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Was Menschlich Ist
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eBook503 Seiten6 Stunden

Was Menschlich Ist

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Über dieses E-Book

Wer bist du? Wer willst du sein?

Dorian weiß, wo er hingehört. Als gefallener Engel und Luzifers Diener setzt er alles daran, seinen Meister nach Jahrhunderten endlich aus der Hölle zu befreien. Doch nachdem er den Menschen Chris in die Hölle entführt, brechen sein Weltbild und seine Identität nach und nach zusammen und setzen eine Ereigniskette in Gang, an deren Ende der Krieg zwischen Himmel und Hölle steht.

Das zweite Buch aus dem #engelcontent-Universum!
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum16. Nov. 2021
ISBN9783754921586
Was Menschlich Ist

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    Buchvorschau

    Was Menschlich Ist - Sebastian Kalkuhl

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    Sebastian Kalkuhl

    Was Menschlich Ist

    Sebastian Kalkuhl wurde im September 1996 geboren und macht ungefähr seitdem kreative Dinge. Als Jugendlicher legte er sich aufs Schreiben fest und arbeitet seit 2011 am #engelcontent-Universum. Wenn er sich nicht mit widerspenstigen Charakteren herumschlägt, studiert er hauptberuflich Gehirne und baut in seiner Werkstatt Schwerter.

    Sebastian lebt und arbeitet zusammen mit zwei Hunden und mehreren Dutzend Plüschtieren am Rande des Ruhrgebiets.

    Vom Autor erschien bislang auch im Selbstverlag:

    Was Richtig Ist

    - Das erste Buch im engelcontent-Universum -

    Sebastian Kalkuhl

    Was Menschlich Ist

    Epubli Selfpublishing

    Impressum

    Texte:

    © Copyright by Sebastian Kalkuhl

    1. Auflage 2021

    ISBN

    Umschlaggestaltung und Grafiken:

    © Copyright Raphael Vaerkhaos

    vaerkhaos.art

    Layout und Satz:

    Sebastian Kalkuhl

    mit freundlicher Unterstützung von:

    Raphael Vaerkhaos

    Verlag:

    Sebastian Kalkuhl

    Unnaer Straße 7

    59439 Holzwickede

    sebastian.kalkuhl@storage42.de

    Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Für alle,

    die noch auf der Suche nach sich sind

    Teil 1

    1

    Chris

    25. Oktober

    Erde

    Die Straße stand unter Wasser. Tapfer kämpfte sich der Bus durch den Sturzregen, während die Scheibenwischer auf Hochtouren arbeiteten und trotzdem nur gerade genug Sicht zum Fahren ermöglichten.

    Von seinem Sitzplatz aus konnte Chris kaum mehr als eine monotone Wasserwand erkennen, hinter der sowohl Asphalt als auch Häuserfassen zu gräulichen Flecken verschwammen. Zwar mochte er sowohl Herbst als auch Winter, aber der Übergang dazwischen war mit Abstand die schlimmste Jahreszeit. Zusammen mit dem Regenwetter schlug ihm die farblose Welt zuverlässig aufs Gemüt.

    Der Bus hielt. Mit einem Seufzen standen eine Handvoll Leute auf, darunter dem Anschein nach ein paar Schülerinnen. Chris wünschte ihnen Glück, dass sie halbwegs trocken nach Hause kamen, aber weder er noch sie machten sich da wohl groß Hoffnung.

    Erneut warf er einen Blick auf sein Handy, gab sich einen Ruck und wählte bestimmt zum fünften Mal. Nichts, nicht einmal der Anrufbeantworter. Seinem Vater sah das gar nicht ähnlich.

    ›Glaub mir, ich will das heute auch nicht‹, dachte Chris grummelnd. ›Aber du könntest wenigstens rangehen, damit ich weiß, dass du mich nicht vergessen hast und ich gleich nicht ewig vor der Tür stehe.‹

    Idealerweise dauerte das Treffen nicht einmal lange, denn Chris wollte lediglich die letzten paar Umzugskartons aus seinem alten Kinderzimmer holen. Sein Vater hatte ihm versprochen, beim Tragen zu helfen und die Kartons danach zu seiner WG zu fahren. Alles in allem eine Sache von vielleicht zwei Stunden unangenehmen Schweigens gemischt mit unbeholfenem Smalltalk, und dann mussten sie sich frühestens zu Weihnachten wieder sehen.

    ›Wir haben seit der OP nicht mehr gesprochen.‹ Der Gedanke spukte unablässig durch Chris’ Kopf. Die Narben auf seiner Brust heilten zwar gut, und seit einer Woche musste er die verdammte Kompressionsweste nicht mehr tragen, aber schwere Kartons sollte er wenn möglich noch nicht heben. Deswegen hatte er mit dieser Sache eigentlich noch warten wollen, aber sein Vater war Manager mit einem Terminkalender, der förmlich nach einem Burn-Out verlangte, und gönnte sich in den kommenden zwei Monaten anscheinend keinen einzigen freien Nachmittag. ›Der Stimmbruch hat ihm ja schon nicht wirklich gefallen. Aber gut. Wenn er immer noch ein Problem mit mir hat, soll er selbst damit zurechtkommen.‹

    Der Bus bremste abrupt ab, die Türen öffneten sich wieder und signalisierten Chris, dass er sich dem Draußen stellen musste. Am liebsten würde er sitzen bleiben und behaupten, er hätte verschlafen, die Zeit vergessen, oder spontan etwas Wichtigeres zu erledigen gehabt, aber davon bewegten sich die Kartons auch nicht durch die halbe Stadt.

