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Die letzten Wolkensegler: Roman
Die letzten Wolkensegler: Roman
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eBook392 Seiten5 Stunden

Die letzten Wolkensegler: Roman

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Über dieses E-Book

"Seither kannte er den Preis für ein Menschenleben und wusste, dass man es nur geliehen, aber niemals verliehen bekam."
Eine rätselhafte Anomalie verändert die Welt: Kommen sich die Menschen näher als fünfzehn Meter, sterben sie; ohne erkennbaren Grund, ohne Vorwarnung, ohne Ausnahme. Die Überlebenden bleiben versteckt – allein mit sich und ihrer Hoffnung.
Auch der junge Chen muss fliehen. Er lebt vier Jahre lang einsam in einer Waldhütte, bis ein außergewöhnlicher Mensch seinen Weg zur Gänze neu bestimmt: Der Wolkensegler.

"Dieses Werk ist eine tiefgreifende Entdeckungsreise zu uns Menschen selbst. Wenn Worte Bilder zum Tanzen bringen, dann mach Dich auf den gefühlvollsten Tango Deines Lebens gefasst!" – Wahre-Werte-Magazin
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum14. Aug. 2021
ISBN9783754152515
Die letzten Wolkensegler: Roman
Autor

Lukas Kellner

Lukas Kellner ist ein junger Regisseur und Autor aus dem Allgäu. Seine Werbe- und Kurzfilme durften dank ihrer Einzigartigkeit und der besonders spannenden Erzählweise mehrere nationale und internationale Filmpreise gewinnen. Sein Debüt als Buchautor gab Kellner im November 2020 mit dem Thriller 'Augenreisser'.

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    Buchvorschau

    Die letzten Wolkensegler - Lukas Kellner

    Überlebender

    Chen erwachte, sah in den Spiegel und fühlte sich schlecht. Er sah auch schlecht aus. Langsam fuhr er sich über die müden Augen und vermochte nicht viel in seinem „Spiegel zu erkennen. Ein Außenstehender hätte der Scherbe vor ihm wohl die Bezeichnung „Spiegel verwehrt, ihn denunziert oder wenigstens in der Namensgebung auf seine Unvollkommenheit hingewiesen. Doch Chen nannte das Stück Glas genau so, einen Spiegel, denn das fühlte sich besser für ihn an. Normaler.

    Von den braunen Wänden flackerte das Licht der Petroleumlampe und tanzte um die Schatten herum, die sich hinter Chens Rücken formierten. Draußen war es noch dunkel. Die Sonne würde sich innerhalb der nächsten Stunden über dem Wald erheben, doch bis dahin lag das Geäst weiterhin in triefender Schwärze da. Chen betrachtete sich kritisch und konzentriert, stellte bald fest, dass er es geschafft hatte, sein Gewicht zu halten. Trotzdem fielen feine Schatten über seine Wangen und waren Zeuge von der Mangelernährung, die ihm vor allem in den letzten Wochen schwer zu schaffen machte. 

    Seine Augen waren grün und erinnerten ein bisschen an die Farbe eines Prachtkäfers. Stand das Sonnenlicht richtig, erstrahlten sie voll des Stolzes, trat Chen hingegen in den Schatten hinein, so sogen sie auch die Dunkelheit in sich auf und verloren ihr schönes Funkeln. Sein Haar war schwarz, dünn, fast schon seidig. Früher hatten sie ihn darum beneidet, die anderen Männer. Selbst ohne Haarwachs konnte er seine Frisur drapieren, wie es ihm gerade gefiel, sie blieb immer in Form und Gestalt, genau so, wie er es eben haben wollte. Dabei wäre es ihm lieber gewesen, er hätte mehr von der Körpergröße der anderen gehabt. Mit seinen 1,75 Metern war er einer der Kleinsten gewesen, in einer Welt, in der Größe zählte. Und einen Bart. Den hätte er gerne gehabt, doch wuchs der bei ihm nur fleckig-flaumig, so dass er zum Vollbart niemals taugen würde. Er hatte sich damit abgefunden. Es ging vielen Asiaten so. Es ging vielen Männern so. Dafür hatte er ja seine Haare.

