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Genießen und Genossen
Genießen und Genossen
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eBook483 Seiten6 Stunden

Genießen und Genossen

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Über dieses E-Book

1988.
Es wurde gehandelt, getauscht und getuschelt. Gewünschte Dinge oder Dienstleistungen wurden nicht gekauft, sondern besorgt. Über, unter oder hinter Ladentischen. Gern auch an ihnen vorbei. Die beste Währung war die aus dem anderen Teil Deutschlands - nicht nur in Münzen und Scheinen, sondern auch in Kaffee und Schokolade. Für eine zickige Großcousine dritten Grades aus dem Westen hätte manch einer seine Oma verkauft. Das Leben im Osten Deutschlands bot seine ganz eigenen Herausforderungen – und auch Kuriositäten. Der Spaß kam nicht zu kurz. Man brauchte nur die richtige Einstellung. Kannte man dazu auch noch die richtigen Leute, umso besser.
Kein Wunder, dass Marlene zugreift, als das Schicksal ihr nicht nur einen, sondern gleich mehrere Kontakte zum Westen Deutschlands in den Schoß wirft. Und siehe da – neben unerwarteten Freundschaften entsteht eine rege Handelsbeziehung. Das bringt Probleme mit sich. Und auch zwischenmenschlich und familiär läuft nicht immer alles rund. Neben ganz alltäglichen Missverständnissen und Verwirrungen spielt in Marlenes Leben plötzlich auch die Liebe wieder eine entscheidende Rolle und verkompliziert alles noch mehr. Und dann war da auch noch die Neugier der anderen – gleich welcher Natur.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum28. Nov. 2016
ISBN9783741871054
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    Buchvorschau

    Genießen und Genossen - Mira Bergen

    Impressum:

    Genießen und Genossen

    Mira Bergen

    Copyright: © 2016 Mira Bergen

    Copyright Coverdesign: © 2016 Mira Bergen

    Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    ISBN: 978-3-7418-7105-4

    Prolog

    Mit einem Mal war die Welt größer. Viel größer. Einfach so. Und damit nicht genug. Plötzlich war sie bunt.

    Freudige Erwartung und Hoffnung durchströmte das Land.

    Die Ängste kamen später.

    DDR, Oktober 1988

    Die Beerdigung war gut besucht. Zu gut.

    In dem Dorf gab es zwar nicht allzu viele Bewohner, doch ein bisschen größer hätte man die Friedhofskapelle schon bauen können, fand Marlene. Zumindest groß genug, um Platz für einen Kachelofen zu haben und die Türen schließen zu können.

    Letzteres war aufgrund der Vielzahl der Trauergäste unmöglich. Die großen Flügeltüren – so breit wie die gesamte Kirche (beziehungsweise das Kirchlein) selbst – blieben weit geöffnet und sorgten dafür, dass die eisige Oktoberluft auch den letzten Winkel durchdrang.

    In der vergangenen Nacht hatte es Frost gegeben.

    Eigentlich sollte die angekündigte Sonne inzwischen für erträglichere Temperaturen sorgen, doch die Meteorologen hatten offenbar nicht mit dem Nebel gerechnet, der in dicken Schwaden über dem Friedhof hing und sich nur zögerlich der Oktobersonne geschlagen gab.

    Das hieß, die Leute draußen vor den großen Flügeltüren mussten zwar stehen, doch sie konnten in der zunehmenden Sonne allmählich auftauen. Marlene hingegen hatte der Verstorbenen nahe gestanden und war von der Familie gebeten worden, gemeinsam mit ihr in der winzigen Kapelle Platz zu nehmen. Was eigentlich als Privileg gedacht war, sorgte nunmehr dafür, dass Marlene ihre Zehen nicht mehr spürte.

    Marlene warf einen verstohlenen Blick nach draußen zu den von der Sonne Beschienenen.

    Lieber Himmel. Waren das viele.

    Eigentlich kein Wunder. Agathe hatte die Gemüter gespalten. Entweder die Leute fanden sie großartig oder – nun, das Gegenteil eben. Traten solche Persönlichkeiten ihren letzten Gang an, kamen alle. Die einen, um sich zu verabschieden, und die anderen, um sicher zu gehen.

    Marlene hatte Agathe gemocht. Schon seit ihrer gemeinsamen Kindheit. Hätte Marlene eine beste Freundin benennen sollen, wäre Agathe dem am nächsten gekommen, wenngleich sie nicht immer ganz leicht zu ertragen war. Doch sie war der lebendigste und unterhaltsamste Mensch gewesen, den Marlene kannte. Sie vermisste Agathe aufrichtig und wollte daher nur zu gern in angemessener Weise die Beerdigung zum Abschied nutzen. Doch diese verdammte Strumpfhose war einfach zu dünn. Die Kälte kroch ihr durch die Knochen und ließ sie keinen klaren Gedanken fassen.