    Innerhalb von zwei Schritten durchnässte ihn der Regen fast bis auf die Unterhose. Missmutig zog sich Chris die Kapuze seines Hoodies über den Kopf, als würde das etwas bringen, und versuchte, in so wenig Pfützen wie möglich zu treten, damit er nicht in einem der zahlreichen Schlaglöcher ertrank.

    Auf dem Weg wandelten sich die Mehr- langsam zu Einfamilienhäusern, die Fassaden von Grau zu Weiß und wild wachsende Büsche zu sorgfältig gepflegten Schlammlandschaften, die einmal Vorgärten gewesen waren. Statt am Straßenrand parkten die gehobenen Mittelklassewagen nun in geräumigen Garagen – nicht dass den teuren Fahrzeugen noch etwas zustieß. In den Fenstern hingen bereits Halloweendekorationen, Kürbisse, Spinnennetze, Skelette und Geister überall. Chris wettete, dass es in mindestens einer dieser Vorstadtvillen wirklich spukte. Jede gutbürgerliche Nachbarschaft brauchte einen Poltergeist.

    Immer, wenn er hier war, fühlte er sich von ungefähr einem Dutzend Leuten hinter Küchenfenstern beobachtet. Chris gehörte so offensichtlich nicht in diese Gegend – er war zu trans, nicht hetero genug, hörte die falsche Musik und hatte sein Studium nach zwei Semestern abgebrochen, nur um eine Ausbildung mit »irgendwas mit Medien« anzufangen. Aber etwa seit seinem zehnten Geburtstag redeten die Nachbarn ohnehin konstant über seine Familie. Klassischer Autounfall, wenn es so etwas gab, seine Mutter war sofort tot gewesen. Ihr Ehemann hatte sich in seiner Rolle als alleinerziehender Vater zwar gut genug angestellt, um Chris erwachsen und aus dem Haus zu bekommen, aber zu mehr hatte es nicht gereicht.

    Er bog in eine Einfahrt und vergewisserte sich, die richtige Hausnummer erwischt zu haben. Die Häuser sahen sich zum Verwechseln ähnlich.

    ›Ich könnte auch einfach wieder gehen‹, dachte Chris und diskutierte mit sich, wie sehr er diese Umzugskartons wirklich bei sich haben wollte. Mit jedem Schritt wurde ihm schlechter und eine unterschwellige Angst machte sich in seiner Brust breit, die ihm unmissverständlich nahelegte, nach einer Ausrede zu suchen. Zu Schulzeiten war ihm ständig so zumute gewesen, doch diese Intensität kannte er nicht.

    Vor der Haustür blieb Chris stehen und zögerte. Der Drang zu rennen ließ sich nun nicht mehr ignorieren, ebenso wie das Bedürfnis, sich neben den Briefkasten zu übergeben. Instinktiv tastete er nach dem silbernen Anhänger um seinen Hals – das einzige Erbstück seiner Mutter, das er immer noch besaß –, sammelte Mut, und blieb am Ende doch wieder still stehen. Das konnte doch nicht wahr sein.

    ›Komm schon. Wenn du dich an Weihnachten krank stellst, bist du dieses Jahr zum letzten Mal hier. Einmal musst du dich noch zusammenreißen und dann ist gut.‹

    Chris klingelte mit unterwältigendem Ergebnis, denn nichts passierte. Mit zitternden Fingern kramte er seinen alten Haustürschlüssel aus der Hosentasche und trat ein. Innen herrschte eine so drückende Stille, dass sie selbst den Regen draußen übertönte.

    Der Eingangsbereich bestand aus kalkweiß tapezierten Wänden, einem minimalistischen Schuhregal, einem leeren Garderobenständer und einer stereotyp grauen Fußmatte, auf der Chris wie angewurzelt stand und es nicht einmal wagte, sich die nassen Haare aus der Stirn zu streichen. Es kam ihm vor, als sollte er einem strengen Protokoll folgen, von dem er noch nie gehört hatte.

    Er räusperte sich so geräuschvoll, dass er fast einen Hustenanfall bekam. »Jemand zuhause?«

    Zuerst passierte nichts. Dann bewegte sich eine dunkle Gestalt schleichend langsam aus dem Wohnzimmer in den Flur. Sie sah aus wie ein Mensch, aber Chris spürte instinktiv, dass es keiner war. Rubinrote Augen starrten ihm entgegen, ein glänzender Blutfleck zierte die rechte Wange, zwei staubig blonde Haarsträhnen rahmten das wie aus Marmor gemeißelte Gesicht. Ein surrealer Glimmer machte es übernatürlich schön.

    Der Fremde trug einen langen schwarzen Mantel, der den Rest seines Körpers scheinbar verschluckte, zwei Schatten ragten aus seinem Rücken. Als sein Blick auf Chris fiel, fror er mitten in der Bewegung ein.