    Er nahm den kleinen Kanister und füllte Wasser in die weiße Schale vor ihm. Nachdem er sich gewaschen und von der Trägheit der Nacht befreit hatte, stellte er die Schüssel zurück auf den Boden, setzte sich auf den dreibeinigen Hocker davor und zog sich die Socken von den Füßen. Es sah grausig aus. Zwei neue Blasen waren hinzugekommen und dort wo die alten verschwunden waren, lagen jetzt tiefe, nässende Krater aus Fleisch und Blut. Vorsichtig tunkte er mit den Zehen in die Schale. Seine Finger vergruben sich in seinen Oberschenkeln, als der Schmerz von den Füßen hinauf in die Hüfte strahlte und sich darin verbiss. Er hatte keine Binden mehr, aber noch trieb ihn der Hunger nicht in das nächste Dorf, also würde er sich vorerst mit einem selbstgemachten Wickel aus Spitzwegerich und anderen Heilkräutern versorgen müssen. Er behandelte die betroffenen Stellen vorsichtig mit den grünen, entzündungshemmenden Blättern, die er bereits tags zuvor gesammelt hatte und zog sich die Socken wieder an. Während er sich die Klamotten überstreifte, bemerkte er den Duft von Ammoniak, der sich faulig-brackig in der Hütte ausbreitete. Er würde T-Shirt, Hose und Pullover waschen müssen. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen und der Stoff hatte schon lange kein Wasser mehr gesehen.

    Der Anblick seiner Füße, gepaart mit dem schwer zu ertragenden Geruch, den er nicht mehr aus seiner Nase bekam, führte ihm vor Augen, was an diesem Tag alles auf dem Spiel stand. Heute musste er erfolgreich sein oder er würde wieder an Gewicht verlieren. Er nahm den Sportbogen und legte sich den Köcher mit den Pfeilen um. Danach griff er zu dem braunen Unterarmschutz, der an einem Haken neben seinem Spiegel hing und wickelte ihn sich an die empfindliche Stelle oberhalb der linken Hand, dort wo blanke Haut vom scharfen Schnitt der Sehne beschützt werden musste. Das Messer. Die Feldflasche. Dann hinaus.

    Die Vögel waren wie immer die ersten und fieberten dem Tag in voller Lautstärke entgegen. Chen ging den gewohnten Weg und hüpfte dabei immer wieder über die vielen, kleinen Bäche, die seinen Wald durchzogen. Ein magischer Wald. Das war er damals schon und das war er geblieben. Das Holz, die Blätter, Pilze und Moose hatte es nicht gekümmert, kein bisschen hatte sie das Sterben interessiert. Vielleicht lag es daran, dass dieser Ort bereits früher nur sehr wenig Menschen kannte, denn er war schwer erreichbar, durch Täler und Schluchten hindurch; Straßen und Parkplätze fehlten, waren fremd und unnötig, weil es ohnehin keine fahrenden Autos mehr gab. Zur nächsten Kleinstadt brauchte es einen Fußmarsch von drei Tagen, doch mied jetzt jeder die Städte.

    Normalerweise redete Chen mit sich selbst, wenn er im Wald unterwegs war. Dann erzählte er sich von seinem Tag und tat manchmal überrascht, so als hätte er gar nicht ahnen können was ihm, Chen, bisher passiert war. Er war sich selbst der beste Zuhörer geworden und lauschte unentwegt seinen eigenen Erzählungen. Wieder sprang er über ein kleines Bächlein. Es war der Yukon. Er hatte diesem kleinen Wasser einen Namen gegeben, so wie er es mit allen Wasserzungen tat, die den Wald durchzogen. Als ihm keine berühmten Flussnamen mehr eingefallen waren, hatte er ihnen einfach Menschennamen gegeben. Gerade überquerte er Ashoka. Sie war die Schönste von allen, denn ihr Ufer war gleichmäßig bemoost und ihr Grund klar, wie bei einem erhabenen Gebirgsbach, bei dem einem vor Kälte die Zähne wehtaten, wenn man daraus trank.

    Die Vögel wurden jetzt lauter und seine Umgebung immer heller. Es war das unausweichliche Schicksal der Nacht, jeden Tag aufs Neue: gleich würde sie sich geschlagen geben und ihren Niedergang hatte man bereits seit Stunden kommen sehen. Hätten sie es damals auch kommen sehen müssen? Hätte er es kommen sehen müssen? Sein Vater hatte ihm damals am Telefon davon erzählt, als es anfing. Von einem kleinen Clan, der noch nach den Traditionen der alten Welt lebte, Bartmäer nannten sie sich. Sein Vater hatte Kontakt mit einem Mann der Bartmäer namens Shi. Obwohl die Familie eher zurückgezogen lebte, kannten sie sich aus Schulzeiten und waren Freunde geblieben. Shi erzählte Chens Vater, dass seine Großeltern etwas im Gebet gesehen hätten, die Vision eines schrecklich-grausigen Unglücks, das ihnen allen bevorstand. Deswegen würden sie sich auf den Myoko-Berg zurückziehen und beten. Eine Woche später waren alle auf einen Schlag tot. Sie waren eine der Ersten gewesen.