    Marlene war ebenfalls nicht mehr die Jüngste. Mit einundsechzig Jahren wuchs die Zahl der Beerdigungen, die ihre Teilnahme erforderten, naturgemäß. Daher besaß sie eine recht umfangreiche beerdigungstaugliche Garderobe – darunter auch etliche warme Sachen. Doch Agathe hatte stets Wert darauf gelegt, schick auszusehen, ohne sich dabei um Nebensächlichkeiten wie das Wetter zu scheren. Marlene glaubte daher, es Agathe schuldig zu sein, bei deren Beerdigung ebenfalls einen gewissen Stil an den Tag zu legen. Und dazu gehörten nun mal Rock und Strumpfhosen.

    Falls Agathe von irgendwoher zusah, hatte sie vermutlich eine Menge Spaß. Das hätte ihr gefallen.

    Verdammter Mist.

    Auf Beerdigungen zu fluchen war in etwa so schlimm wie zu kichern. Doch die Kälte war unerträglich und Marlene wollte nicht hier und jetzt die Nächste sein, die Anlass für ein Begräbnis gab.

    Der Redner taugte auch nicht als Ablenkung.

    Marlene lauschte erstarrt einer weltlichen Trauerrede – Agathe hatte es nicht so mit der Religion –, die gleich in mehrerlei Hinsicht Grauen hervorrief.

    Zunächst einmal war sie zu lang. Wenngleich Marlene nicht vom Schlimmsten ausging – nämlich spontanem Erfrieren –, war doch nicht auszuschließen, dass sich bei dem Durchschnittsalter des Publikums die eine oder andere Lungenentzündung entwickelte und zu einem fatalen Ende führte. Marlene argwöhnte, dass der Trauerredner da vorn ganz genau wusste, was er da tat. Sozusagen Kaltakquise.

    Doch auch in anderer Hinsicht kam die Rede einer Folter gleich.

    Sie war lieblos und allgemein und konnte bis auf einige wenige Passagen auf so ziemlich jeden angewendet werden – was vermutlich auch der Fall war. Offensichtlich hatte Agathe in der sozialistischen Gemeinschaft nicht die tragende Rolle eingenommen, die man von einer fortschrittlichen Frau erwartete.

    Marlene setzte darauf, dass der Pfarrer das bei ihrer eigenen Beerdigung besser hinbekam. Doch man musste mit allem rechnen. Womöglich wurden, bis sie selbst an der Reihe war, kirchliche Trauerreden verboten. Bei denen wusste man nie. Bloß gut, dass ihr das, wenn sie es recht bedachte, vollkommen egal sein konnte. Denn sie selbst würde dann, wie sie hoffte, von dem ganzen Theater gar nichts mitbekommen und stattdessen irgendwo mit Agathe ihren Spaß haben.

    Marlene spitzte die Ohren, um herauszufinden, wie weit der Redner vorangekommen war.

    »… Leben ist ein ständiger Kreislauf. Ein Kommen und Gehen. Jeder hat seine Zeit – einem ist mehr vergönnt, dem anderen weniger. Sehr verehrte Trauergäste, wenn man in die Runde der Anwesenden schaut, fragt man sich unwillkürlich, an wessen Grab wir uns als nächstes wiedersehen.«

    Mit einem Mal saß Marlene aufrecht. Und sie war nicht die Einzige. Ein Keuchen ging durch die Reihen.

    Hatte der das eben wirklich gesagt?

    Die Augen der Anwesenden wanderten verstohlen durch die enge Kapelle. Trafen sie sich, sah man hastig weg, um dann unauffällig auf der anderen Seite die Suche fortzusetzen. Ein jeder überlegte, wen es wohl treffen würde, und die Erleichterung war groß, wenn der Blick auf jemanden fiel, der augenscheinlich älter oder leidender aussah.

    Marlene musste gereizt erkennen, dass sie – zumindest innerhalb der Kapelle – abgesehen von Agathes Ehemann das fortgeschrittenste Alter aufzuweisen hatte.

    Die Schwester der Verstorbenen war zwar nur ein oder zwei Jahre jünger. Doch die zählte nicht, da sie im Westen lebte und mit Sicherheit auch einmal dort beerdigt werden würde. Marlenes Blick traf auf den von Agathes Schwester und Marlene nickte ihr zu. Das Entsetzen in deren Gesicht verriet, was sie von dem sozialistischen Einheitsbegräbnis hielt. Marlene konnte es ihr nicht verdenken. Dieser Redner war eine Zumutung. Besser, man hörte weg.

    Immerhin. Der aufsteigende Ärger brachte das Blut in Wallung. Davon wurde einem zwar nicht unbedingt warm, doch zumindest war es plötzlich weniger kalt. Vielleicht vergaß man auch einfach für den Moment, über die Kälte nachzudenken, da die gesamte Aufmerksamkeit davon beansprucht wurde, sich vorzustellen, wie man diesen Schwachkopf da vorne endlich zum Schweigen bringen konnte. So schmerzhaft wie möglich.

