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Verflixt und Abgehaun
Verflixt und Abgehaun
Verflixt und Abgehaun
eBook477 Seiten6 Stunden

Verflixt und Abgehaun

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Über dieses E-Book

Constantin, ein erfolgloser junger Mann mit gelegentlichen kriminellen Neigungen, der aus nachvollziehbaren Gründen Weihnachten verabscheut, wird infolge eines dummen Fehlers verurteilt, der Weihnachtsmann zu sein - und zwar für die nächsten hundert Jahre. Als die Weihnachtszwerge eine Gewerkschaft gründen wollen und dabei Constantin für eine Weile aus den Augen lassen, nutzt dieser die Gelegenheit zur Flucht. Doch nicht nur die Verfolgung durch die Zwerge macht ihm das Leben schwer. Auch seine böse Fee, ein Priester, ein alter Freund und nicht zuletzt sein permanentes Pech hindern ihn immer wieder am erfolgreichen Entkommen. Und auch seine Verfolger haben mit ungeahnten Problemen zu kämpfen - insbesondere in Person von Grundschullehrerin Frau Wunderlich, die den Zwergen näher kommt, als das einem anständigen Menschen lieb sein kann. Es beginnt eine irrwitzige Verfolgungsjagd, bei der ein dicker Hamster als Einziger zu wissen scheint, was zu tun ist - bis ihn seine Vergangenheit einholt. Und damit ist er nicht der Einzige. Auch Constantin wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert und gelangt dadurch zu ungeahnten Erkenntnissen. Als sich dann auch noch die Behörden einmischen, scheint das Chaos perfekt zu sein. Und am Ende ist alles wie immer nur eine Frage des Preises.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum24. März 2013
ISBN9783844249934
Verflixt und Abgehaun

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    Buchvorschau

    Verflixt und Abgehaun - Mira Bergen

    Verflixt und Abgehaun!

    Mira Bergen

    Ein sommerlicher Weihnachtsroman

    Impressum:

    Verflixt und Abgehaun!

    Mira Bergen

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright: © 2012 Mira Bergen

    Copyright Coverdesign: © 2012 Mira Bergen

    ISBN 978-3-8442-4993-4

    Constantin warf einen nervösen Blick aus dem verschneiten Fenster, bevor er seine wenigen persönlichen Dinge eilig in einem abgenutzten Sack verschwinden ließ.

    Suchend sah er sich um, ob er etwas vergessen hatte, doch da gab es nichts. Bis auf ein kleines verbliebenes Häufchen Unterwäsche war sein Schrank leer und Constantin überlegte kurz, ob er sie mitnehmen sollte. Im Gegensatz zu allen anderen üblichen Kleidungsstücken stand sie ihm ausreichend zur Verfügung und die merkwürdigen Motive auf den Unterhosen würde – so hoffte zumindest Constantin – keiner zu Gesicht bekommen. Wo sich seine richtige Kleidung befand, war ihm nicht bekannt, und das spielte jetzt auch keine Rolle. Darüber konnte er später nachdenken. Im Moment kam es nur darauf an, schnell zu sein und zu verschwinden, bevor jemand etwas merkte.

    Dass seine sämtlichen persönlichen Papiere abhanden gekommen waren, drohte da schon eher zum Problem werden. Jedoch konnte er auch darauf keine Rücksicht nehmen. Mit etwas Glück würde sich dafür eine Lösung finden. In seinen früheren Leben kannte er Leute, die Leute kannten, die wussten, woher man neue Papiere bekam, ohne Aufsehen zu erregen.

    Constantin musste die Gelegenheit nutzen – die erste richtige nach über einem halben Jahr Gefangenschaft und vielleicht für lange Zeit die letzte. Inzwischen war Juli und er konnte es nicht erwarten, endlich wieder seine blassen Beine in die Sonne zu halten.

    Für einen kurzen Moment hielt er inne und stellte sich vor, wie ein richtiger Juli auszusehen hatte. Er war sich einigermaßen sicher, dass Schnee nichts damit zu tun hatte.

    Constantin seufzte und kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Für Träumereien hatte er keine Zeit.

    Resigniert sah er in den noch immer beinahe leeren Sack. Außer ein paar Stiften, einer geklauten Taschenlampe, einem Kamm und einer Zahnbürste, einem roten Schlafanzug, ein paar Taschentüchern und der Unterwäsche befand sich nur ein dünnes Etui mit alten, zerknickten Fotos darin.

    Eine richtige Tasche wäre unauffälliger gewesen, doch Constantin hatte nirgends eine finden können. Also musste er vorerst mit dem Sack vorlieb nehmen.

    Der große Moment war gekommen. Endlich würde er diesen verrückten Ort hinter sich lassen.

    Im Gehen sah er sich noch einmal um und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er die weißen Papierschnipsel, die an seinem Kinn und Hals klebten.

    Na großartig. Wegen des Mangels an geeignetem Werkzeug hatte er zum Rasieren auf eine Schere und ein stumpfes, aus der Küche gestohlenes Messer zurückgreifen müssen und sah nunmehr aus, als sei er unter einen Rasenmäher geraten.

    Er blickte mit gemischten Gefühlen auf die langen, grauen Barthaare, die aus dem Papierkorb quollen. Natürlich hätte er in seinem neuen alten Leben unmöglich so herumlaufen können, aber die Tatsache, dass sein sonst eher spärlicher Bartwuchs zu einer solchen Leistung fähig gewesen war, erfüllte ihn irgendwie mit Stolz und war eine wohltuende Bestätigung für seine gequälte Männlichkeit.

