas wegen einem Vorfall in London. Er braucht die Meinung von Leon und mir. Von Analysten."

    Mias Miene verfinsterte sich. Sie konnte Grinder wegen seiner Position und Haltung nicht leiden, doch gegen Leon schien sie unabhängig davon einen regelrechten Groll zu hegen. Ryan war es bis heute ein Rätsel, wo ihre Abscheu seinem Arbeitskollegen gegenüber herkam. Vielleicht gefiel ihr einfach nicht, dass Leon sehr ‚frei Schnauze‘ redete und selten ein Blatt vor den Mund nahm, oder es war einfach ein Gefühl von ihr, eine Präferenz, etwas, worauf sie nicht viel Einfluss hatte. Bestimmt würde er eines Tages den wahren Grund dafür erfahren, aber nicht heute, denn… ein bisschen mochte er es, wenn sie so war. Wenn der Zorn in ihr hochkam, die Augen zu brennen begannen und man förmlich ein Beben spüren konnte. Er wusste ganz genau was er zu tun hatte, um dem entgegenzuwirken, es gab nur die Flucht nach vorn.

    Er küsste Mia sanft auf die Stirn und legte die Handflächen auf ihre Wangen.

    „Es wird nicht lange dauern, versprochen."

    Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

    „Na gut. Trotzdem schade…", seufzte sie.

    „Was schade?"

    „Dass du zu spät kommen wirst!" Sie lag immer noch auf ihm, in ihrem blauen BH und weißem Höschen. Sie stand auf und zeigte Ryan an, ihr zu folgen.

    „Hast du’s vergessen?", sagte sie, während sie rückwärts aus dem Badezimmer hinaus und in den Flur der kleinen Wohnung lief. Sie bewegte sich langsam und mit Bedacht, es war fast wie tanzen, zu einer ruhigen Melodie, die man nicht hören konnte. Licht von draußen brach durch die Fenster und umrandete ihren grazil geformten Körper, das glatte, dunkle Haar, die kleine Narbe seitlich an ihrem Knie und den hellen Fleck am linken Oberschenkel.

    „Ich habe es nicht vergessen. Es ist zwei Jahre her, seitdem du nicht mehr im Krankenhaus warst. Ich hab’s dir da doch versprochen!" Bei den Worten nahm sie ihren BH ab und warf ihn einfach weg. Sie blickte Ryan herausfordernd an, den Kopf leicht geneigt, wie eine Katze, die ihrer Beute auflauerte. Mittlerweile war sie durch die offene Tür ins Schlafzimmer gelaufen. Sie ließ sich rückwärts auf das Bett gleiten und begann, vor Ryan ihr Höschen auszuziehen.

    1.

    Ryan kam zu spät. Grinder musste wegen ihm einen Termin vorziehen, jetzt hatte er zu warten, bis dieser vorbei war, also machte er es sich in dem kleinen Pausenraum der Analystenabteilung bequem. Obwohl er seit zwei Jahren dort arbeitete, nutzte er dieses Zimmer nur sehr selten. Meistens hatte er viel zu tun. Zwar war er kein studierter Experte auf dem Gebiet, doch zeigte sich gleich zu Beginn, dass er Talent besaß, zudem noch mehr Felderfahrung als die ganze Abteilung zusammen.

    Sie waren an diesem Standort ein fünfköpfiges Team. Nicht gerade viel, aber man konnte damit arbeiten. Ryans Position wurde anfangs offen gelassen, er hatte sich dann aber sehr schnell in einer Führungsposition etabliert, was natürlich mit irgendeinem militärischen Rang verbunden war. Der hätte Ryan jedoch nicht unwichtiger sein können, er hatte in seiner Zeit als Soldat beim Leutnant aufgehört sich darüber Gedanken zu machen. Untypische für einen Militär, genauso wie der Grund, warum er überhaupt in den Dienst der Regierung getreten war.

    Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern, wie er es immer tat, wenn er Zeit und nichts Besseres zu tun hatte. Einen Einrichtungspreis hätte man mit diesem Zimmer wohl nicht gewinnen können. Es gab eine kleine, weiße Küchenzeile mit braun befleckter Kaffeemaschine, einen Kühlschrank, aus dem es modrig roch, wenn man ihn öffnete und einen kreisrunden Tisch mit vier türkisefarbenen Stühlen davor. Sein Blick blieb stehen, verharrte an dem einzigen Gegenstand, den er aufrichtig mochte. Es hing an der Wand. Allein gelassen und umgeben vom trägen, vergilbten Weiß der Wände. Nicht einmal in einem Bilderrahmen, sondern lediglich mit einem Reißnagel am Putz fixiert. Es war die Seite aus einem Buch. Die Schrift war alt, verblasst und teilweise schwer zu entziffern. Sie stammte aus einem der Romanen von Sir Arthur Conan Doyle, natürlich Sherlock Holmes, genauer gesagt ein Auszug aus der Kurzgeschichte ‚The Adventure of the speckled Band‘. Einer seiner besten? Keineswegs. Nicht einmal die Analyse, die Holmes während des ‚Kundengesprächs‘ durchführte, wäre sonderlich beeindruckend gewesen. Es waren vielmehr Watsons Gedanken, die diesen Textabschnitt für Ryan so interessant machten: „…es gab für mich keine größere Freude, als Sherlock Holmes bei der Arbeit zuzusehen. Immerzu bewunderte ich seine Fähigkeit der Deduktion, so flüchtig wie Intuition und doch immer aufgebaut auf den Gefilden der Logik."

    Klingt irgendwie, als sei Watson in ihn verschossen! Bei dem Gedanken huschte Ryan ein Grinsen über die Lippen.

    Nach einer Weile, in der er über die seltsame Beziehung zwischen Holmes und Watson sinniert hatte, entschied er, dass er nun doch lange genug gewartet hatte und wollte gerade den Weg zu Grinders Büro einschlagen, als sich ihm eine junge Dame in den Weg stellte. Sie trug eine rote Brille, die ihr eindeutig zu groß war, hatte schwarzes, zerzaustes Haar und trug etwas zu viel Make-Up. Das war Laura Kindel, Mitarbeiterin in der Abteilung für Analyse und Gefahreneinschätzung.

    Sie stemmte ihre Hände in die Hüften, fixierte Ryan mit strengem Blick und brabbelte los: „Warum will Grinder Sie sehen? Wir hatten nichts zu tun mit diesem Fiasko. Generell hatten wir in letzter Zeit eigentlich nur Erfolge zu feiern und..."

    „Warum, fiel ihr Ryan ins Wort, „sind Sie überhaupt hier? Ich hab Ihnen gesagt, dass Sie dieses Wochenende frei haben. Er hatte sich lange daran gewöhnen müssen die Befugnis zu besitzen, Leuten frei zu geben oder sie zur Arbeit zu verdonnern. Ersteres war ihm immer lieber.

    „Recherche. Nachdem ich gehört habe, dass Grinder Sie wegen London sprechen will, hab ich…"

    „Woher wissen Sie das überhaupt?, unterbrach Ryan sie erneut, „Das ist eigentlich streng geheim!

    Laura zögerte kurz, dann antwortete sie: „Ich bin Analystin. Sie blickte zu Boden und murmelte: „Ich erfahre so etwas eben.

    Ryan konnte sich sehr gut vorstellen, woher sie diese Information bekommen hatte. Alle wussten, dass er eine Schwäche für sie besaß. Und sie wäre dumm gewesen, das nicht auszunutzen. Zu ihrem Glück konnte Ryan sie gut leiden. Sie konnte zwar sehr anstrengend sein, manchmal trieb sie einen regelrecht an den Rand des Wahnsinns, aber sie war in Ordnung. Sie war stimmig. Ihr Stil passte zu ihrem Charakter, ihr Verhalten zu ihren Motiven. Ryan mochte solche Leute, denn in der Regel fielen ihm bei den Meisten immer Details auf, die nicht zueinander passten. Seien es die teuren Schuhe zum Schmuddel-Outfit, die gezupften Augenbrauen zum ungepflegten Bart, oder das freundliche Lächeln zum bösen Wort. Bei den meisten Charakteren passten Dinge nicht zueinander. Manchmal gab es dafür Erklärungen, aber viel zu oft war die Antwort darauf ganz einfach die, dass die Zielperson in sich nicht stimmig war. Und nicht stimmig bedeutete meistens gefährlich. 

    „Na gut, tun Sie mir einen Gefallen: Da Sie jetzt eh schon hier sind legen Sie mir alles auf den Tisch, was Sie über London herausgefunden haben. Arbeiten Sie weiter daran!" Laura blickte strahlend vom Boden auf.