    ›Du hättest rennen sollen‹, dachte Chris sofort. Alles Andere begriff er kaum, aber diese Tatsache konnte klarer nicht sein. ›Du hättest nicht zurückkommen dürfen. Nicht heute. Nicht jetzt.‹

    Ohne den Blickkontakt zu brechen, wagte er sich einen Schritt rückwärts. Gerade, als er mit dem Rücken an die Haustür stieß, löste sich der Fremde aus seiner Starre, erreichte Chris innerhalb eines Augenblicks und presste ihn gegen die Tür, ihre Gesichter nur eine Handbreit voneinander entfernt. Der Fremde verzog keine Miene. Ein winziges Rinnsal Blut lief ihm die Wange herunter.

    Chris hielt die Luft an. Der Griff um seine Schultern war so fest, dass er fürchtete, mit einem falschen Atemzug seine eigenen Schlüsselbeine zu brechen. Schmerz pochte unter den Fingern des Fremden, fraß sich gleichzeitig in sein Hirn, weil er den Blick nicht abwenden konnte, weil er nicht verstand, während sich die Sekunden zu einer quälend langen Ewigkeit ausdehnten.

    Chris wollte nach dem Warum fragen, aber die Welt kippte, noch ehe er ein Wort herausbekam. Zuerst blitzte es gleißend auf, dann wurde ihm schwarz vor Augen, und dann gab sein Bewusstsein auf.

    2

    Chris

    25. Oktober

    Hölle

    Ohnmacht an sich war nie das Problem, sondern das Aufwachen danach. Eine beißende, sengende Hitze kroch Chris schon beim ersten Atemzug tief in die Lungen und schien ihn von innen heraus einäschern zu wollen. Er spürte sich auf rauem Fels liegen, der seine Haut bei der kleinsten Bewegung blutig schürfte. Wie achtlos weggeworfen. Seine Kehle fühlte sich an wie Schleifpapier, sein Hirn wie trockengelegt und er sich insgesamt, als wachte er aus dem längsten und schlimmsten Mittagsschlaf aller Zeiten auf.

    ›Wie lange war ich weg?‹ Mit Sicherheit eine der unwichtigeren Fragen, aber die erste, die Chris in den Sinn kam. ›Eine Stunde, einen Tag? Wie lange kann ein Mensch noch mal ohne Wasser überleben?‹

    Mit größter Mühe überredete er sich, zumindest die Augen zu öffnen. Die Welt um ihn herum blieb schwarz. Erst nach mehrfachem Blinzeln gewöhnte er sich genug an die Dunkelheit, um wenigstens Graustufen zu erkennen.

    Nichts an seiner näheren Umgebung kam Chris auch nur ansatzweise bekannt vor. Er lag mit dem Gesicht zu einer steinernen Wand, die von dunklen, gläsernen Strukturen durchzogen wurde. Links von ihm befand sich eine verschlossene Tür, entweder aus anderem Stein oder mattem Metall. Es gab weder Schlüsselloch noch Türklinke, noch irgendeinen Anhaltspunkt, ob sie sich überhaupt öffnen ließ, aber Chris fühlte sich in jedem Fall zu schwach, um es zu versuchen. Sein Körper verwendete alle Energie darauf, wach und so etwas wie am Leben zu bleiben.

    ›Kann ich bitte aufwachen?‹, dachte er. Die Hitze fraß sich unterdessen weiter durch seinen Körper.

    Chris sammelte genug Energie, um sich aufzusetzen. Der Stein schürfte seine Handflächen blutig und er wollte vor Schmerzen schreien, brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus. Wenn er wenigstens etwas zu trinken hätte…

    Er lehnte sich gegen die Felswand. Allein der Kontakt zum Stein zerriss den Stoff seines Hoodies fast vollständig, aber immerhin konnte er von hier aus besser sehen. Gegenüber von der Wand ging es nach ein paar Metern so steil bergab, dass der Boden scheinbar abrupt aufhörte. Dahinter befand sich eine weitläufige, einsame Ebene, die erst zu einer monotonen Fläche und dann mit dem Horizont verschwamm. Winzige Lichtpunkte flackerten dort unten, es mussten Feuer sein, aber Chris konnte weder Brennstoff erkennen noch sich erklären, wie sie allein für diese beißende Hitze sorgen sollten.

    Das Land sah verlassen aus, tot, ausgedörrt. Eine Feindseligkeit ging von ihm aus, die Chris nicht verstand, dafür aber sehr wohl die Nachricht, dass er nicht hier hingehörte.

    Etwas bewegte sich am Rand seines Gesichtsfelds. Chris fuhr zusammen, schürfte sich den Rücken noch weiter auf, und erkannte den Fremden jetzt erst neben sich. Der wiederum schenkte ihm keinerlei Beachtung, sondern ging wie automatisiert mit geräuschlosen Schritten stetig auf und ab. In der Dunkelheit glühten seine Augen wie Kohlen, erhellten seine Wangen und machten die schiere Anspannung hinter dem Glimmer sichtbar.

    Chris wollte wütend werden, oder zumindest fragen, wo zur Hölle er gelandet war, aber er brachte die Kraft nicht auf. Stattdessen versuchte er, so unauffällig wie möglich zu bleiben, beobachtete den Fremden weiter und hoffte, nicht bemerkt zu werden.