    Schließlich riss er die Schnipsel aus seinem Gesicht und musste feststellen, dass er auch ohne diese noch immer aussah, als sei er einem betrunkenen Messerwerfer in die Quere gekommen. Seine vage Hoffnung, dass sich das innerhalb der vergangenen zwanzig Minuten geändert haben könnte, hatte sich leider als unbegründet erwiesen.

    Aber egal.

    Eilig verließ er das Haus, das er, wenn es nach ihm ging, niemals wiedersehen würde. Wären die Umstände andere gewesen, hätte er vielleicht zugegeben, dass dieses Haus gemütlicher war als alles, das er jemals zuvor bewohnt hatte. Doch so war das eben mit den Umständen. Wen man irgendwo wohnen musste, änderte das alles.

    Vorsichtig schlich er durch verlassen wirkende, tief verschneite Straßen. Nirgends drang Licht aus den Fenstern. Selbst die Laternen gaben durch ihre dicke Schneelast nur eben genügend Licht ab, um Constantin den Weg zu weisen und gespenstische Schatten zu werfen.

    Immer wieder blickte er argwöhnisch um sich, aber es schien tatsächlich keiner da zu sein. Constantin konnte sein Glück kaum fassen.

    Einmal glaubte er, leises Getrippel gehört zu haben. Er erstarrte, konnte jedoch niemanden entdecken und fürchtete, allmählich paranoid zu werden.

    Endlich erreichte er den Stall. Er warf den Sack in den Schlitten und schaute sich noch ein allerletztes Mal um. Doch noch immer war er allein und erleichtert murmelte er die magischen Worte, mit denen die Rentiere herbeigerufen wurden. Er zögerte kurz, sprang in den Schlitten und flog seinem neuen alten Leben entgegen.

    Ein kleiner Schatten huschte hinter ihm in den Stall, aber Constantin sah ihn nicht mehr.

    **

    Ein dicker Hamster kämpfte mit dem Schnee und bemühte sich, Constantin nicht aus den Augen zu verlieren. Beunruhigt beobachtete er Constantins Abflug und flitzte dann zu dem einzigen noch im Stall verbliebenen Rentier. Er keuchte angestrengt und sah sich um. Schließlich kletterte er an dem vor sich hindösenden Rentier nach oben, bis er am Kopf des Tieres angelangt war, und murmelte ihm etwas ins Ohr.

    Das Rentier war augenblicklich hellwach und trabte zum Ausgang des Stalles. Der Hamster warf einen nervösen Blick zum viel zu weit entfernten Boden. Doch dann zuckte er mit den Schultern und balancierte zu einer der beiden Satteltaschen. Erleichtert wollte er sich hineinfallen lassen.

    »Wer... wer ist da? Elvis? Bist du das?«, drang aus dem Innern der Tasche eine gereizte Stimme.

    Der Hamster quiekte erschrocken und starrte fassungslos in die Satteltasche.

    Ein zerknitterter Zwerg kam zum Vorschein und sah den Hamster aufgebracht an. »Was zum Teufel suchst du hier? Das hier ist mein Platz, verstanden?«

    Der Hamster kniff die kleinen Augen zusammen und bemühte sich zu erkennen, wen er vor sich hatte. Grummelbert. Ausgerechnet. Elvis konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt einen noch schlechter gelaunten Zwerg gab.

    Dem Anschein nach zu urteilen, hatte er sich vor der heute Abend einberufenen Zwergenversammlung gedrückt und die Gelegenheit genutzt, im Stall ein Nickerchen zu machen, da hier um diese Jahreszeit normalerweise nichts los war. Doch wie es aussah, hatte er sich dafür den falschen Tag ausgesucht.

    Der Hamster erholte sich schnell von seinem Schrecken. Er überlegte. Vielleicht erwies sich dieses unverhoffte Aufeinandertreffen sogar als Vorteil. Angestrengt gestikulierte er und bemühte sich, den Weihnachtsmann nachzuahmen. Wieder und wieder zeigte er in den rasch näher kommenden Abendhimmel am Stallausgang.

    Pantomime war nicht seine Stärke. Er knurrte und bellte gelegentlich, doch auch das schien nicht hilfreich zu sein.

    Grummelbert beobachtete ihn argwöhnisch. Irgendetwas wollte der verrückte Hamster ihm mitteilen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet dieser etwas zu verkünden hatte, das wichtiger als Grummelberts Pause war.

    »Was ist los?« fragte er schließlich gereizt.

    Der Hamster wiederholte ungeduldig seine gestenreiche Vorführung. Grummelbert kam schließlich nicht mehr umhin, die Botschaft zu verstehen.

    »Ach. Du meinst also, der Weihnachtsmann ist abgehauen?«

    Elvis nickte eifrig.

    Der Zwerg überlegte, ob das irgendetwas mit ihm zu tun haben könnte, und er kam zu der unangenehmen Erkenntnis, dass sich diese Tatsache auch für ihn und sein ausgeprägtes Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden, nachteilig auswirken konnte. Zorn stieg in ihm auf.

    »Sind diese Schwachköpfe nicht in der Lage aufzupassen? Das ist doch unglaublich! Sind wahrscheinlich alle auf dieser blöden Versammlung. Ha! Und was hast du jetzt eigentlich vor?«

    Misstrauisch beäugte der Zwerg den Hamster. Dann drängelte sich eine Erkenntnis nach vorn und er riss entsetzt die Augen auf.