    Der Wald wurde lichter. Chen musste fast eine halbe Stunde unterwegs gewesen sein, doch seit Ashoka hatte er kein Wort mehr gesprochen. Stille war das Gebot der Stunde, wenn er heute erfolgreich sein wollte. Erst an der Waldgrenze blieb er stehen. Vor ihm erstreckte sich eine riesige Grasfläche: Links endete sie einige hundert Meter weiter an einer Schlucht, rechts schien sie bis in die Unendlichkeit zu verlaufen. Am Horizont zeichnete sich der Myoko-Berg ab. Zu dieser Jahreszeit lag sein Gipfel in glitzerndem Weiß, angestrahlt von der aufgehenden Sonne, umgeben vom feinen Dunst des Morgens.

    Chen nahm einen Pfeil aus dem Köcher und klemmte die Sehne in die Nocke hinter der Befiederung. Dann legte er sich auf die Lauer. Er musste jetzt Geduld haben. Zeit hatte er immer, die Geduld war stets die Herausforderung. Zeit hatten sie jetzt alle. Früher war es das größte Problem gewesen, so groß, dass sich eine ganze Branche darauf erbaute. Zeitmanagement, effizientes Leben, Work-Life-Balance; Chen dachte damals, sein größtes Problem sei es, zu wenig von dieser kostbaren Zeit zu besitzen. Heute war sie alles, was er hatte, sein Segen und furchtbarer Fluch zugleich. Zeit im Übermaß.

    Nach einer Weile fixierte er gleichzeitig Bogen und Pfeil mit der linken, um der angespannten rechten Hand eine Pause zu gewähren. Er begann mit dem Zeigefinger im Dreck herumzustochern. Der Boden war feucht vom Tau der Nacht, doch es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet und grub man etwas tiefer, wurde die Erde staubig, sodass man Formen darin zeichnen konnte, wie beim Spiel im Sand. Er griff nach einer Eichel und trennte die Frucht vom hölzernen Hut. Mit seinem Daumennagel versuchte er die Nuss zu knacken. Vergebens. Sie machte keine Anstalten ihre schützende Hülle aufzugeben und ihr Fruchtfleisch zu offenbaren. Er würde beide Hände dafür brauchen. Wohl eher beide Hände und einen Stein. Das würde dann Geräusche machen. Aber Stille war das Gebot der Stunde.

    Die Sonne hatte sich jetzt endgültig über dem Horizont erhoben. Dort, wo sie nicht von Bäumen oder Hügeln unterbrochen wurde, trafen ihre Strahlen auf das Gras und ließen den feuchten Tau hübsch glitzern. Es war eine malerische Landschaft, geradezu paradiesisch, doch Chen hatte schon lange den Blick dafür verloren. Zu oft war er hier gelegen und hatte den immer gleichen Sonnenaufgang beobachtet. Zwar glich kein Tag dem nächsten, aber die Unterschiede wurden zuweilen immer kleiner.

    Jedoch erhielt einer dieser Unterschiede soeben Chens volle Aufmerksamkeit. Sie bewegten sich in einer Gruppe aus fünf. Er ging voran, die Frauen folgten ihm. Eines von ihnen war noch ein Kalb. Sie waren der Grund, warum Chen noch vor Sonnenaufgang aufgestanden und einen langen Fußmarsch in Kauf genommen hatte. Die Rehe setzten jeden Schritt mit Bedacht, während sie auf offener Fläche nach frischem Gras und saftigen Kräutern suchten. Immer wieder hob der Rehbock den Kopf, dann taten es ihm die Kühe gleich und hörten für einen Moment auf zu kauen. Wenn er dann doch keine Bedrohung witterte, senkte er den Kopf wieder ab und auch die Kühe kauten weiter. Sie passten aufeinander auf. Eine Familie. Chen beneidete sie. Jedes Mal wenn er sie sah, beneidete er sie für das, was sie hatten. Dass sie einander nahe standen. Wörtlich und bildlich. Ob sie wussten, was für ein Glück das war? Dass nur die Tiere verschont blieben? Nein, die Tiere hatten von all dem nichts mitbekommen. Genauso wenig wie die Bäume, die Berge, die Erde, das Universum.

    Chen schüttelte die rechte Hand, um sie vom Dreck zu befreien, führte sie zur Sehne und setzte dann mit Zeige- und Mittelfinger oberhalb und mit Ring- und kleinem Finger unterhalb des Pfeils an. Er versuchte seine Atmung auf ein Minimum zu reduzieren und ließ die Augen für keine Sekunde von seinem Ziel abweichen. Er würde wählen müssen. Sich festlegen. Sonst war kein Treffen möglich. Er entschied sich für die Kuh, welche etwas abseits der Herde stand. Sie hatte besonders schönes Fell und wenn die Sonne im richtigen Winkel traf, dann glänzte es wie eine frisch polierte Bronzemünze. Langsam erhob er sich. Millimeter für Millimeter, solange bis er kniete. Er stellte das linke Bein nach vorn, vergrub die Zehen in der Sohle seines Schuhs und war bereit. Es war kein einfacher Schuss, die Distanz eigentlich zu groß, doch er musste treffen, Versagen war keine Option. Nahrung war notwendig, das Fleisch seine letzte Möglichkeit, denn sonst musste er wieder in das Dorf hinabsteigen und das widerstrebte ihm mehr als alles andere. Beim letzten Mal war er zwischen Holz und Häusern vor Angst beinahe verrückt geworden.