    ›Warum macht ihm die Hitze nichts?‹, dachte Chris. Wieder nicht sein größtes Problem, aber wieder das Erste, an dem sich sein Hirn festbiss. ›Wie kann er hier herumlaufen, ohne dass er-‹

    Der Gedankengang hörte mitten im Satz auf, als Chris’ Blick erneut auf die Umrissgestalten zwischen den Schultern des Fremden fiel. Flügel. Zwei mächtige, mit schwarzen Federn besetzte Flügel sprossen ihm aus dem Rücken.

    ›Engel.‹ Der Gedanke kam ihm so absurd vor wie die Umgebung. Sein Verstand hielt nur daran fest, weil ihm selbst mit Traumlogik nichts Besseres einfiel.

    Ein kaum merklicher Ruck ging plötzlich durch den Stein und der Engel blieb wie versteinert stehen. Die Tür neben Chris öffnete sich ohne einen Laut von selbst und gab den Blick auf einen gleißend hellen Raum im Stein frei. Im Kontrast mit der Dunkelheit schien das Licht schmerzhaft intensiv.

    Ein Teil von Chris hoffte auf Hilfe, während ein anderer, realistischerer längst akzeptiert hatte, dass die nicht kommen würde. Was auch immer hinter der Tür wartete, sein Hass war bis hierhin spürbar.

    Jemand packte ihn am Kragen und zog ihn unsanft auf die Füße. Chris erkannte den Engel vor sich, der ihn mit beinahe angeekelter Miene festhielt und kaum eines Blickes würdigte. Im Lichtschein wandelte sich seine Anspannung nun zusehends zu Angst. Er schleifte Chris über die Türschwelle, ließ ihn zu Boden fallen und kniete im Anschluss nieder. Die Flügel pressten sich eng an seinen Körper, als versuchte er, sich so klein wie möglich zu machen.

    Das Licht drang durch Chris’ ganzen Körper, seine Seele und sein Selbst, vereinnahmte seine Aufmerksamkeit, hielt seine Augen offen, obwohl es mit jeder Sekunde tausend Löcher in seine Netzhaut brannte. Etwas, jemand war mit ihnen hier, ein allumfassender goldener Schein, wunderschön und anziehend, abstoßend und verzerrt.

    Auch wenn der Schmerz in seinem Körper nicht mehr relevant schien, wollte Chris ihn herausschreien und brachte keinen hörbaren Laut heraus. Erst vergaß er, dass er fliehen wollte, dann das Konzept der Flucht an sich. Seine Gedanken lösten sich auf, er spürte sich nicht mehr. Überall Licht, nur noch Licht, nichts als Licht und Abscheu und endlich Erleichterung, als ihn die Ohnmacht erneut holte.

    3

    Dorian

    25. Oktober

    Hölle

    Der Mensch sackte zu Boden, wahrscheinlich war er tot. Am Ende waren Menschen nicht dafür gemacht, die Präsenz eines Engels zu verstehen oder gar auszuhalten. Selbst Dorian fiel es manchmal schwer, die vollkommene Gestalt seines Meisters zu ertragen.

    Das Licht dimmte auf ein erträgliches Maß herab und Luzifers Form wurde hinter dem Licht sichtbar. Sein Blick ruhte auf Dorian, hielt ihn zu Boden gedrückt und legte ihn offen wie ein Buch. Seine Stimme hallte Dorian mit seinen eigenen Gedanken durch den Kopf. »Du kannst gehen.«

    Er nickte und beeilte sich, auf die Beine zu kommen, auch wenn Luzifers Aura ihm weiterhin das Knien befahl. Kaum, dass er stand, verfing er sich in seinem Mantel, stolperte rückwärts und prallte rücklings gegen die geschlossene Tür. Mit Mühe verkniff er sich eine gemurmelte Entschuldigung, schließlich sollte er längst nicht mehr hier sein, aber…

    Die gesamte Szene zog seinen Blick wie magnetisch an. Bis jetzt hatte Dorian seinem Meister noch nie einen Menschen bringen müssen und hätte es auch heute nicht, wenn er nicht so verflucht unvorsichtig gewesen wäre. Anstelle zur Tür zu gehen hätte er einfach nur in die Hölle verschwinden müssen. Stattdessen hatte die Neugier gewonnen und flüsterte ihm nun erneut ins Ohr, wie sehr er insgeheim herausfinden wollte, was als nächstes geschah.

    Von einem flimmernden Licht umhüllt hielt Luzifer den leblosen Körper des Menschen im Arm, murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Dorian wollte sich damit zufriedengeben und endlich verschwinden, als sein Meister erneut die Augen öffnete. Ein goldenes, heißkaltes Glühen ging von ihnen aus, wie alles an ihm. Dämonen nannten ihn den Lichtbringer.

    Die Neugier setzte sich durch. Dorian verharrte in seiner Position und schaute zu, wie Luzifer dem Menschen buchstäblich in den hintersten Winkel seiner Seele schaute, bis sich Schweißtropfen auf der Stirn des Engels bildeten. Nie hatte er auch nur ansatzweise so angestrengt ausgesehen.

    ›Was tut Ihr?‹, fragten Dorians Gedanken. Er wollte sich schlagen dafür. Hätte er das wissen müssen, wäre es ihm gesagt worden. Was war los mit ihm, warum stand er immer noch hier?