    »Hast du etwa vor, ihm zu folgen?«

    Der Hamster nickte entschlossen.

    »Und du denkst, du kannst ihn zurückholen?«

    Der Hamster nickte erneut.

    Grummelbert verdrehte die Augen. Das wurde immer verrückter.

    »Jetzt hör mal. Wie oft soll es dir noch jemand sagen: Du bist kein Hund, klar? Du bist einfach nur ein dummer Hamster, der nicht ganz richtig im Kopf ist. Und es ist nicht deine Aufgabe, den Weihnachtsmann zu bewachen!«

    Es war ein seltsames Phänomen, welches sich keiner der Zwerge erklären konnte. Der Hamster war vor einem halben Jahr auf mysteriöse Weise zusammen mit dem Weihnachtsmann zu ihnen nach Zipfelbergen gekommen und hatte sich anfangs, soweit die Zwerge so etwas beurteilen konnten, wie ein ganz normaler Hamster verhalten. Er verschlief die Tage, und nachts schlich er durch die Stadt, wo er sich all das in die Backen stopfte, das nicht für ihn bestimmt war.

    Kurze Zeit später hatte er plötzlich begonnen zu bellen und zu knurren und war dem Weihnachtsmann tagsüber nicht mehr von den Fersen gewichen. Wie ein guter Wachhund eben, nur dass Elvis ein Hamster war. Er versuchte, mit seinem Stummelschwänzchen zu wedeln, wenn er sich freute, und was auch immer man wegwarf - war Elvis in der Nähe, konnte man sicher sein, dass er es kurze Zeit später keuchend wieder angeschleppt brachte.

    Die Zwerge hatten sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt. Hier passierten des Öfteren Dinge, für die es keine Erklärung gab. Wenn man zu intensiv darüber nachdachte, lief man Gefahr, für einen Intellektuellen gehalten zu werden. Und intellektuelle Zwerge bekamen Arbeiten weit weg von allen anderen zugeteilt, um keinen Schaden anrichten zu können.

    Grummelbert sah entnervt um sich und erschrak, als ihm seine Augen mitteilten, dass sie den Stall bereits verlassen hatten und das Rentier eben im Begriff war, sich in die Luft zu erheben. Eilig wollte er abspringen, als ihn etwas von hinten festhielt. Wütend schaute er sich um. Der Hamster hatte sich entschlossen in seinem Mantel verbissen.

    »Du schwachsinniger... Dings, äh, Hamster! Lass mich augenblicklich los! Sonst..., sonst sorge ich dafür, dass du bald keine Zähne mehr hast!«

    Doch Elvis presste entschlossen die Zähne zusammen. Er brauchte den Zwerg, wenngleich ihm dieser schon jetzt furchtbar auf die Nerven ging.

    Nach einer Weile wilden Gerangels schaute Grummelbert erneut nach unten und musste einsehen, dass es inzwischen eher von Nachteil wäre, wenn Elvis loslassen würde, da sie sich bereits einige Meter über dem Boden befanden.

    Stürze aus dieser Höhe endeten für ungeübte Zwerge zumeist fatal, selbst wenn sie auf Schnee landeten.

    Grummelberts Interessen verlagerten sich nach einer neuen Einschätzung der Situation mit einem Mal in die andere Richtung und nach einem weiteren erschrockenen Blick nach unten rief er: »Wehe, du lässt los!«

    Elvis biss noch entschlossener zu und versuchte, den zappelnden Zwerg wieder nach oben zu ziehen. Das war nicht so einfach, da Zwerge Hamster noch immer um einiges überragten und Elvis nicht sonderlich sportlich war. Aber schließlich bekam Grummelbert einen Gurt der Satteltasche zu packen und konnte sich hochziehen. Völlig erledigt ließen sich beide in die Satteltasche plumpsen.

    **

    Zögerlicher Applaus kämpfte sich durch die voll besetzten Stuhlreihen der Haupthalle. Die Zwerge waren mehr oder weniger gutwillig erschienen und blickten nach vorn. Auf dem Podium stand auf einem wackeligen Stapel eilig zusammengetragener bunter Geschenkkartons ein augenscheinlich sehr wütender Zwerg und gestikulierte wild mit seinen Fäusten.

    »Wir haben uns heute hier versammelt, um die Durchsetzung unserer Interessen endlich in unsere eigenen Hände zu nehmen. Die Ungerechtigkeit muss ein Ende haben! Lasst uns zusammen dafür kämpfen und die Zukunft gemeinsam besser gestalten! Auch Zwerge sollten qualifiziert, motiviert und eigenverantwortlich arbeiten dürfen.«

    Das Publikum warf sich skeptische Blicke zu und zeigte zunehmendes Missbehagen. Gemurmel wurde laut, und schließlich sprang ein besonders kleiner, aufgeregter Zwerg aus der dritten Reihe in die Höhe und rief: »Hattest du vorher nicht was von weniger Arbeit und mehr Urlaub und solchem Zeug versprochen? Wir haben kein Problem mit unserer Arbeit. Wir hätten nur gerne weniger davon. Und mehr Lohn! Deshalb sind wir hier!«

    Viele Zwerge nickten, und einige applaudierten spontan. Genau genommen hatten sie sich vorher nie viele Gedanken über ihre Arbeit gemacht, bis man ihnen Zettel mit diversen Verbesserungsideen in die Hand drückte, die das Blaue vom Himmel versprachen.