    Langsam spannte er den Bogen. Seinen linken Arm hielt er dabei ausgestreckt, die Sehne führte er so nah an seine Wange wie möglich. Es kostete ihn eine Menge Kraft diese Position zu halten und die Muskeln in seinem Rücken jammerten, warnten vor Krämpfen und Versagen. Er würde einmal noch Luft holen müssen, bevor er einen Schuss abgeben konnte. Chen stabilisierte seine Körpermitte, schloss die Augen und konnte die Häuser des Dorfes sehen, er dazwischen, irrend, stolpernd, auf ständiger Flucht. Niemals wollte er da wieder hin. Niemals…

    Er öffnete die Augen und atmete tief ein. In dem Moment schnellte der Kopf des Rehbocks nach oben. Scheiße! Er hatte ihn bemerkt. Jetzt oder nie! Chen ließ die Sehne los, der Pfeil schnellte durch die Luft, die Metallspitze glitzerte, während sie sich dem Ziel näherte, todbringend oder heilbringend, im Grunde beides zu gleichen Teilen. Doch es war zu spät. Als der Pfeil traf, war da nur noch Erde und kein Fleisch. Chen fluchte, als die Herde schon in Panik davongaloppierte und schließlich einige hundert Meter von ihm entfernt im Wald verschwand. Er schlug mit der Faust auf den Boden.

    Es war seine einzige Chance gewesen. Die Sonne stand mittlerweile höher am Himmel und die Rehe würden nicht zurückkehren. Sie waren den Anblick von Menschen nicht mehr gewohnt und deswegen noch scheuer geworden als damals schon. Er hatte seine Chance vertan. Kein Grund mehr leise zu sein. Wohl aber Grund, noch ein weiteres Mal auf den Boden zu schlagen, dass ihm die Faust wehtat und ganz rot wurde. 

    Der Pfeil. Den würde er wieder brauchen. Widerwillig erhob er sich, rieb sich dabei die schmerzende Hand und ging auf die Stelle zu, an der noch vor wenigen Sekunden die Rehe gegrast hatten. Früher hätte ihm dieser Weg sehr viel Angst bereitet. Von allen Seiten hätte ihm der Tod auflauern können, nur darauf geeicht, ihm die Zeit zu nehmen, die ihm auferlegt war. Heute prüfte er nicht einmal mehr den Horizont. Er war allein hier, verlassen von allem und jedem. Als er nach oben in den Himmel blickte, bemerkte er, dass diese Annahme doch nicht ganz richtig war. Der hatte ihm gerade noch gefehlt!

    „War klar, dass du dabei bist, wenn mir so ein Malheur passiert!" Chen beobachtete den Milan, der über ihm seine Kreise zog. Er gab dem Greifvogel Zeit zu antworten und nickte zustimmend, obwohl es freilich keine Stimme gab, die das Wort an ihn gerichtet hatte.

    „Ja, ja, hör bloß auf zu lachen. Du bist auch nicht das Jagdgenie schlechthin!" Wieder wartete er ab und stellte sich eine Antwort des Tieres vor, auf die er dann reagieren konnte.

    „Pff, König der Lüfte, du bist eingebildet geworden!" Nach dieser doch eher schroffen Spitze stimmte Chen etwas versöhnlichere Töne an.

    „Na ja, egal, vergessen wir’s. Wie geht es deiner Familie?" Wieder wartete er eine Antwort ab, um dann munter weiter mit sich selbst zu reden.

    „Schön… Was? Ja, ja bei mir ist alles beim Alten. Ich glaube, ich lasse die Hütte demnächst mal renovieren. Wenn es windet, dann zieht’s und pustet’s bei mir, das ist nicht gut…", den letzten Nebensatz flüsterte Chen nur noch. Er war mittlerweile bei seinem Pfeil angekommen, die Stelle, an welcher die Rehe gegrast und er ihnen aufgelauert hatte. Doch interessierte ihn sein Eigentum augenblicklich wenig. Kein Geräusch, sondern ein Gefühl hatte ihn stutzig gemacht und ihm einen Schauer über Nacken und Rücken gejagt. Er ging langsam in die Knie, spannte seinen Bogen und fixierte die Waldkante. Er suchte nach der Stelle, an der er vor wenigen Momenten gelegen und im Dreck herumgekratzt hatte. Dort war nichts. Meter für Meter tastete er den Waldrand mit den Augen ab und hielt dabei den Bogen weiterhin gespannt. Er fühlte sich wie ein Kind, das zur Schlafenszeit im Dunkeln ein Monster zu sehen glaubte. Obwohl er es besser wusste, konnte er sich doch nicht gegen das Herzklopfen wehren, genauso wenig wie gegen das Schwitzen, die Übelkeit und den dringenden Wunsch, die Beine in die Hand zu nehmen und davonzurennen. Erst nachdem er sich absolut sicher war, begann er wieder zu reden.