    Schließlich hätte Marlene beinahe das Ende verpasst. Es kam abrupt und löste fast so etwas wie Begeisterung aus. Zumindest allgemeine Erleichterung.

    Doch das Drama war noch nicht vorbei. Im Gegenteil. Mit zunehmender Bestürzung beobachtete die Trauergemeinschaft, wie die Sargträger den Sarg nach draußen trugen und dabei der Boden desselben allmählich nachgab. Die Wölbung wurde größer. Entsetzen machte sich breit. Bitte lass das Grab gleich neben der Tür sein, dachte Marlene und sah fassungslos hinterher.

    Das Stroh auf dem Sargboden wurde sichtbar.

    Agathe war nicht eben ein schlankes Reh gewesen, doch längst nicht so korpulent, dass diese Bretterkiste noch nicht mal die paar Meter aus der Kapelle bis zum Grab hielt. Vermutlich war das Holz knapp und die volkseigene Sargtischlerei hatte geschludert, um den Plan übererfüllen zu können. Vielleicht waren aber auch einfach nur die Nägel zur Neige gegangen. Irgendwer hatte vergessen, bei der letzten Fünfjahresplanung diversen Roh- und Werkstoffbedarf für diejenigen, die es hinter sich gebracht hatten, einzukalkulieren. Oder es waren mehr Leute gestorben, als die Planwirtschaft vorsah. So was kam vor. Kein Wunder bei derart zugigen Friedhofskirchen.

    Doch Gott sei Dank – der Sarg hielt, bis er im Erdboden verschwand. Nicht nur Marlene atmete auf. Die Alternative wäre undenkbar gewesen.

    Agathes Mann Herbert starrte mit zusammengebissenen Zähnen dem Sarg hinterher. Er war ein cholerischer Mensch. Die einzige Herrschaft, die er je widerspruchslos anerkannt hatte, war die seiner Frau gewesen. Marlene konnte sich schon denken, was in ihm vorging. Der Redner sollte besser die Beine in die Hand nehmen.

    Marlene hatte nicht vor, am anschließenden Trauerkaffee teilzunehmen. Das sollte allein der Familie vorbehalten sein.

    Darüber hinaus hatte sie Herberts ungesunde Gesichtsfarbe bemerkt und es erschien ihr sicherer, einen Bogen um seine unmittelbare Umgebung zu machen. Agathes Verlust hatte ihn schwer getroffen. Sie war sein Leben gewesen. Bei seinem unberechenbaren Gemüt wollte Marlene lieber nicht aus der Nähe beobachten, wie er mit diesem Verlust umging.

    Agathes einziger Sohn war mit seiner Familie aus Thüringen angereist. Marlene hatte keinen persönlichen Bezug zu ihm. Zumindest nicht mehr. Nein. Es war besser, sie verdrückte sich, bevor jemand auf die Idee kam, sie aus Gründen der Höflichkeit einzuladen, und sie aus ebendiesen Gründen nicht ablehnen konnte.

    Ihre suchenden Augen wanderten zum Eingang des Friedhofs und gleich danach auf die Uhr. Verdammt. Ihr Schwiegersohn sollte längst da sein, um sie abzuholen. So etwas gehörte zu seinen Pflichten. Denn infolge Marlenes vorausschauender Fahrzeugbestellung vor vielen Jahren und einer ansehnlichen finanziellen Zuwendung verfügte der jetzt über einen Wartburg.

    Marlene fand, unter diesen Umständen sollte es für ihn doch das Mindeste sein, seine Schwiegermutter bei Bedarf von A nach B zu transportieren, ohne rumzumaulen und dumme Fragen zu stellen. An den letzten beiden Punkten musste er noch arbeiten, aber ansonsten funktionierte das – abgesehen von heute – ganz gut. Vielleicht fürchtete er, Marlene könnte anderenfalls ihren kostenlosen Enkel-Betreuungsdienst einstellen.

    Wenngleich sie ihm das nie sagen würde, musste er sich darüber keine Sorgen machen. Für ihre Enkel würde sie alles tun. Auch wenn sie deren Vater nicht mochte.

    Dummerweise sah Marlenes Tochter in diesem irgendetwas, das sich Marlene nicht offenbarte. Und das seit nunmehr beinahe zwanzig Jahren. Marlenes Hoffnungen schwanden, dass sich daran noch etwas ändern könnte. Doch sie würde einen Teufel tun, ihn deshalb zu mögen. Alles hatte seine Grenzen.

    Agathes Schwester näherte sich und Marlene verfluchte einmal mehr ihren Schwiegersohn. Wo zum Teufel steckte der?

    Nicht nur die unwürdige Beerdigung steckte Marlene in den Knochen. Auch der Verlust ihrer Freundin setzte ihr zu. Und sie fühlte sich nicht in der Stimmung, deren Verwandtschaft zu trösten und Phrasen auszutauschen. Für sie waren das mittlerweile zum größten Teil Fremde. Was sollte man da groß sagen?