    Der Podiumszwerg begann zu schwitzen. Er hatte monatelange Überzeugungsarbeit leisten müssen, um die Zwerge zu dieser Versammlung zu überreden. Eine gefühlte Ewigkeit hatte er sich darauf vorbereitet, doch nun, da der große Moment gekommen war, lief es ganz und gar nicht nach Plan.

    In seiner Vorstellung war dies stets ein ausgesprochen erhebender, von allen Seiten umjubelter Augenblick gewesen. Davon war er jedoch weit entfernt. Irgendwie hatte er in seiner Euphorie das Wesen des typischen Zwerges gänzlich verdrängt und sah sich nun plötzlich mit der Realität konfrontiert.

    Wilbert hatte lange und intensiv recherchiert. In der jahrhundertelangen Geschichte des Weihnachtslandes und der Stadt Zipfelbergen hatte es nie einen nennenswerten Arbeitskampf gegeben. Die Zwerge taten jahrein jahraus ihre Arbeit und passten sich ohne zu Murren den Veränderungen an. Dabei mussten sie inzwischen mehr arbeiten denn je, da die Wünsche der Kinder immer größere Ausmaße annahmen und nebenbei noch ein widerwilliger Weihnachtsmann bewacht werden musste.

    Unterstützung von außerhalb war nicht zu erwarten, da sich gewisse Dinge herumgesprochen hatte. Das hier war kein Traumjob mehr. Versetzungsanträge nach außerhalb wurden grundsätzlich ignoriert oder abgelehnt. Man verließ sich auf das bei Zwergen überdurchschnittlich stark ausgeprägte Pflichtbewusstsein.

    So konnte, nein, so durfte es nicht weitergehen. Irgendjemand musste die Zwerge wachrütteln und auf ihre Möglichkeiten aufmerksam machen.

    Wilbert sah seine große Stunde gekommen.

    Aufmerksam hatte er in Zeitungen, die nach Zipfelbergen gelangt waren, nach Informationen gesucht und war schließlich auf die Wörter »Gewerkschaft« und »Streik« gestoßen.

    Wilbert war begeistert.

    Allerdings mussten erst noch irgendwie die anderen, in den meisten Fällen ausgesprochen konservativ eingestellten Zwerge, überzeugt werden.

    Beschwichtigend hob er die Hände. »Immer mit der Ruhe! Das kommt doch alles noch. Aber wenn wir schon Forderungen stellen, dann sollten diese auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen umfassen. Mitbestimmung, intensive Gesundheitsvorsorge und eine ausreichende Altersabsicherung zählen dazu genauso wie Arbeitszeitverkürzungen, Lohnerhöhungen, Leistungsprämien und die Erweiterung des Erholungsurlaubs.«

    Die Zwerge begannen wieder zu tuscheln. Besonders die jüngeren Zwerge waren nicht erpicht auf langwierige Versammlungen und diese hier schien schon jetzt zäh wie Rattenleder zu werden. Außerdem war ihnen die Sache mit der Altersabsicherung suspekt. Zwerge pflegten zu arbeiten, bis sie eines Tages umkippen. Und dann hatte sich in der Regel auch die Sache mit der Altersabsicherung erübrigt.

    Nach längerer Diskussion erhob sich schließlich ein ehrwürdiger alter Zwerg namens Humbert in der vordersten Reihe, nickte dem Podiumszwerg zu und sprach: »Junger Wilbert, fahre fort.«

    Aus einer der hinteren Reihen rief eine Stimme: »Na los Willi, sieh zu dass du heute noch fertig wirst!« Beifälliges Gekicher war zu hören, das allmählich in Applaus überging.

    Wilbert lief rot an und begann eilig, seine zahlreichen Zettel umzusortieren. Er hatte fast zwei Monate an der Ausarbeitung eines ausführlichen Referates gesessen. Aber alles würde er wohl nicht vortragen können, ohne dass einige Zwerge vor Langeweile starben oder zumindest genug hatten und gingen.

    Mit gerunzelter Stirn musterte er die unruhig umherrutschenden Zwerge. Das war wirklich empörend. Immerhin war er nur um das Wohlergehen dieser Zwerge bemüht, und jetzt so was.

    Nach kurzem Überlegen entschied er, die Zusammenfassung einer Studie über die steigende arbeitsbedingte Stressbelastung der Zwerge in den vergangenen drei Jahren und deren Auswirkungen auf die Lebensqualität vorzutragen.

    Da es im Saal ruhig blieb, wurde er anschließend noch etwas mutiger und referierte über psychische Ermüdung aufgrund steigender Arbeitsanforderungen. Aber offensichtlich hatte er den Begriff Ermüdung zu häufig gebraucht. Und als schließlich fast die Hälfte der Zwerge schlief und sogar die Streber nur noch mit Mühe die glasigen Augen offen halten konnten, war auch Wilbert nicht mehr imstande, das laute Schnarchen länger zu ignorieren.

    Resigniert blickte er in die traurige Runde. »Kommen wir nun zum Ende!«

    Schlagartig waren die Zwerge wieder wach, sahen sich verwirrt um und fragten sich, ob sie wohl etwas Wichtiges verpasst hätten.