    „Ach, ich dachte, mich hätte jemand beobachtet. Nein, bei mir ist alles beim Alten", murmelte er vor sich hin, weil er sein Gespräch mit Milan so jäh unterbrochen hatte. Er zog den Pfeil aus der Erde und befreite die Spitze vom Schmutz, ehe er ihn zurück in seinen Köcher steckte.

    „Obwohl, eigentlich nicht. Ich hab kein Essen mehr. Seit ein paar Tagen schon. Die Kartoffeln sind noch nicht soweit und das hier hast du ja mitbekommen." Er deutete auf den Boden.

    „Das heißt, dass ich jetzt wohl oder übel in das Dorf muss. Da wird’s mir ganz anders." Chen rieb sich die Augen, ehe ihm eine Idee kam.

    „Du könntest mitkommen! Dann wär ich nicht ganz allein und du überschaust die Lage von oben aus. Dann kannst du mich auch warnen. Bist du dabei?" Ohne Gegenwehr, im Gegenteil, mit großherziger Bereitschaft, willigte der Milan ein. Chen fiel ein Stein vom Herzen. Es würde ihm die Aufgabe leichter machen, die vor ihm lag.

    Auf dem Weg diskutierten sie die letzten Feinheiten ihres Plans. Milan sollte sehr hoch über ihm kreisen, so hoch, dass sogar Chen ihn ab und an aus den Augen verlieren würde. Von dort aus hatte er den besten Überblick und konnte Alarm schlagen, falls etwas Unvorhergesehenes passierte. Ja, so würde es gehen! So war es fast sicher. Chen wiederholte es immer wieder in seinem Kopf wie ein Mantra. So ist es sicher, so ist es sicher, so ist es sicher, so wird nichts passieren, so ist es sicher!

    Doch selbst dieser große Haufen ‚Sicherheit‘ vermochte es nicht zu verhindern, dass Chens Handflächen feucht und seine Innereien flau wurden. Er war auf der offenen Grasfläche entgegen der Richtung des Myoko-Berges gelaufen, so lange, bis er an der Schlucht ankam, die sich wie eine gigantische Furche durch die Landschaft zog. Nur an einer bestimmten Stelle lag eine hölzerne Treppe an; nicht viele kannten sie damals, noch weniger kannten sie heute. Die Holzplanken mit brusthohem Geländer erlaubten den Abstieg hundert Meter hinab in das Tal, in dem ein kleines Dorf gelegen war. Minenarbeiter hatten sich dort angesiedelt und mit der Zeit eine immer größere Gemeinschaft gebildet. Als der herkömmliche Bergbau dann langsam ausstarb, nutzten Touristen die Abgeschiedenheit und die außergewöhnliche Lage der kleinen Gemeinde, um zur Ruhe zu kommen. Der alte Minenschacht war fortan für Besichtigungen geöffnet, die umgebende Natur lud zu Wanderungen ein und die verbliebenen Bewohner boten Kurse an, in denen man Korbflechten, Schmuckschmieden und Brotbacken erlernen konnte. Es war ein Geheimtipp gewesen, vor allem für Manager und andere Leistungsmenschen, die nach einem passenden Ort für kurzzeitige Retreats suchten, fernab von Trubel, Tatendrang und täuschenden Träumereien. Natürlich konnte man allein davon auch nicht reich werden, aber am Ende waren doch zwanzig kleine Häuser geblieben, dazu ein bescheidener Krämerladen und ein Trinkhaus.

    Während er die vielen Stufen nahm, fragte er sich, wie lange die Holztreppe wohl noch intakt bleiben würde, jetzt wo niemand mehr da war, der sie hätte instand halten können. Manche Planken knarzten verdächtig laut und Chen versuchte das furchteinflößende Getöne zu ignorieren. Stattdessen zuckten seine Augen hin und her wie der Zeiger eines Metronoms, suchten dabei das Tal unter ihm ab, das, eingehüllt in Schatten und feinem, morgendlichem Dunst, nur ein paar Dächer und Laternenpfähle von sich preisgab.

    Immer wieder war er kurz davor anzuhalten und Anhalten wäre wohl gleichbedeutend mit Umkehren gewesen. Freilich war es verlockend, zurückzulaufen und die Versuchung flüsterte ihm ununterbrochen zu, wie die erhabenen Worte einer Muse. Einfach die Treppe hoch, über das Gras zurück in den Wald über den Yukon und über Ashoka, dann in die Hütte, nach Hause, nochmal schlafen, Augen zu und nichts sehen, ein schöner Gedanke. Aber Chen wusste, dass ihn der Hunger beim Aufwachen in Empfang nehmen würde. Er wusste auch, dass dort unten Konserven lagerten, die diesen Hunger stillen konnten. Die Möglichkeit, die ihm der Kuss der Muse vorgaukelte – es gab sie gar nicht.