    Ein Flügelschlag, das Licht zuckte flackernd durch den Raum. Dorian fuhr zusammen und stolperte rückwärts, als ihn eine Schockwelle erfasste und erneut an die Wand drückte. Seine Flügelspitzen schürften über den steinernen Boden, die empfindliche Haut riss auf und so sehr Dorian sich auch beherrschen wollte, er musste einen erstickten Schrei von sich geben.

    Zwischen Tränen in den Augen schaute er wieder in den Raum hinein, obwohl er das schon längst nicht mehr wollte, und dieses Mal blieb ihm beinahe das Herz stehen.

    Der Mensch in den Armen seines Meisters trug Flügel. Ungelenk und zitternd spreizte er sie in einem schmerzhaft anmutenden Winkel vom Körper ab, als könnte er kaum mit ihnen umgehen. Schwarze Federn umgaben ihn, die Dorian nur zu gut kannte, denn es könnten seine sein.

    Mit einem erstickten Atemzug schlug der Mensch die Augen auf, blutrot statt braun. Die Haut sah blasser und glatter aus als gerade noch, wie sorgfältig aus Stein gemeißelt.

    »Nein.« Dorian bemerkte nicht, wie er das Wort laut sagte und zuckte zusammen, als seine Stimme aus dem Nichts zu ihm sprach. Luzifers Präsenz wog immer schwerer auf ihm. Warum war er noch hier?

    Mit dem Rücken zu Wand richtete sich Dorian auf, ging einen zaghaften Schritt Richtung Tür, sie öffnete sich von allein. ›Sieh nicht hin‹, versuchte er sich zu sagen, während sein Blick wieder und wieder an der Person, die doch ein Mensch sein sollte, hängenblieb. Flügel wie er. Augen wie Luzifer.

    ›Verschwinde endlich von hier!‹

    Dorian spürte eine aufkeimende Wut um sich herum, die nicht seine war. Er erwischte sich bei der Hoffnung, dass Luzifer ihn im Affekt umbrachte, dann müsste er nicht mehr nachdenken. Aber ein schneller Tod wäre gnädig, und so eine Strafe wartete mit Sicherheit nicht auf ihn.

    Mit aller Kraft riss er sich von dem Anblick los, drehte sich um und rannte. Er vergaß den Abhang draußen, rutschte an der Felskante ab und fiel mehrere Meter tief, bevor er sich in der Luft fing und einigermaßen sanft am Fuß des Gebirges landete. Kaum, dass er auf festem Boden stand, gaben seine Knie nach und er sackte in sich zusammen, schürfte sich Hände, Ellbogen und Knie auf. Der Schmerz holte ihn zurück in die Gegenwart, raus aus diesem Raum, in dem Luzifers Licht noch immer bis nach draußen schien.

    ›Wie kann ein Mensch Flügel haben?‹

    Der Gedanke setzte sich fest, ehe Dorian es verhindern konnte. In seiner Verzweiflung holte er aus und schlug sich selbst mit der flachen Hand ins Gesicht, doch das förderte nur noch mehr Fragen zutage. Je mehr er sie zu verdrängen und vergessen versuchte, desto höher türmten sie sich auf und begruben ihn unter sich, bis er zusammengekrümmt auf dem kochend heißen Boden lag. ›Wie kann ein Mensch aussehen wie ich? Was hat Luzifer mit ihm gemacht, dass… Was macht er jetzt noch mit ihm?‹

    Dorian schlug sich noch einmal, als ein furchtbarer Verdacht in seinen Verstand kroch, doch es half nicht. Ihm wurde nur schwindelig und kurz darauf übel. ›Und wer bin ich dann?‹

    Allein der Gedanke fühlte sich wie Verrat an seinem Meister an. Dorian zwang sich, ruhig zu atmen.

    ›Luzifer lügt mich nicht an‹, dachte er, wischte sich die Tränen weg und suchte Trost in dieser Tatsache. ›Er sagt mir, was ich wissen muss. Er vertraut mir. Er liebt mich. Wenn das anders wäre, hätte er mich nicht nach meinem Fall gerettet.‹

    Das waren die unerschütterlichen Wahrheiten dieser Welt. Seine Augen konnten lügen, und er sich das alles in seiner Panik eingebildet haben. Luzifer wusste, was er tat. Das alles hatte seine Gründe und einen Sinn, den Dorian nur nicht verstand.

    Dorian schloss die Augen und sah schwarze Federn vor sich, seine Federn. Er war hier der Gefallene und der Mensch ein Mensch. Er würde hierbleiben und warten, bis Luzifer nach ihm verlangte. Was aus dem Menschen wurde, musste ihn nicht kümmern.

    4

    Chris

    25. Oktober

    Hölle

    Als Chris zu sich kam, fühlte sich die Luft zwar immer noch unangenehm an, aber wenigstens tat die Hitze nicht mehr weh. Entweder hatte er sich daran gewöhnt oder es war abgekühlt.

    ›Oder ich bin tot‹, dachte er und wartete ab, bis ihm sein Gehirn mehr Informationen lieferte. ›Als Letztes hab ich ein Licht gesehen, das kommt also hin. Was den Rest angeht…‹

    Er spürte sich bäuchlings auf heißem Stein liegen. Chris blinzelte und sah zuerst nur Schemen um sich herum, bis das Bild langsam aufklarte. Seine Augen mussten sich vollkommen an die Dunkelheit gewöhnt haben, denn nun erkannte er mehr als graue Schemen um sich herum.