    »Hier auf diesem Papier«, Wilbert schwenkte ein großes, eng beschriebenes Blatt hin und her, »sind sämtliche bisher besprochenen Forderungen genauestens dokumentiert. Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhungen, Leistungsprämien, und so weiter und so fort. Und da wir die Interessen wirklich jeden Zwerges vertreten wollen, könnt Ihr jetzt selbst noch weitere Punkte vorschlagen, welche in den Forderungskatalog aufgenommen werden sollten.«

    Mit einem Mal gab es kein Halten mehr. Die Zwerge schrieen lauthals heraus, was ihnen wichtig erschien, und Wilbert sah hilfesuchend zu dem alten Zwerg. Humbert hob die Hand, und erstaunlicherweise herrschte von einem Moment zum nächsten Stille. Zwerge hatten großen Respekt vor dem Alter und achteten streng auf eine entsprechend ausgelegte Hierarchie. Wie bedauerlich, dass Wilbert nach Zwergenmaßstäben noch nicht besonders alt war.

    Der alte Zwerg forderte die anwesenden Zwerge nun einzeln zum Sprechen auf. Der erste rief aufgebracht: »Was ist mit den Aufstiegs- und Versetzungsmöglichkeiten? Nicht alle finden es hier im Dauerfrost und mit ständigem Glöckchengebimmel so großartig! Vielleicht möchte ich ja lieber als Märchenzwerg arbeiten. Aber nein - wenn man hier einmal hergeschickt wurde, kommt man nicht mehr weg!«

    Sein Nachbar grinste. »Du willst ja nur Schneewittchen unter den Rock gucken!«

    »Halts Maul, du Blödkopp!«

    Wilbert schnitt den beiden entschlossen das Wort ab. »Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag, der gerne mit aufgenommen werden kann. Gibt es weitere Ideen?«

    In der zweiten Reihe erhob sich ein sehr gepflegt aussehender Zwerg und schaute auf einen vorbereiteten Zettel. »Wie sieht es denn aus mit der Erweiterung der hier vor Ort angebotenen Dienstleistungen wie Friseur, Wellness- oder Fitness-Möglichkeiten? Solche Dinge sind maßgebend für die Lebensqualität, wurden bislang aber völlig vernachlässigt. Es könnten entsprechende Fortbildungen angeboten werden.«

    »Ja, Ken. Und wer soll das bitteschön machen?« fragte ein anderer Zwerg.

    Ken zeigte seine blitzenden, perfekt gepflegten Zähne und antwortete liebenswürdig: »Ich zum Beispiel. Und deine Locken drehe ich dir gratis. Falls ich noch Haare finden kann!«

    »Schluss mit dem Geblödel«, rief Wilbert verärgert. Aber nach kurzer Diskussion wurde auch diese Forderung aufgenommen, genau wie eine vielfach begrüßte Gefahrenzulage für die Arbeit bei den zunehmend aggressiver werdenden Kindern, Förderung von Freizeitaktivitäten und die Einsetzung eines Komitees zur Abwehr besonders unverschämter Kinderwünsche.

    Dann kam ein heikles Thema auf den Tisch, als dem Zwerg Valentin das Wort erteilt wurde und dieser schüchtern und mit roten Ohren Verbesserungen der Frauenrechte forderte.

    In diesem Moment brach unter dem wütenden Wilbert der wackelige Stapel aus Kartons zusammen und er knallte mit dem Kopf aufs Podium. Danach verschwand er gänzlich aus den Blicken des interessierten Publikums. Aber nur kurz.

    Wilbert rappelte sich auf, stürmte mit blutender Nase hinter dem Podium hervor und rief erregt: »Totaler Unsinn! Das ist doch völlig verrückt! Eine Zwergin«, bei diesem Wort verzog er das Gesicht, als habe ihm soeben jemand etwas Stinkendes unter die Nase gehalten, »hat doch schon die gleichen Rechte wie ein Zwerg. Da gibt's überhaupt keinen Unterschied!«

    »Ja, eben. Das ist es ja. Vielleicht wäre den Zwerginnen ein Unterschied aber lieber«, entgegnete Valentin hitzig. »Und, und, äh... vielleicht möchte man ja auch mal als Frau wahrgenommen werden«, fügte er kleinlaut hinzu.

    Allgemeine Empörung machte sich breit und es drohte, ein Tumult auszubrechen. Da die Äxte am Eingang abgegeben werden mussten (Wilbert gratulierte sich nachträglich zu dieser Entscheidung), wurde wild gestikuliert und mit den für alle Fälle mitgenommenen Büchern auf Zwergenmützen geschlagen. Erst nachdem der alte Zwerg eingeschritten war, konnte wieder etwas Ruhe in den Saal gebracht werden.

    Wilbert, der inzwischen auf die erneut aufgestapelten Kartons geklettert war, hatte sich wieder unter Kontrolle und sagte schließlich diplomatisch: »Nun gut. Dieses Thema klammern wir vorläufig aus und besprechen es auf einer der nächsten Versammlungen.«

    Aus Valentins Richtung erklang wütendes Gemurmel in Richtung Podium, während sich die anderen Zwerge bei der Aussicht auf weitere Versammlungen verstörte Blicke zuwarfen.

    »Also, nehmt bitte wieder Platz«, forderte Wilbert verzweifelt.

    »Äh, wer platzt?« fragte ein verwirrter Zwerg in der ersten Reihe und sorgte damit für leichte Entspannung.

    Entschlossen brach Wilbert den Diskussionsteil ab. Er hatte nun die volle Aufmerksamkeit der Zwerge und wollte diesen Moment ausnutzen. Übereifrig hob er den Zeigefinger und stach sich damit ins Auge. Das Publikum beobachtete gefesselt, wie er sich mit einem Taschentuch das tränende Auge zuhielt und sich erneut an sie wandte.