    „Außerdem… was macht es schon. Dann sterb’ ich eben", sagte er zu sich selbst, zwang sich zu gespielter Gleichgültigkeit und beschleunigte seinen Schritt. Er war am Ende der Treppe angekommen. Vor ihm lag das kleine, seelenverlassene Dorf, das einst von gutmütigen Arbeiterfamilien bewohnt wurde. Die Häuser waren aus Holz und Lehm gebaut, originalgetreu und mit den einfachsten Mitteln, wenngleich auf den meisten Dächern ein zweites, kleineres Dach an die Bauweise der alten Paläste des Shogun erinnerte. Ein System aus mächtigen, glattgelaufenen Holzplanken führte durch das gesamte Dorf, sodass man nicht ständig in Erde und Schlamm versinken musste, sondern trockenen Fußes dort hinkam, wo es einen eben dünkte. Von einer ‚Hauptstraße‘ aus verzweigten sich kleinere Seitengassen zu den einzelnen Häusern. Die Hauptstraße reichte vom Dorf über den alten Minenschacht bis zu einer Stelle am Fels, an der einst ein langes Seil hinab hing. Den dazugehörigen Kran gab es immer noch: Oben am Rande des Abgrunds stand ein Betonfundament, darauf thronte der motorisierte Flaschenzug, mit unterarmdicken Schrauben am Stein fixiert, bereit die abgetragenen Erdschätze von unten hinauf in die Zivilisation zu ziehen. Heute war es nur noch ein Haufen verrosteter Schrott, seiner Funktion beraubt und wild bewuchert von Brennnesseln, Flechten und anderem Kraut.

    Chen ging den Steg entlang, bis er an das erste Haus kam. Die Mauern waren aus Lehm, die Größe bescheiden. Direkt davor begann die Hauptstraße. Er schlich an der Hauswand entlang und blieb mit dem Rücken daran angelehnt stehen. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Alles präsentierte sich so, wie es ihm in Erinnerung geblieben war. Der breite Steg in der Mitte, links und rechts davon reihten sich die Häuser ein, dahinter erhoben sich jeweils die Wände aus Erde, Gestein und Schlamm in die Höhe und gaben keine Möglichkeit zur Flucht. Erst ganz am anderen Ende der Hauptstraße blitzte der ehemalige Krämerladen hinter Wohnhäusern und hölzernen Laternenpfosten hervor. Sein Ziel.

    Chens Hände zitterten und er spürte, wie ihm der Schweiß in die Augen tropfte. Vielleicht doch einfach umkehren? Eigentlich hatten sich die Umstände eher zu seinen Gunsten entwickelt: Der neblige Dunst war fast vollständig verschwunden, weiterhin spürbar zwar, in Form von nass-feuchter Kälte, doch deutlich weniger sichtbar. Der Wind, der sonst stets ungestüm durch das Tal marschierte, war abgeflaut und man konnte es deswegen zweifelsohne hören, falls sich etwas näherte.

    Chen wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und schaute zum Himmel hinauf. Über ihm kreiste der Milan. Er war tatsächlich gekommen! Natürlich war es nur ein Spiel gewesen, er redete ständig mit dem Tier und tat dabei so, als seien sie alte Freunde. Aber jetzt war der Greifvogel wahrhaftig über ihm erschienen, so wie sie es vereinbart hatten, so wie es sich Chen gewünscht hatte. Auch wenn es kindisch war, er mochte diese Vorstellung, sie gab ihm Zuversicht. In einem Anfall von Mut stieß er sich von der Mauer ab und bog um die Ecke. Jetzt stand er auf der Hauptstraße. Er hielt die Luft an, um jedes noch so kleine Geräusch um ihn herum wahrnehmen zu können. Da war nichts, außer der leichten Brise, die durch die Schlucht zog. So blieb er einige Minuten lang stehen, mit halb geöffnetem Mund, den Kopf langsam hin und her schwenkend, auf der Suche nach einer Bedrohung, die zwar immer lauerte, aber dann doch nur selten auftauchte. Nichts passierte.