    An Elisabeth, Agathes Schwester, waren die langen Jahre ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen. Vor einer Ewigkeit hatten sie miteinander gespielt. Das hieß, Agathe und Marlene waren gezwungen gewesen, Elisabeth zum Spielen mitzunehmen. Die kleine Schwester. Wie das eben so war. Und mal abgesehen davon, dass kleine Geschwister schon aus Prinzip nervten – erst recht die Geschwister der anderen –, war Elisabeth recht erträglich gewesen. Doch dann heiratete sie früh und zog in die Nähe von Köln. In eine andere Welt. Agathe hatte sie gelegentlich erwähnt; insbesondere wenn Elisabeth zu Besuch kam oder Pakete schickte. Doch persönlichen Kontakt hatte es schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gegeben.

    »Erinnerst du dich an mich?« fragte Elisabeth und Marlene seufzte innerlich.

    »Natürlich. Wie … wie geht es dir?« Eine blöde Frage. Immerhin hatte Elisabeth soeben ihre Schwester beerdigt. Aber etwas anderes fiel Marlene nicht ein.

    Elisabeth zuckte mit den Schultern. »Ganz gut. Soweit. Und dir?«

    Und schon waren sie mittendrin im Phrasendschungel, dachte Marlene resigniert. »Och, ebenso, denke ich. Mein Schwiegersohn wollte mich eigentlich abholen. Ich …«

    »Aber warum denn? Kommst du nicht mit ins Café?«

    »Also. Ich dachte …«

    »Bitte.«

    Na großartig. Von ihrem Schwiegersohn noch immer keine Spur.

    Die Situation wurde zunehmend unangenehm, denn auch Herbert näherte sich. »Willst du etwa schon gehen?« fuhr er Marlene an. Sie wusste, dass sein schlechte Laune nicht ihr galt, sondern der Welt im Allgemeinen und darüber hinaus ganz speziell dem Redner, dem Sargtischler und der Tatsache, dass seine Frau ihn hier einfach so hatte sitzen lassen, ohne ihm zu erklären, was er jetzt tun sollte, ganz allein.

    Marlene konnte und wollte dem armen Mann jetzt keine unfreundliche Antwort geben. Er war der Situation eindeutig nicht gewachsen und fürchtete sich vermutlich ganz entsetzlich vor dem Moment, an dem ihn die anderen mit seiner Trauer allein ließen.

    Und so sagte Marlene in ebenjenem Moment zu, in welchem endlich ihr Schwiegersohn aufkreuzte. Sie hätte ihn treten können.

    Stattdessen schickte sie ihn wieder nach Hause und bemühte sich, sein Gemurre zu ignorieren. Und ebenso das Geschrei im Hintergrund. Wie es aussah, war der Redner nicht schnell genug gewesen und Herbert in die Finger geraten.

    Elisabeth beobachtete ihn misstrauisch. »Ich hab nie verstanden, wieso meine Schwester ihn geheiratet hat«, meinte sie schließlich.

    »Oh, für sie hat er alles gemacht«, erwiderte Marlene. »Wirklich.«

    »Ich weiß. Aber trotzdem … Nun ja.« Schulterzuckend wandte sie sich ab. »Kann ich dich … um einen Gefallen bitten?«

    »Natürlich«, sagte Marlene skeptisch.

    »Ich … ich habe jetzt hier niemanden mehr. Außer dem Verrückten da vielleicht. Aber das hier ist meine Heimat. Ich … nun, ich würde gerne … wir sind hier zusammen aufgewachsen. Also … könntest du dir vorstellen, mir zu schreiben? Ab und zu? Es muss nicht viel sein. Einfach ein paar Zeilen, was es hier Neues gibt. Oder Erinnerungen an früher. Und an Agathe. Ich … das kommt dir vermutlich seltsam vor. Aber ich brauche irgendeine Verbindung hierher. Glaube ich.«

    »Oh. Das … das ist kein Problem«, meinte Marlene erleichtert. Das konnte Elisabeth gerne haben, wenn es sie glücklich machte. Marlene hatte mit weitaus Schlimmerem gerechnet. Dass sie sich um Herbert kümmern soll, zum Beispiel.

    Im Übrigen bezweifelte sie, dass der Briefwechsel tatsächlich zustande kam. Auf Beerdigungen versprachen sich die Leute regelmäßig, in Kontakt zu bleiben oder sich künftig öfter zu treffen. Das lag in der Natur von Beerdigungen. Es schweißte die Hinterbliebenen enger zusammen. Doch eben nur für den Moment. War die erste Trauer verflogen und der Alltag holte einen wieder ein, verdrängte man derartige den Emotionen geschuldete Versprechungen in der Regel ebenso schnell, wie es dazu gekommen war.