    Mit einem „Wird gemacht!", wuselte sie in Glückseligkeit davon. Ryan blickte ihr kopfschüttelnd hinterher. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sich zu beeilen hatte. Grinders Termin müsste sich mittlerweile verabschiedet haben.

    2.

    Ryan trug nicht viel bei sich. Das tat er nie. Er war kein Freund von tragbaren Computern oder Handys, benutzte lieber Block und Stift, wenn es darum ging, die wichtigsten Informationen eines Briefings festzuhalten.

    Vor der schweren Eichentür zu Grinders Büro angekommen, klopfte er zweimal an und wartete auf das „Herein".

    Als er die Tür öffnete, bot sich ihm der übliche Anblick. Das große, lichtdurchflutete Büro mit dem noch größeren Schreibtisch aus Holz hatte sich in den letzte Jahren genauso wenig verändert, wie sein Besitzer.

    Rodewig Remus Grinder saß an seinem gewohnten Platz hinter dem Mahagoni Monstrum. Er war ein alter Haudegen, wie er im Buche stand. Graues Haar, rasierte Seiten, schlichte, schwarze Uniform. Die Züge geformt von Strenge und Disziplin, jede Falte hart erkämpft und voll verdient, die Hände groß wie Bratpfannen, doch gewisslich sauber gehalten. Die Wand hinter ihm war ausgefüllt mit einem Regal enormer Größe, das farblich zum Schreibtisch passte. Darin waren neben Fotos von seinen Kindern, eine Reihe mit bestem Single Malt Scotch aus verschiedensten Ländern, hunderte Akten und Bücher, sowie mehrere kleine Modelle von Panzern und Düsenjets. Grinder war ein Mann der alten Zeit und alte Zeit hieß oft Klischee. Ryan mochte genau das besonders an ihm. Auf einem der beiden Stühle vor dem Schreibtisch saß Leon.

    Leon war offiziell der Chef ihrer Abteilung, auch wenn sie beide seit einem Jahr die Entscheidungen in Absprache miteinander trafen. Eigentlich keine gute Idee, doch bei ihnen funktionierte es auf diese Weise sehr gut. Sie waren meistens einer Meinung und ihre Fähigkeiten ergänzten sich. Leon war schon sehr lange dabei und bekannt wie ein bunter Hund. Es gab wohl keinen Geheimdienst auf dieser Welt, zu dem er nicht mindestens einen guten Kontakt hatte und Ryan kannte niemanden, der so viel telefonierte wie er. Außerdem konnte Leon besser mit digitalen Technologien umgehen, was er nie an die große Glocke hing, aber es fiel Ryan immer auf, wenn er ihn am Computer beobachtete und auch, wenn sie sich über die neuste Entwicklungen im Bereich der digitalen Innovation unterhielten.

    Ryan hingegen brachte dann seine Expertise ein, wenn es um Handlungen im Feld, die Psyche von Soldaten, oder taktische Entscheidungen ging.

    Leon drehte sich zu ihm um und grinste ihn an. Wie immer trug er ein hellblaues Hemd, eine burgundfarbene Krawatte und graue Hose. Sein schwarzes, dünnes Haar saß etwas lockerer und unkontrollierter als sonst, passte aber zu den dunklen, braunen Augen und der kleinen Delle oberhalb der rechten Augenbraue, die er von einem Sturz aus der Kindheit davongetragen hatte. Anders als bei Ryan, hatte Leons Haut nie viel vom Ausland abbekommen, er war dementsprechend blasser und mochte den Winter lieber als den Sommer. Ryan setzte sich neben ihn und meinte flüchtig: „Schöne Grüße von Laura."

    Leon hatte den kleinen Seitenhieb sofort verstanden. Er lächelte ihn sarkastisch an und sagte „Danke."

    Diese zwei…, dachte Ryan bei sich. Jeder wusste doch, dass Beziehungen zwischen Arbeitskollegen dumm waren, geradezu hirnrissig. Wo die Liebe eben hinfällt…

    Grinder erhob das Wort: „Meine Herren, ich werde ehrlich zu Ihnen sein." Jetzt erst fiel Ryan auf, dass er krank und müde aussah.

    „Sie beide sind die besten Analysten, die mir zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Das ist keinesfalls schmeichelnd gemeint, mir wäre es auch lieber, wenn wir jemand anderen hätten."