    Der Raum ähnelte mehr einer Höhle, denn einem Zimmer. Wände, Boden und Decke bestanden alle aus dem gleichen Fels, dunkelrot, an manchen Stellen gräulich oder von Adern aus Obsidian durchzogen, die Chris wie aus einem Fiebertraum bekannt vorkamen. Rechts und links befanden sich zwei Türen, vor ihm winzige Fenster aus dunklem, matten Glas. Draußen flackerten Funken oder weit entfernte Feuer.

    Seine Gedanken tanzten wirr, als säße ihm eine fremde Präsenz im Kopf, die ihm einredete, dass alles in Ordnung sei und er sich keine Sorgen machen müsste. Aus Mangel an Alternativen versuchte Chris zuerst, sich darauf einzulassen, schaffte es aber beim besten Willen nicht.

    Sein Rücken fühlte sich merkwürdig an, wund und schwer. Ein zusätzliches Gewicht lastete auf ihm, und fühlte sich an wie ein zu schwerer Rucksack, als er sich aufsetzte. Nur mit Mühe blieb er gerade sitzen und fiel nicht direkt nach hinten.

    ›Warte.‹ Ihm lief ein Schauer über den ganzen Körper. ›Was ist, wenn das-‹

    Chris versuchte, das Gewicht zu verlagern. Es ließ sich bewegen und steuern, fühlte sich an wie zwei Gliedmaßen, mit denen er gerade ungelenk und in Zeitlupe durch die Gegend fuchtelte. Je mehr er es versuchte, desto sicherer wurde er und desto weniger fühlte sich die Welt real an. Alle Eindrücke drangen nur noch wie durch zentimeterdicke Watte zu ihm, seine Gedanken blieben stehen, sein Körper fühlte sich fremd an.

    In einem Anflug Panik fühlte Chris auf seinem Rücken nach. Fast sofort stießen seine Finger auf zwei riesige Fortsätze, die aus seinen Schultern ragten, mit weicher Haut bespannt, von hunderten Federn besetzt. Kaum, dass er sie berührte, zuckte ein Schmerz durch seinen gesamten Körper und hinterließ erst ein taubes Gefühl, dann fühlte sich alles hundertfach intensiver an. Chris schrie auf, sank zu Boden, und begann trotz der Hitze zu zittern.

    ›Scheiße, das sind Flügel. Ich habe Flügel.‹ Wie um die Erkenntnis zu bestätigen, pochte der Schmerz durch seine Schultern. Selbst die Luft tat weh. ›Das kann alles nicht wahr sein.‹

    Plötzlich wurde es wieder hell im Raum. Instinktiv kniff Chris die Augen zusammen, nur um sie direkt wieder zu öffnen, weil sein Blick von der Gestalt inmitten des goldenen Scheins angezogen wurde. Mit schmerzhafter Langsamkeit gewöhnte er sich genug ans Licht, um die Person dahinter zu erkennen, doch in seinem tiefsten Inneren wusste er da schon längst, dass ein Engel vor ihm stand.

    Alles an ihm war makellos, von der blassen, glatten Haut über die langen, hellblonden Haare, die ihm wie flüssiges Gold über die Schultern fielen, bis hin zu jeder einzelnen, reinweißen Feder seiner Flügel. Ein Schein wie eine zerbrochene Krone zierte sein Haupt, lange Roben aus fließendem, dunkelroten Stoff bedeckten seinen Körper. Grenzenlose Verachtung schien aus seinen Augen und sein Blick allein befahl Chris, vor ihm auf die Knie zu gehen. Eine überwältigende Präsenz wühlte sich durch seinen gesamten Geist.

    Auch wenn er besser sehen konnte, verstand Chris kein bisschen. »Was-«

    »Du sprichst, wenn ich es dir sage«, antwortete der Engel so scharf, dass sich jeder Anflug von Widerstand im Keim erstickte. »Wie ist dein Name?«

    »Chris«, murmelte er und atmete beim bekannten Klang seiner eigenen Stimme erleichtert auf.

    Der Engel nickte langsam und wiederholte den Namen wie ein unbekanntes Fremdwort. Chris meinte, eine gewisse Faszination in seiner Stimme zu hören, neben mit einer deutlich präsenteren Abneigung ihm gegenüber.

    »Mein Name ist Luzifer«, sagte der Engel. Es fühlte sich an, als hätte Chris das längst gewusst. »Du fragst dich, wo du bist.«

    Unwillkürlich nickte er und versuchte nicht einmal, das zu bestreiten.

    »Du hast vor sechshundert Jahren gegen Gott und die Herrscher im Himmel rebelliert und wurdest zur Strafe in die Hölle gestürzt. Dämonen haben dich getötet, bevor du dich wehren konntest.«

    ›Was?‹ Chris wusste nicht einmal, wie er reagieren sollte. Ein Teil von ihm wollte das sofort zu seiner neuen Realität erklären, aber die Tatsache, dass das so offensichtlich gelogen war, ließ sich nicht ignorieren. ›Was will er von mir?‹

    »Als Engel gehörst du nicht hierher«, fuhr Luzifer unterdessen fort. Ob Unsinn oder nicht, seine Stimme verlangte Aufmerksamkeit. »Deine Seele hing in den Höllenflüssen fest und sank auf den Grund. Ich habe dich von dort gerettet.«

    ›Du musst den Falschen haben‹, dachte Chris in der Hoffnung, dass das Luzifer irgendwie erreichte. Etwas musste schiefgelaufen sein.