    Agathes Sohn hatte inzwischen die Initiative ergriffen und den Trauerredner gerettet, indem er Herbert an die übrigen Trauergäste erinnerte und mit aller zur Verfügung stehenden Kraft vom Ort des Geschehens wegzog.

    »Junger Mann, das hier ist ein Friedhof. Da wird nicht gerannt«, rief Marlene dem mitgenommenen Redner hinterher.

    »Da kannst du rennen, wie du willst«, brüllte Herbert. »Ich finde dich!«

    »Vater!« sagte sein Sohn entsetzt.

    »Der war aber auch fürchterlich«, meinte Elisabeth.

    »Gibt´s jetzt Kaffee oder nicht?« schnauzte Herbert seinen Sohn an.

    Marlene dachte an Agathe und sah verstohlen nach oben.

    Na? Falls du da oben bist und zusiehst – amüsierst du dich immer noch?

    Vermutlich ja, dachte sie und seufzte. Was soll´s. Dann mal rein ins Vergnügen.

    * * *

    Mittlerweile waren beinahe vier Stunden vergangen. Der Kaffee hatte sich gezogen.

    Dunkle Wolken verfolgten Marlene auf ihrem Heimweg und sie beschleunigte. Das Wetter schien es heute auf sie abgesehen zu haben.

    Marlenes Schirm lag zu Hause auf der Garderobe, da er nicht in die winzige schwarze Handtasche gepasst hatte. Ganz großartig.

    Als die ersten Tropfen fielen, bog sie eben in die Grundstückseinfahrt ab. Nicht zum ersten Mal bedauerte sie, dass das Grundstück derart groß war. Zwischen ihr und dem schützenden Dach gab es noch viele Regentropfen.

    Ihr Blick glitt unwillkürlich über das lockende Dach. Verdammt. Der Dachdecker war noch immer nicht da gewesen.

    Sie sollte morgen noch mal hingehen und nachfragen. Oder am besten gleich. Sobald sie ihren Schirm geholt hatte.

    Als ihr Mann noch lebte, musste sie sich nie um etwas Derartiges kümmern. Wer oder was auch gebraucht wurde – Wilfried nahm die Dinge in aller Regel erfolgreich in die Hand. Er konnte jeden zu allem überreden. Spätestens wenn er die Sekretärinnen anlächelte oder den Herren Handwerkern tschechisches Exportbier in die Hand drückte.

    Marlene vermisste ihn. Nicht nur, wenn es reinregnete.

    Die Aufgabe des Organisierens und Handwerkerbeschaffens fiel nunmehr ihrem Schwiegersohn zu. Doch da ging Marlene lieber doch gleich selbst. Und das lag nicht nur daran, dass sie ihn nicht mochte. Nein. Irgendwie hatte das Prinzip des erfolgreichen Tauschhandels noch keinen Zugang zum wirtschaftlichen Denken ihres Schwiegersohns gefunden. Darüber hinaus gab es auch nichts, das er tauschen könnte. Nicht mal ein einnehmendes Wesen hatte er vorzuweisen. Da kam man nicht weit.

    Kilian verfügte über zwei linke Hände und eine organisatorische Nichtbegabung. Nicht dass ihn das abhalten würde. Im Gegenteil. Immerhin war er Ingenieur und Marlene rätselte noch immer, wie in aller Welt das passieren konnte. Beruflich plante und organisierte er für den VEB Werkzeugbau in leitender Position, und spätestens seitdem war Marlene fest davon überzeugt, dass das Ende der sozialistischen Planwirtschaft unmittelbar bevor stand.

    Nichtsdestotrotz errang der VEB Werkzeugbau unter dem Mitwirken von Kilian zahlreiche Auszeichnungen für hervorragende Arbeit und Planübererfüllung. Marlene kam aus dem Stauen nicht heraus.

    Wenn Kilian auf Arbeit mit derselben Effektivität plante und organisierte wie zu Hause, dann gute Nacht.

    Sicher. Der Junge bemühte sich ernsthaft. Aber man musste sich fragen, ob die Welt nicht besser dran wäre, wenn er das bleiben ließe.

    Der Regen nahm Fahrt auf und Marlene rannte das letzte Stück. Die Haustür wurde von innen aufgerissen und Marlene atmete auf. Wenigstens musste sie nicht noch nach ihrem Schlüssel suchen. Doch anstelle eines hilfreichen Enkels erschien ihr Schwiegersohn in der Tür.

    »Bist du nass geworden?«

    »Wonach sieht´s denn aus?« erwiderte Marlene gereizt. »Hast du mit dem Dachdecker geredet?«

    »Äh …«

    »Hast du oder hast du nicht?«

    »Ja. Vor zwei Wochen. Glaube ich.«

    »Ach. Und?«

    »Er wollte kommen, sobald er kann.«

    »Schön. Dir ist doch klar, dass er dir das auch noch erzählt, wenn das Haus ein Schwimmbad ist?«

    »Also …«

    »Hast du auf dem Boden nachgesehen?«

    »Wieso?« fragte Kilian töricht und Marlene biss die Zähne zusammen.