    Schließlich setzte er sich in Bewegung, darauf bedacht, dem Holz unter ihm so wenig Geräusche wie möglich zu entlocken. Am dritten Haus blieb er kurz stehen. Dort sah er sie. Und sie sah ihn. Sie starrte aus leeren Höhlen heraus und bewegte sich keinen Millimeter. Die Leiche in dem Schaukelstuhl war noch an derselben Stelle wie beim letzten Mal. Wenngleich sie auch ausgemergelter und brauner geworden war, trug sie immer noch das blaue Kleid mit dem verwaschenen Blümchenmuster darauf. Die Augen waren nur noch Löcher, Raben hatten sich der Delikatesse habhaft gemacht, doch die Haare hingen ihr nach wie vor in Fetzen vom Skalp herunter. Sogar deren Farbe, ein gräuliches Blond, war erhalten geblieben. Bei jedem Schritt bemerkte Chen nun jene Details, die ihm bei seinem letzten Besuch schon aufgefallen waren. Die blaue Tür an Haus Nummer sechs, die Stoffpuppe auf der Straße auf Höhe von Haus Nummer sieben, das zerbrochene Fenster bei Nummer elf. Manche der Häuser wirkten unversehrt, bewohnt, in Erwartung ihrer Familien, die nur ausgegangen waren, um Besorgungen zu erledigen oder etwas frische Luft zu schnappen. Andere wiederum beschlich die Verwahrlosung mehr und mehr, in Form von Löchern, zerbrochenen Scheiben oder wild wuchernden Pflanzen.

    Chen gewann mit jedem Schritt an Sicherheit, vor allem mit jedem Detail, an das er sich zurückerinnern konnte und das noch immer an dem ihm zugewiesenen Platz verweilte. Das musste bedeuten, dass niemand in der Zwischenzeit hier gewesen war und warum sollte sich daran ausgerechnet heute etwas ändern?

    Der Krämerladen hatte keine Tür. Vom Türstock hingen vier lange, gleich große Stoffbahnen herunter; einst weiß gewesen, hatten die einsamen Jahre mit Regen, Pollen und Wind sie ins Dunkelgrau verfärbt. Chen schob die Tücher zur Seite und trat ein. Beim letzten Mal hatte es ihm an dieser Stelle die Luft aus den Lungen gepresst. Er hatte geschrien, obwohl er wusste, dass Schreien sein Todesurteil sein konnte. Und wie damals saß er auch heute noch da. Zusammengesackt neben dem Eingang: Die Leiche eines Mannes, der vor rund vier Jahren gestorben war. Wahrscheinlich gehörte ihm einst dieser Laden, zumindest trug der Körper auch heute noch eine Schürze, Brille, die Überreste eines langen, weißen Bartes und hochgekrempelte Hemdsärmel. 

    Chen sah sich um. Der Laden war sehr klein, es gab nur zwei Reihen aus schulterhohen Holzregalen und eine Theke. Der süßlich-modrige Geruch von Schimmel wehte ihm entgegen, stieg ihm in die Nase und gab ihm das Gefühl eines sich anbahnenden Niesens. Frische Lebensmittel waren mittlerweile zu einer bräunlich-grünen, unidentifizierbaren Masse verschmolzen. Er ging daran vorbei und hielt schnurstracks auf sein eigentliches Ziel zu: Regal Nummer zwei! Dort lagerten die Konserven. Eingelegtes Gemüse, Dosenfleisch, Eintopf, stets versehen mit bunten Etiketten, darauf fröhlich schrille Schriftzeichen, die nochmal erklärten, was durch die abgedruckten Bilder ohnehin offensichtlich war. Bei dem Anblick lief Chen das Wasser im Mund zusammen. Jetzt erst bemerkte er, wie sehr ihn der Hunger plagte und zum ersten Mal war er wahrlich froh, hergekommen zu sein. Er nahm einen Jutebeutel vom Tresen und begann die Dosen hineinzubugsieren. Er bog um die Ecke und fand einen Behälter mit der Aufschrift ‚Petroleumöl‘. Zusammen mit drei Zahnbürsten und Zahnpasta packte er auch das mit ein. Jeder Gegenstand, der in dem Beutel landete, hob seine Laune. Er hätte schon viel früher herkommen müssen. Bei seinem letzten Besuch war ihm der Verstand von Furcht, Panik und Paranoia so vernebelt gewesen, dass er die meisten Artikel gar nicht wahrnehmen konnte. Was er sich hatte entgehen lassen war unglaublich: Sogar Schokolade war noch da, die natürlich schon lange abgelaufen, aber sicher noch gut verzehrbar sein würde. Säcke, gefüllt mit Reis, manche zwar löchrig und befallen von Nagetieren, doch das Wasser von Ashoka würde die Körner vom Dreck befreien und genießbar machen. So gerne hätte er das meiste gleich an Ort und Stelle geöffnet, Finger hineingesteckt, Stücke abgebrochen und nach Herzenslust geschlemmt, aber die Welt, in der er sich befand, hatte sich nicht verändert, nur weil ihm soeben ein wunderbarer Lichtblick, ja, ein wahrer Glücksmoment geschenkt worden war. Jede Sekunde war ein Risiko, das nach seinem Leben trachtete und auch wenn ihm Schokolade, Reis und Kaugummi die größte Freude seit Wochen, vielleicht seit Monaten bereiteten, so blieb ihm diese Gewissheit doch stets im Kopf und flüsterte ihm wieder und wieder zu: „Du musst hier weg!"