    »Durch deinen Tod wurde der Bann gebrochen, der dich in der Hölle hält. Du kannst sie jetzt verlassen. Und du bist in der Lage, den Bann nun für mich zu lösen.«

    »Was… Wie?«

    Der Engel stutzte und fiel einen Moment lang komplett aus seiner Rolle. Er starrte Chris direkt in die Augen, seine Schönheit verzerrte sich erst zu Entsetzen und dann zu abgrundtiefer Wut. »Du stellst keine Fragen«, zischte er, anscheinend mühevoll beherrscht. »Dein Gehorsam ist das Mindeste, was du mir schuldest. Du wirst mir alles geben, was du hast.«

    Etwas drückte seinen Kopf erst nach unten und zog ihn dann wieder hoch. Es fühlte sich wie ein groteskes Nicken an.

    »Ruh dich aus. Ich werde nach dir rufen.«

    Luzifer wandte sich um, verschwand so schnell wie er gekommen war und nahm das Licht mit sich. Es musste jetzt stockdunkel im Raum sein, aber Chris konnte immer noch problemlos sehen.

    Er fasste sich vorsichtig ins Gesicht. Die Haut war kühler und glatter als er in Erinnerung hatte, aber sie fühlte sich lebendig an und nicht nach Marmor. Unter dem neuen Oberteil aus fremdem, schwarzen Stoff war seine Brust flach. Den silbernen Anhänger spürte er noch immer um seinen Hals, das Metall war angenehm kühl, als könnte ihm die Hitze nichts anhaben. Nicht die ganze Welt stand auf dem Kopf.

    »Scheiße«, murmelte Chris trotzdem, weil ihm nichts Besseres einfiel. Vorsichtig legte er sich wieder auf den Boden, hielt die Flügel von sich abgespreizt, damit sie nichts berührten und schloss die Augen. Vielleicht war es sinnlos, immer noch auf einen endlosen Albtraum zu hoffen, aus dem es sich aufwachen ließ, aber den Versuch war es wert.

    5

    Dorian

    25. Oktober

    Hölle

    Nach einigen quälend langen Stunden hatte sich Dorian immerhin davon überzeugt, dass sein Weltbild gerade nicht komplett in sich zusammenbrach. Dennoch lag er immer noch reglos am Gebirgsrand, trocknete langsam aus und wusste nichts mit sich anzufangen.

    »Dorian.«

    Die Stimme hallte mit seinen eigenen Gedanken durch seinen Kopf. Dorian zuckte zusammen, kam im selben Moment auf die Beine und versuchte, die schmerzenden Schürfwunden so gut wie möglich zu ignorieren. Luzifer rief nach ihm.

    Dorian schloss die Augen und wünschte sich seinem Meister entgegen. Als er wieder aufschaute, befand er sich ganz woanders. Wo genau, konnte er auf die Schnelle nicht sagen, denn die unzähligen Höhlen und Tunnel im Gebirge sahen sich zum Verwechseln ähnlich, aber er wähnte sich tief unter der Erde. Die Luft fühlte sich deutlich kühler an als draußen.

    Sein Meister stand mitten im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt. Selbst durch sein Licht hindurch sah er ausgezehrt und erschöpft aus. Was auch immer er mit dem Menschen gemacht hatte, es musste ihn angestrengt haben – und jetzt hinderte Dorian ihn auch noch daran, sich auszuruhen.

    Er senkte den Blick und wollte nichts lieber, als auf Knien um Vergebung zu bitten, aber er beherrschte sich. Lieber ruhig stehenbleiben, nicht fragen, nicht weiter provozieren, und alles über sich ergehen lassen. Er verdiente es.

    »Warum hast du nicht gehört?«, fragte Luzifer nach einem lang gezogenen Schweigen und verlor danach die Beherrschung. Jedes Wort eine Schockwelle, ein Schlag in den Magen und gleichzeitig ins Gesicht. Schon das erste hielt Dorian nicht aus. »Ich habe dir gesagt, dass du gehen sollst. Was war daran nicht zu verstehen?«

    Dorian biss die Zähne zusammen. Die Tränen an sich konnte das zwar nicht verhindern, dafür aber das laute Schluchzen, das in seiner Kehle saß. So einen Anblick verdiente Luzifer nicht.

    »Dass du mir dienst, ist das Mindeste«, flüsterte sein Meister. Er packte Dorian am Kragen und zog ihn zu sich. Zwang ihn, ihm gegen jeden Instinkt in die Augen zu sehen, den aus reinster Abscheu geformten Blick auszuhalten und Luzifer in seinen Geist zu lassen.

    Der Griff erlaubte Dorian nur ein paar Zentimeter Freiraum, aber es reichte für ein Nicken. Gleichzeitig wisperten seine vor Angst getriebenen Gedanken zwei Fragen vor sich hin. ›Warum betont er das so? Nur, weil du ihn enttäuscht hast?‹

    »Es tut mir leid«, flüsterte er heiser. Er könnte die Worte nicht ehrlicher meinen, doch sie klangen platt und sinnentleert. Seine Zweifel standen zu offen im Raum, als dass die Entschuldigung noch irgendeinen Wert besäße.