    »Mann. Ob der Eimer voll ist. Und ob es inzwischen auch noch woanders reinregnet. Dann reicht der Eimer nämlich nicht, weißt du?«

    »Ich … ich geh gleich.«

    »Ich glaub, ich geh lieber selbst.«

    »Na … gut. Wie – wie war´s?«

    »Wie es war? Das war eine Beerdigung!«

    »Ja. Schon klar.« Kilian folgte Marlene zur Treppe. »Ich meine … gab´s was zu Essen?«

    Marlene hielt abrupt inne. Aha. Daher wehte der Wind. Ihr Schwiegersohn war nicht nur unpraktisch (und, wie sich eben einmal mehr zeigte, taktlos) veranlagt, er war auch ein Fass ohne Boden. Wenngleich man ihm das nicht ansah. Doch wobei auch immer er seine Energie verbrannte – beim Denken jedenfalls nicht, dachte Marlene erbost. Dann bemerkte sie Kilians fragenden Blick, der auf dem Beutel ruhte, den sie in der Hand hielt.

    Ein Pawlowscher Reflex, konnte man meinen. Denn von der letzten Beerdigung hatte Marlene einen Berg Kuchen mitgebracht, nachdem die trauernde Witwe trotz der überschaubaren Anzahl an Trauergästen versucht hatte, ihren Kummer wegzubacken. Kilian hatte dieses unerwartete Kuchenangebot überaus zu schätzen gewusst und der Rest der Familie musste sehr schnell sein, wenn er auch noch etwas abbekommen wollte.

    »Das sind Bücher. Von Agathe«, erklärte sie gereizt.

    »Bücher? Von der Verstorbenen

    »Ganz genau.« Marlene biss die Zähne zusammen. Durchgefroren und nun auch noch durchnässt wäre ein zugiger, tropfender Dachboden normalerweise das Letzte, wohin es sie zog. Doch sie wäre an noch ganz andere Orte geflüchtet, um Kilian loszuwerden.

    »Gehst du jetzt wirklich auf den Boden?« fragte Kilian ungläubig.

    »Sagte ich das nicht?«

    »Ich – ich komm mit.«

    »Bloß nicht!« Huch. Das war deutlich.

    »Was?«

    »Ich kann das auch alleine.«

    »Aber …«

    »Meine Güte. Hast du nichts anderes zu tun?«

    »Ich wollte nur helfen.«

    Na großartig. Jetzt schmollte er auch noch. Marlene brummte etwas Unverständliches.

    Henriette, ihre Tochter, hätte beinahe jeden kriegen können. Zum Beispiel Herrn Senf, den Sohn des Klempnermeisters. Und wen nahm sie? Diesen aufdringlichen, nutzlosen Zwerg.

    Nun gut. Das Haus bot ihnen theoretisch genügend Platz, sich aus dem Weg zu gehen. Doch aus irgendeinem geheimnisvollen Grund schien Kilian es darauf anzulegen, Marlene zu belästigen. Wieso auch immer.

    Vermutlich wollte er sie beeindrucken. Und je mehr sie ihn ablehnte, desto intensiver bemühte er sich. Doch darauf konnte er lange warten. Marlene fragte sich besorgt, was sie wohl am Ende dieser Spirale erwarten mochte. Und sie wusste, dass sie es, sollte sie es zu sehr auf die Spitze treiben, mit ihrer Tochter zu tun bekam. Denn Kilian war nicht nur anstrengend und zu nichts gebrauchen, er petzte auch.

    Vermutlich war er schon auf dem Weg.

    * * *

    Marlenes Mann, Wilfried Schüppel, war still und vorausschauend und damit das komplette Gegenteil seiner Frau gewesen.

    Doch während Gegensätze bei anderen Paaren Spannungen und Unverständnis erzeugten, schweißten sie die Schüppels nur noch inniger zusammen. Beide wussten, was sie am jeweils anderen hatten. Er war die bodenständige, gewissenhafte Konstante in ihrem Leben und kümmerte sich um profane alltägliche Notwendigkeiten, und sie brachte Schwung und Abwechslung in seinen tristen, zu Gleichförmigkeit neigenden Lebensstil.

    Mussten Entscheidungen getroffen werden, gelangten sie beide meistens zu dem selben Ergebnis – Marlene spontan aus dem Bauch heraus und Wilfried durch gründliches Überlegen und Abwägen. So unterschiedlich ihre Charaktere auch zu sein schienen – ihre Lebensauffassungen und Ziele harmonierten miteinander. Nur in der Umsetzung wählten sie verschiedene Wege: Wilfried plante und organisierte, Marlene hingegen sorgte für Spontanität und den notwendigen Spaß.