    Als er den Laden verlassen wollte, hielt er vor den Stofftüchern inne und blickte ein letztes Mal zur Leiche des Mannes hinunter, die neben dem Eingang saß. Kurz überlegte er, dann stellte er den prall gefüllten Jutebeutel neben sich auf den Boden, drehte sich dem Toten ganz zu und verneigte sich vor ihm. Nur weil er tot war, wollte er nicht unhöflich sein und seine Dankbarkeit für die Schätze zeigen, die ihm das Leben um so vieles leichter machen würden und ihm jetzt schon so große Freude bereiteten wie lange nicht mehr. Dann schulterte er den Beutel, lächelte dem Alten noch einmal zu und stapfte fröhlich nach draußen.

    Er wollte sich gerade auf den Weg Richtung Treppe machen, als der Beutel zu Boden fiel. Die Konserven knallten auf das speckige Holz und kullerten kreuz und quer davon. Chens Finger hatten sich gelockert, weil ihm die Nahrungsmittel auf einmal nicht mehr wichtig waren. Ganz im Gegensatz zu dem Schatten an seiner Peripherie, den er glaubte soeben gesehen zu haben. Oder war da in Wahrheit gar nichts gewesen? Er würde sich um fast 180 Grad drehen müssen, um Gewissheit zu erlangen. Vielleicht sollte er einfach weitergehen, so als hätte er nichts bemerkt, und sogleich mit der Flucht beginnen, die Schätze zurücklassen, aber dafür leben? Wie lange noch leben, ohne die Nahrungsmittel zu seinen Füßen? Was, wenn er einfach nicht hinsah, wenn er die Augen davor verschloss, die Dosen aufsammelte, dann kehrt machte, genau in die entgegengesetzte Richtung? Kindisch, zu glauben, dass die Bedrohung, welche nicht gesehen wird, auch gar nicht existiert. Eine Vorstellung, der einst die ganze Welt auf den Leim gegangen war.

    Obwohl ihm jede Faser seines Körpers entgegen brüllte und das Gegenteil forderte, obwohl seine Knie zu schlottern begannen und es sich anfühlte, als müsse er sich gleich übergeben, drehte sich Chen langsam um. Circa dreißig Meter von ihm entfernt stand er. Am Eingang der ausgedienten Mine. Seine schwarzen Umrisse vermischten sich mit der Dunkelheit des stillgelegten Schachtes. Er musste dort drin gelauert haben. Oder hatte er ihn doch verfolgt? War es nicht nur ein Gefühl gewesen, als er oben auf dem Plateau den Pfeil zurückholte? Dreißig Meter waren nicht viel, er hatte Glück, dass er noch am Leben war. Vielleicht war er einer von den Vernünftigen. Vielleicht konnten sie einfach ihres Weges gehen, so als wäre nichts passiert. Vielleicht.

    In dem Moment trat der Mann vollständig aus dem Schatten heraus. Chen konnte es sehen. Damals, während es sich immer weiter ausbreitete, hatten sie im Fernsehen und Radio davon berichtet, davor gewarnt. Man sollte sich hüten vor ihnen, vor denjenigen, die ihr Aussehen derart veränderten, denn sie brachten einem nur den Tod, mehr noch als es jeder andere ohnehin schon tat. Die Augen des Mannes waren umhüllt von dunkler, senfgelber Farbe.

    Chen sprintete los, der Mann jagte ihm sofort nach. Er musste unbedingt den Abstand beibehalten, ein paar Meter näher und er könnte tot sein. Hinter ihm begann der Mann zu schreien und zu lachen, Chen stolperte, taumelte einige Meter, konnte sich aber wieder auffangen und rannte weiter. Das Manöver hatte ihn wertvolle Distanz gekostet, zwischen ihm und dem Verfolger lagen jetzt nur noch gut zwanzig Meter. Chen hyperventilierte, strauchelte über die Holzplanken, fing sich immer wieder auf und hastete weiter. Jeder Meter, den der Mensch ihm näher kam, glich einem Münzwurf um Leben oder Sterben. Doch er hatte so wenig Kraft, so wenig Energie und einzig der Wille zu überleben schien ihn weiter voranzutreiben. Seine Beine zitterten, als er an der Ecke des letzten Hauses einen Haken schlug und mit einem Sprung die erste Stufe der Treppe erreichte.

    Chen nahm immer zwei auf einmal und wagte es schon gar nicht mehr, einen Blick über die Schulter zu werfen. Er keuchte und spuckte, wollte aber auf keinen Fall Halt machen, konnte auf keinen Fall Halt machen. Er dachte an seinen Vater und an seine Mutter, an seine

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