    »Kommen wir nun zum eigentlichen Punkt. Zur Durchsetzung unserer Forderungen müssen wir hier und heute eine Gewerkschaft gründen und über die Durchführung eines Streiks abstimmen.«

    »Moment noch«, rief eine verschlafene Stimme aus der letzten Reihe. Svante, der sich zur Zeit hauptsächlich um die anstrengende und ermüdende Überwachung des Weihnachtsmannes kümmerte, war erst durch den Tumult aus seinem Nickerchen erwacht. »Was ist eigentlich mit Zulagen für Wachdienst und Nachtschichten?«

    Die Zwerge sahen sich zustimmend an. Das klang ausgesprochen vernünftig. Schließlich hatte jeder schon mal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, jeden Schritt des Weihnachtsmannes bewachen und sämtliche (und auch zahlreiche) Ausreißversuche erkennen oder schon vorhersehen zu müssen.

    In diesem Moment fragte eine Stimme zaghaft: »Äh, wer bewacht eigentlich jetzt den Weihnachtsmann?«

    **

    Constantin machte es sich im Schlitten gemütlich und entspannte sich.

    Endlich!

    Endlich hatte er es geschafft, nach so vielen hoffnungslosen Versuchen. Er war Tag und Nacht bewacht worden. Und selbst dann, wenn weit und breit kein Zwerg zu sehen war, hatte das nicht das Geringste zu bedeuten. Abgesehen davon, dass Zwerge naturgemäß sehr klein waren, hatten sie die Kunst des Versteckens praktisch zur Vollendung gebracht. Und diese Zwerge waren dabei besonders gut.

    Vor einem Jahr noch hätte er jeden des fortgeschrittenen Wahnsinns bezichtigt, der etwas über die Existenz von Zwergen erzählte. Als er dann selbst den ersten Zwerg zu Gesicht bekam, war er sich sicher, den Verstand verloren zu haben. Was in seiner Situation vielleicht gar nicht so schlecht und irgendwie sogar vorhersehbar gewesen wäre. Bis er sich dann kurze Zeit später der Erkenntnis stellen musste, dass sein Verstand nur zu gut funktionierte und all das real war.

    Er fragte sich noch immer, womit er das verdient hatte.

    Einer der ersten Wege in seinem neuen Leben als Sklave des Weihnachtswahnsinns führte Constantin vor nunmehr beinahe einem halben Jahr in die Zwergenbibliothek. Die Ausmaße dieses Raumes erschütterten ihn. Er hatte nie besonders viel gelesen und die kleine örtliche Bibliothek, die er in seiner Schulzeit gelegentlich gezwungen war zu besuchen, überforderte ihn bereits. Er fand sein eigenes Leben schon anstrengend genug und wollte sich um nichts in der Welt auch noch mit fremden Geschichten belasten.

    Jetzt sah er sich mit einem gewaltigen unterirdischen Komplex von Räumen konfrontiert, die allesamt bis zur selbst für menschliche Maßstäbe hohen Decke mit endlosen Reihen von Büchern vollgestopft waren. Die meisten Bücher waren recht klein und sehr alt, aber es gab auch neuere und sehr große Exemplare. Constantin fragte sich, wie die Zwerge an die höher gelagerten Bücher gelangten und vermutete, dass diese Regale absichtlich so hoch waren, damit man eine Ausrede hatte, weshalb man die entsprechenden Bücher nicht las. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und bei den Zwergen befanden sich die Augen noch ein erhebliches Stück tiefer als bei Constantin.

    Etwas später entdeckte er Leiterwagen, die an den Bücherreihen entlang geschoben wurden. Er gelangte zu der Einsicht, dass man hier tatsächlich viel zu lesen schien, und Constantin fühlte sich noch unwohler, als dies ohnehin schon der Fall war.

    Wie er dann von dem diensthabenden Bibliothekarszwerg erfuhr, handelte es sich bei den Büchern überwiegend um archivierte Wunschzettel und Geschenkelisten längst vergangener Zeiten. Aber auch normale Bücher nahmen einen bedenklich großen Teil der Räume ein und Constantin hatte Mühe, das verwirrende System zu durchschauen. Doch schließlich fand er in einem etwas abgelegenen Raum das gesuchte Hinweisschild mit der Aufschrift Zwerge und er begann, die Bücherrücken zu studieren.

    Wenn man einmal davon absah, dass die Existenz von Zwergen schlichtweg unmöglich war, hatte er sich darunter immer sehr, sehr kleine, harmlose Menschen mit langen Bärten und lustigen Mützen vorgestellt, die gerne sangen. Die Realität hatte ihn eines Besseren belehrt¹ und jetzt wollte er es genau wissen.

    Constantin verbrachte über drei Stunden damit, konzentriert zu lesen. Noch nie zuvor in seinem Leben war ihm das passiert.

    Die meisten Bücher enthielten Zwergengeschichte. Constantin hatte sich nie sonderlich für Geschichte interessiert, da das, was man da erfuhr, bereits vorbei war und sowieso nicht mehr geändert werden konnte. Aber er würde wetten, dass Menschen nicht annähernd so viel Geschichte vorzuweisen hatten.

    Es gab endlos viele Kämpfe, Kriege, Dynastien und Aufstände², aber nichts, das wirklich Aufschluss über das Wesen von Zwergen gab.

    Doch irgendwann lernte Constantin, zwischen den Zeilen zu lesen.