    Da Wilfried als allgemeinmedizinischer Arzt zu den angeseheneren Persönlichkeiten der Stadt gehörte, bewegten sich die Schüppels auch in entsprechenden gesellschaftlichen Kreisen, welche im Sozialismus, in dem alle gleich waren, offiziell jedoch gar nicht existierten. Nicht dass die Schüppels darauf jemals Wert gelegt hätten.

    An Wilfrieds Seite hatte sich Marlene in jeder Hinsicht sicher gefühlt, ganz egal, wie hochnäsig ihr Umfeld sich auch geben mochte. Ohne ihn jedoch war sie unvollständig. Selbst jetzt noch.

    Vieles, das sie für selbstverständlich erachtet hatte, blieb nun an ihr hängen. Nicht dass sie sich nicht zutraute, das zu übernehmen, worum sich Wilfried früher kümmerte. Doch es lag ihr einfach nicht. Sie war kein Mensch, der gerne plante und vorausschauend handelte. Sie sah jedoch ein, dass gewisse Konzepte ihre Vorteile hatten und bemühte sich. Und sei es nur, um Wilfried nicht zu enttäuschen, falls er zusah. Von wo auch immer.

    Eines der Dinge, die Wilfried eingeführt und akribisch betrieben hatte, war sein Besorgungstagebuch.

    Sobald ihm dämmerte, dass das System nicht dazu geeignet war, eine umfassende Versorgung zu gewährleisten, hatte er es angelegt.

    Wilfried notierte alles. Wann welche Engpässe herrschten, auf welchem Wege er dem abhelfen konnte, wer womit bestechlich war und was wann und wie zufällig zu haben war.

    Das Tagebuch umfasste inzwischen fünf Bände, eng beschrieben mit Wilfrieds ordentlicher, geradliniger Schrift – alles andere als eine Selbstverständlichkeit bei einem Arzt – und seit den letzten zwei Jahren mit Marlenes flüchtigen Eintragungen.

    Auch heute gab es etwas, das sie notieren musste, und etwas widerwillig machte sie sich an die Arbeit.

    23.10.1988

    Mit einem Päckchen Jacobs Krönung, das ich im Sommer von Agathe bekommen hatte, konnte Frau Hübler vom Blumenladen davon überzeugt werden, für Agathes Trauerkranz Blumen besorgen. Das hätte Agathe bestimmt gefallen. War auch einer der wenigen Kränze mit echten Blumen und nicht diesen scheußlichen Plastikdingern.

    Marlene hielt inne.

    Obwohl Elisabeth wusste, dass ihre Schwester keinen Kaffee mochte, war jedem ihrer Pakete welcher beigefügt gewesen. Anscheinend ging das nicht anders. Irgendein ungeschriebenes Gesetz sah vor, dass Kaffee unverzichtbarer Bestandteil eines Westpakets war. Wieso auch immer. Doch Marlene wollte sich nicht beschweren – profitierte sie doch schlussendlich davon. Denn wenn sich der Kaffee bei Agathe gestapelt hatte und sie keine anderweitige Verwendung wusste, schenkte sie ihn Marlene, die nicht nur gerne Kaffee trank, sondern auch selbst sonst nichts aus dem Westen geschickt bekam.

    Marlene ihrerseits war ausgesprochen dankbar für diese Gaben, schreckte jedoch davor zurück, den Kaffee selbst zu verbrauchen. Zu hoch war der Tauschwert. Sicherlich würde sich dafür bald bessere Verwendung finden lassen, und dem war auch so, wie sich einmal mehr gezeigt hatte.

    Nur blöd, dass sie jetzt keinen mehr für den Dachdecker hatte. Sie war nun vollkommen auf ihre Überzeugungskraft angewiesen, und die hatte hier ganz offensichtlich nicht die gewünschte Wirkung. Sonst wäre die Sache mit dem Dach längst erledigt.

    Einmal mehr blätterte Marlene in Wilfrieds alten Eintragungen und wünschte sich ihren Mann zurück.

    Doch das war müßig. Der einzige Mann im Haus war jetzt Kilian, und das brachte sie kein Stück weiter. Aber wenigstens konnte sie jemandem die Schuld geben. Besser als nichts.

    Und wer weiß. Vielleicht geschah ja doch noch ein Wunder.

    * * *

    Peter Schüppel kaufte ein.

    Nicht dass ihm das Spaß machte. Doch er hatte seine Gründe.

    Der erste Grund bestand schlicht in der Tatsache, dass er in Berlin wohnte. Wenn er seine Verwandten im Erzgebirge besuchte, hegten die gewisse Erwartungen. Er war zwar nicht der Onkel aus dem Westen, aber schon ziemlich dicht dran.