    Luzifer wusste das und ließ es Dorian spüren. Seine Verachtung schmerzte mehr als jede Folter, denn sie reichte tiefer. »Wer bist du? Was tust du?«

    »Ich bin Euer Diener.« Darum herum baute sich seine Identität auf. Das war seine Aufgabe, sein Lebenssinn. Was davor kam, tat nichts zur Sache. »Ich werde Euch aus der Hölle befreien.«

    »Du tust, was ich sage.«

    »Ich tue, was Ihr sagt.«

    »Du hast nichts gesehen.«

    Dorian nickte und klammerte sich an den Worten fest, als hinge sein Leben davon ab.

    »Du stellst keine Fragen.«

    ›Aber warum betont er das so?‹ Der Gedanke war nicht totzukriegen. »Ja, natürlich.«

    Luzifer ließ ihn los. Instinktiv wich Dorian mehrere Schritte zurück. »Du gibst mir alles.«

    »Alles, was ich habe«, flüsterte er. »Ich mache keine Fehler mehr.«

    Schon allein deswegen, um nie wieder Dinge zu sehen, die nicht für seine Augen bestimmt waren. Nein, die es gar nicht gab. Warum fiel es ihm so schwer, das zu akzeptieren? Er musste kaputt sein.

    Luzifer schaute Dorian noch immer durch die Augen direkt in die Seele. Der Engel musste sehen können, wie sehr Dorian die Bilder zu vergessen versuchte – und wie die Zweifel mit jedem Versuch wuchsen.

    »Es ist alles gut«, sagte Luzifer, sowohl mit seiner eigenen Stimme als auch in Dorians Kopf. »Ich vertraue dir noch.«

    Dorian nickte. Tränen strömten ihm übers Gesicht, aber gerade gab es nur seiner Erleichterung Ausdruck. Er war noch zu etwas gut.

    »Das nächste Mal wirst du nicht gesehen«, fuhr sein Meister fort. »Das nächste Mal befreist du mich.«

    »Natürlich.« Er würde alles daran setzen. Vor allem würde ihn nie wieder ein Mensch zu Gesicht bekommen und die Begegnung überleben. Nicht noch einmal Flügel, nicht noch einmal rote Engelsaugen, wo keine sein sollten. Wo nie welche gewesen waren. Dorian hatte nichts gesehen.

    »Ich vertraue dir noch«, wiederholte Luzifer und ließ Dorian endlich fallen. Schluchzend brach er in sich zusammen und hielt sich den Kopf, weil sich seine gesamte Psyche wie seziert anfühlte. Außer einem heiseren »Danke« brachte er keine verständlichen Worte mehr heraus.

    Luzifer wandte sich um und ließ ihn buchstäblich links liegen. Hinter dem Licht und unter dem perfekten Glimmer zitterten seine Knie. Was auch immer er getan hatte, es musste unvorstellbar viel Kraft gekostet haben. Undenkbar, dass ein Mensch das länger als ein paar Sekunden überlebt haben sollte. Unmöglich, dass die Erinnerung, die unablässig durch Dorians Kopf spukte, tatsächlich stimmte.

    ›Was ist, wenn doch?‹, flüsterte eine leise Stimme in Dorians Gedanken, von der er nicht wollte, dass sie es besser wusste. ›Was ist, wenn du deinen Augen trauen kannst?‹

    »Ich habe nichts gesehen«, murmelte er und biss sich fast auf die Zunge. »Ich habe nie etwas gesehen. Das ist alles nicht passiert.«

    Dorian hatte an der Hoffnung festgehalten, dass sich alles von allein wieder gerade rückte und sein Meister alle Fragen und Zweifel wenn nötig aus ihm herausfolterte. Doch stattdessen wuchs ihm das Gefühl, dass etwas mit der Welt nicht stimmte, stetig weiter über den Kopf.

    6

    Chris

    2. November

    Hölle

    Noch mal.« Chris hatte schon die letzten drei Male nicht fragen wollen, aber die Hoffnung, dass er sich die ganze Zeit verhörte, ließ sich einfach nicht totkriegen. »Luzifer will, dass wir bitte was machen?«

    Der Engel ihm gegenüber seufzte laut und schlug mit so einer Wucht in die Wand neben sich, dass Staub von der Decke rieselte. Vor etwa einer halben Stunde hatte er Chris in einem der endlos langen Tunnel ausfindig gemacht und sich grummelnd als Janne vorgestellt. Seitdem erreichte seine Laune stetig neue Tiefpunkte und Chris ging mittlerweile davon aus, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben.

    »Wie oft muss ich dir das noch erklären?«, unterbrach sein selbst erklärter Partner den Gedankengang. Er war kleiner und schmaler als Chris, was an sich schon eine Leistung darstellte, hatte ebenso blutrote Augen wie Luzifer persönlich und wirre, schokoladenbraune Haare. Insgesamt sah er nicht älter aus als achtzehn und verhielt sich entsprechend. »Wir gehen auf die Erde, und du baust keine Scheiße, weil ich schon genug Ärger hab. Was verstehst du daran

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