    Es gab wie bei den Menschen kluge und dumme, fröhliche und mürrische, freundliche und hinterhältige, schöne und hässliche³ Zwerge.

    Aber es gab auch verschiedene Stämme, die sich äußerlich voneinander unterschieden. Nicht wie bei Menschen in Haut- und Haarfarbe, aber in Größe und Statur. Constantin erfuhr, dass die Zwerge hier mit ihrer Größe von ungefähr vierzig bis fünfzig Zentimetern eher klein und schmächtig waren. Die größeren Stämme waren überwiegend im Bergbau tätig oder schmiedeten Werkzeuge und Ähnliches, wogegen sich die kleinwüchsigeren Stämme auf filigranere Tätigkeiten verlegt hatten.

    Außerdem gab es noch die Minderheiten der Weihnachtszwerge, Märchenzwerge, Heinzelmännchen und Waldwichtel, welche zumindest in den Märchen und Legenden der Menschen auftauchten und von diesen auch gelegentlich gesehen wurden. Mitunter sogar absichtlich.

    Constantin fand nirgends einen Hinweis auf Zwerginnen oder gar darüber, woher die kleinen Zwerge kamen, was ihm seltsam vorkam. Als Mensch war man heutzutage daran gewöhnt, an allen Ecken auf entsprechende Anspielungen zu stoßen, ob man nun wollte oder nicht.

    Zuerst vermutete Constantin, er sei in einer Art Kloster für männliche Zwerge gelandet und alle Hinweise auf das andere Geschlecht seien aus Sicherheitsgründen aus der Bibliothek verbannt worden.

    Aber irgendwann fand er Bilder von Zwergen mit ihren Müttern und stellte fest, dass die Mütter genauso aussahen wie ihre Söhne (oder vielleicht auch Töchter), nur noch älter. Irgendwann stellte sich Constantin der Erkenntnis, dass Zwerge und Zwerginnen für sein ungeübtes Auge äußerlich nicht unterschieden werden konnten. Zumindest solange sie angezogen waren.

    Auch spätere vorsichtige Nachfragen bei seiner Zwergenwache führten zu keinen neuen Erkenntnissen, da Zwerge ausgesprochen zugeknöpft reagierten, wenn man dieses Thema anschnitt. Also war Constantin bisher aus dem Stadium der interessanten Theorien noch nicht herausgekommen und er hatte die Lösung dieses Rätsels im Laufe der Zeit abgehakt.

    Constantin legte die Beine auf die Schlittenwand und machte es sich bequem.

    Er hoffte inständig, dass er jetzt das gesamte Kapitel Zwerge abhaken konnte. Irgendwann würde dann die Verdrängung ihren Teil der Arbeit erledigen und seine Erinnerungen an diese grauenvolle Zeit tilgen.

    Nie wieder wollte er etwas mit diesen Leuten zu tun haben. Derartige Gesellschaft führte dazu, dass man weggesperrt und nie wieder herausgelassen wurde.

    Und wieso hatte er das alles über sich ergehen lassen müssen? Nun? Wegen Weihnachten. Wegen des deprimierendsten Festes, das er sich überhaupt vorstellen konnte. Weihnachten war für ihn etwas, das er schon von früher Kindheit an fürchten gelernt hatte. Nur widerwillig erinnerte er sich.

    Constantins prägendste frühe Erinnerung war Heiligabend, als er fünf Jahre alt war. Seine drei Geschwister und er saßen aufgeregt im Wohnzimmer und warteten auf den Weihnachtsmann. Er sah noch genau vor sich, wie er zwischen seinen zwei älteren Brüdern saß, die großspurig Erinnerungen an vergangene Begegnungen mit dem Weihnachtsmann austauschten und sich dabei an Heldenmut und Verwegenheit offensichtlich gegenseitig übertroffen hatten. Constantin war unendlich stolz auf seine unerschrockenen Brüder und glücklich, dass er dazugehörte. Es war zwar nicht immer einfach, das Gekicher und die Bemerkungen ihrer siebenjährigen Schwester Leonore zu ignorieren, deren Gedächtnis offensichtlich besser funktionierte und die sich deutlich erinnern konnte, dass die beiden Maulhelden jedes Mal ganz still wurden, sobald es an der Tür klopfte. Aber Constantin und seine Brüder bemühten sich nach Kräften, die Existenz ihrer Schwester einfach zu übersehen.

    Das Ignorieren der Vorgänge im Nebenzimmer fiel da schon schwerer.

    Seine Eltern brüllten sich dort bereits seit einer Ewigkeit an. Das war auch vorher schon hin und wieder vorgekommen, aber irgendwie klang es dieses Mal anders. Ernster.