    Charmant wie immer, schoss es Ryan durch den Kopf. Doch obwohl Grinder ihm und seinem Kollegen gerade eine regelrechte Beleidigung entgegen geworfen hatte, änderte das nichts daran, dass er diesen Mann unglaublich gut leiden konnte und ihn seinen gelegentlichen Mangel an Fingerspitzengefühl gerne verzieh. Ryan und Grinder verband weit mehr als nur eine Arbeitsbeziehung, viel mehr als das. Tatsächlich hatte er ihn in seinen ersten Tagen beim Militär kennengelernt. Damals war es Grinder gewesen, der von sich aus auf ihn zugegangen war. Auf die spätere Frage, warum ein Generalmajor Austausch mit einem einfachen Soldat in der Grundausbildung pflegte, antwortete er: Ryan sei ihm aufgefallen.

    Vielleicht hatte er Ryans Motivation durchschaut, denn er war damals zum Militär gekommen, weil er seinem Leben einen Sinn verleihen wollte, weil er eben nicht wollte, dass es so zwecklos endete, wie es begonnen hatte. Seine Idee war einfach und kindisch: Ins Militär gehen, kurz die Ausbildung mitnehmen und dann die gefährlichsten Jobs übernehmen, die es dort gab. Dann würde er hoffentlich den Platz von einem Familienvater oder sonst wie geliebten Menschen einnehmen können. Er war ein Junge gewesen, ohne Selbstwert, ohne Stolz, ohne den Willen zu leben.

    Ein wenig später war es auch Grinder, der ihn als jüngsten Soldaten der Geschichte in die Ausbildung zum Einzelkämpfer gesteckt hatte. Sie waren keine Freunde, trafen sich nicht regelmäßig zum privaten Barbecue oder zum Fußballschauen, doch verband sie etwas Tieferes, etwas Echtes. Vielleicht war er sogar so etwas wie ein Vater für Ryan.

    „Wir haben nicht sehr viel Zeit, darum werde ich gar nicht lange drum herum reden. Sie wissen, es geht um London."

    Leon meldete sich zu Wort: „Ja, London, fünf Tote, ein Täter. Terroristischer Hintergrund ist nicht auszuschließen, ein Bekenntnis zur Tat gab es bislang aber nicht. Der Vorfall ist zum Glück bisher nicht an die Medien vorgedrungen. Bis auf weiteres soll das auch so bleiben."

    „Und Sie Ryan, fragte Grinder. „Was wissen Sie darüber?

    „Na ja, nur das aus dem kurzen Briefing. Wir waren bis jetzt nicht an Operationen in London beteiligt, hatten also auch keinen Zugang zu den Informationen rund um das Thema. Ich vermute aber mal, wenn Sie schon so fragen… Ryan lehnte sich nach vorne und senkte seine Stimme „…, dass Sie etwas mehr wissen, als wir beide?

    Grinder seufzte. Er erhob sich und ging zu dem Tablett mit der Scotch-Karaffe hinüber. Während er sich geschäftig daran tat, die goldene Flüssigkeit in ein Kristallglas zu füllen, begann er zu erklären.

    „Das was Sie jetzt hören, ist streng vertraulich. Sie wissen, was das heißt!" Er hielt kurz inne und blickte ihnen geradewegs entgegen.

    „Natürlich!", sagten Leon und Ryan im Chor. Grinder drehte sich wieder zu dem flüssigen Gold vor sich.

    „Also... London."

    3.

    Die Zuckerdose auf dem Tisch war eine seltene, eine schöne. Genauso wie das Teeglas davor und wie der Laden, in dem sie sich befand. Das Mobiliar war im arabischen Stil gehalten und auch das Klientel war arabischer Herkunft. Ein paar Eigenheiten in ihrer DNA färbten ihre Haare schwarz und ihre Haut karamellbraun. Ein paar Eigenheiten in ihrer DNA, die es ihnen in diesen Tagen durchaus schwer machen konnten. Links am Tisch neben ihm saß eine sehr attraktive Frau. Schwarzes Haar, traditionell buntes Kleid, wie es die Inder bei ihren heiligen Festen trugen.

    Er hatte überlegt sie anzusprechen, bis ihr Mann mit der gemeinsamen Tochter aufgetaucht war. Jetzt saßen sie zufrieden dort drüben, lachten, aßen Baklava und Matthew saß immer noch allein an seinem Tisch. Weiß Gott, warum er überhaupt hier war, er selbst wusste es jedenfalls nicht. Ihm war alles entglitten, alles und jeder. Seine Freundin hatte ihn verlassen, weil sie sagte, er sei gruselig. Seinen

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