    Schließlich stürmte sein Vater mit einer großen Tasche in der Hand aus dem Schlafzimmer. Seine Mutter folgte ihm weinend und rief immer wieder: »Bleib doch hier. Es ist Weihnachten, und wir können über alles reden.«

    Doch sein Vater blieb hart. »Das hättest du dir eher überlegen müssen. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts passiert, und Weihnachten geht mir im Moment völlig am A...«, erschrocken schaute er zu seinen Kindern, die fassungslos auf dem Sofa saßen, und ihn mit angehaltenem Atem beobachteten. »... Ähm, ist mir gerade nicht wichtig.«

    Theodor, Constantins ältester Bruder fragte mit aufgerissenen Augen: »Papi, wo willst du denn hin?«

    »Ich weiß nicht, mein Kleiner. Ich werde mich morgen bei euch melden, aber heute müsst ihr mit dem Weihnachtsmann alleine fertig werden. Ich bin sicher, dass ihr das schafft. Ihr seid doch schon groß.«

    Und dann tat Constantins Vater etwas, das Constantin das kleine Herz brach und dazu führte, dass er die Welt nicht mehr verstand: Er riss Constantins Brüder vom Sofa und umarmte sie stürmisch. Dann ging er zum Sessel, von dem Leonore bereits aufgesprungen war, und umarmte auch sie, während ihm Tränen in den Augen standen. Constantin stand langsam auf und ging auf seinen Vater zu, doch der wich zurück und sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an. Danach griff er hastig nach seiner Tasche, die er zuvor achtlos hatte fallen lassen, und verschwand eilig.

    Theodor kam mit wütendem Gesicht auf Constantin zu. »Was hast du gemacht? Wieso ist Papa jetzt weg?«

    Constantin begann zu weinen und sah sich hilfesuchend nach seiner Mutter um, doch die hatte sich schluchzend auf einen Sessel fallen lassen und beachtete ihn nicht.

    An diesem Tag hatte keiner mehr mit Constantin gesprochen und er zermarterte sich den Kopf, was die Ursache dafür sein könnte. Doch ihm wollte nichts einfallen. Immerhin hatte er sich in den letzten Tagen ganz besonders bemüht, sich nichts zuschulden kommen zu lassen, da Weihnachten vor der Tür stand und man bekanntlich nie wissen konnte.

    Seine Mutter zog sich bald darauf wieder weinend ins Schlafzimmer zurück, während seine Geschwister spekulierten, was Constantin angestellt haben könnte. Aber selbst ihre verblüffend blühenden Phantasien ergaben nichts, das auch nur ansatzweise eine solche Konsequenz gerechtfertigt hätte.

    Später klopfte es an die Tür, doch ihre Mutter war schneller als sie und verbot ihnen, mit in den Flur zu kommen. Leonore und Theodor rannten zu Tür, um zu lauschen, aber auch von dort hörten sie nur, dass kurz gesprochen wurde, konnten jedoch kein Wort verstehen.

    Danach kam ihre Mutter mit verweinten Augen und einem großen Sack herein, stellte diesen vor den Kindern ab und sagte kurz angebunden: »Hier sind eure Geschenke. Der Weihnachtsmann hatte heute keine Zeit hereinzukommen. Wenn ihr wollt, könnt ihr sie schon aufmachen.« Daraufhin ging sie wieder ins Schlafzimmer.

    Constantin wollte keine Geschenke mehr. Er wollte, dass Papa zurückkam und ihn in den Arm nahm. Keines der Kinder zeigte Interesse an dem Inhalt des großen Sacks. Schließlich ging Constantin zu Bett und weinte sich in einen unruhigen Schlaf.

    Am nächsten Tag setzte sich die Mutter mit ihnen zusammen und erklärte, dass Papa erstmal weggefahren sei, aber sicherlich bald wieder zurückkäme. Doch niemand glaubte ihr recht. Theodor fragte seine Mutter, was Constantin denn Schreckliches angestellt habe, aber diese sagte nur abwesend: »Wie kommst du bloß auf diesen Unsinn? Keiner hat was angestellt.«

    Die Zeit danach war für den kleinen Jungen die reinste Hölle. Constantin hing von all seinen Geschwistern am meisten an seinem Papa, und jetzt trug er scheinbar die Schuld, dass dieser sie verlassen hatte. Und es war ihm ein Rätsel, weshalb.

    Ab und zu kam Papa vorbei und holte Constantins Geschwister ab, aber für ihn hatte er kaum mehr als ein kurzes »Hallo« übrig. Als sein Vater das erste Mal zu ihnen kam, war Constantin freudestrahlend in den Flur gestürmt. Doch wie er den Gesichtsausdruck seines Vaters sah, war er stehen geblieben, als ob er gegen eine Wand gerannt sei. Sofort schossen ihm wieder die Tränen in die Augen und er stieß hervor: »Was habe ich denn getan?«

    Sein Vater zerwuschelte ihm kurz die Haare und sagte leise: »Du kannst nichts dafür. Aber es ist im Moment besser so. Ich ..., ich kann einfach nicht.«

    Constantin musste mit ansehen, wie seine Geschwister sich anzogen und mit Papa ins Kino gingen. Und später auch zum Eislaufen, auf den Spielplatz und schließlich zu Papas neuer Wohnung. Und sosehr Constantin seine Mutter auch mit Fragen löcherte, erfuhr er nicht, weshalb er nicht mitgehen durfte.

    Bis eines Tages Theodor verkündete, er wisse jetzt, was los sei, da er ein Gespräch zwischen Oma und ihrer Nachbarin belauscht hatte. Constantin war ganz aufgeregt. Theodor zeigte mit dem Finger auf ihn und behauptete: »Du bist nicht das Kind von Papa. Du hast einen anderen Vater.«

    »W-was?«

    Constantin war zu klein, um das zu verstehen. Papa war Papa und er wusste nicht, weshalb das plötzlich anders sein sollte. Aber Theodor war noch nicht fertig und verbreitete stolz sein neu erworbenes Wissen. »Papa dachte immer, dass der da«, dabei zeigte er wieder auf Constantin, »sein Kind ist. Und als er gehört hatte, dass das nicht stimmt, war er so traurig, dass er nicht

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