    Normalerweise rief er vor Besuchen seine Mutter an, um herauszufinden, woran es im Süden der Republik gerade mangelte. Doch dieses Mal wusste die Familie nichts von seinem Kommen und er musste auf gut Glück einkaufen. Aber das sollte er hinbekommen. Schon vor einer Woche hatte er Schneeanzüge für die Kinder organisiert, was ihm sowohl die Dankbarkeit als auch das Wohlwollen seiner Schwester sichern sollte.

    Und damit war er auch schon beim zweiten Grund für seine Bemühungen, schöne Dinge zu erwerben, angelangt. Wenn man Nachrichten im Gepäck hatte, von denen man nicht wusste, wie sie aufgenommen wurden, war es von Vorteil, wenn das Gepäck auch noch etwas anderes enthielt. H-Milch in Tüten und Negerküsse zum Beispiel. Das sollte zumindest als Bestechung für die Kinder reichen, obwohl Peter für seine Nichte sicherheitshalber vom Sohn seines Nachbarn eine Kassette mit Duran Duran hatte überspielen lassen. Er wusste zwar nicht, ob Stephanie Duran Duran mochte, doch sie war vierzehn und ein Mädchen. Wenn das nicht passte, dann wusste er auch nicht.

    Peter Schüppels größte Sorge galt seiner Mutter. Marlene Schüppel war eine harte Nuss, was Geschenke anging. Und sie war nicht dumm. Wenn er ihr etwas größeres als Weinbrandbohnen überreichte, wüsste die auf der Stelle, dass etwas nicht stimmte. Obwohl das auch egal wäre. Früher oder später musste er es ihr sowieso sagen. Wieso es also nicht gleich hinter sich bringen?

    Peter fiel ihr Gespräch vom vergangenen Wochenende ein, als er sie, wie an jedem zweiten Sonntag, von seinem Nachbarn aus anrief.

    Ha. Na also. Da war sie. Die Idee, womit er seine Mutter nachsichtig stimmen konnte. Er musste auf seiner Fahrt nur einen Umweg zu Thomas einlegen. Der würde schon mitmachen. Denn Thomas war viel einfacher zu bestechen. Beispielsweise mit Bier. Richtigem Bier.

    Peter peilte den nächsten Getränkestützpunkt an.

    * * *

    »Oma, ich zieh bei dir ein.« Marlenes achtjähriger Enkel Sebastian schien fest entschlossen. Ein Wunder, das er nicht schon den Schlafanzug mitbrachte.

    »Ach. Wann denn?«

    »Weiß noch nicht genau. Nächstes Jahr.«

    »So so. Darf ich auch erfahren, warum?«

    »Weil wir dann keinen Platz mehr haben.«

    »Seit wann das denn?«

    Das Telefon läutete.

    So sehr Marlene die Tatsache, ein Telefon zu besitzen, auch zu schätzen wusste – mitunter war es ausgesprochen lästig. Das hing insbesondere damit zusammen, dass außer ihr nur Leute über ein eigenes Telefon verfügten, mit denen sie nicht reden wollte. All diejenigen hingegen, mit denen sie sich liebend gern unterhalten würde, waren für das Privileg eines eigenen Telefonanschlusses nicht vorgesehen. Da konnten sie Anträge stellen, wie sie wollten.

    Darüber hinaus hatte das Telefon den Nachteil, dass es sämtliche Telefonierwillige aus der Umgebung anzog. Wer immer meinte, ein Telefon zu brauchen, klingelte an Marlenes Tür. Gern auch nachts oder sonntags während des Mittagsschlafs.

    »Weil das Baby Platz braucht.«

    Marlene fiel der Hörer aus der Hand.

    »Das solltest du doch nicht verraten«, meinte Sebastians ältere Schwester Stephanie von der Tür aus. Marlene hatte sie gar nicht reinkommen hören.

    »Ach. Und wieso nicht?« fragte Marlene bestürzt.

    »Weil Mutti dir das selber sagen wollte.«

    Marlenes Kinn klappte nach unten. Wenn ihr Schwiegersohn auch sonst zu nichts taugte. Kinder zeugen konnte er ganz offensichtlich.

    »Willst du nicht rangehen?« fragte Stephanie.

    »Wie?«

    »Da. Das Telefon.«

    »Ach ja.« Marlene nahm sich zusammen. »Schüppel?« sagte sie gereizt in den Hörer.

    »Krüger«, antwortete eine erfreute Stimme und Marlene sackte zusammen.

    Na großartig. Der schon wieder.

    Ausgerechnet Edmund Krüger hatte natürlich ein Telefon. Und Marlene wusste auch, warum. Damit er sie in den Wahnsinn treiben konnte.

    »Wer ist es denn?« flüsterte Stephanie.

    »Der Krüger«, flüsterte Marlene zurück.

    »Ah.« Marlenes Enkelin grinste.

    Zu dumm, dass ausgerechnet Edmund Krüger, obschon er bereits das Rentenalter erreicht hatte, die beste Fleischerei im Ort betrieb. Das vereinfachte den Einkauf ganz erheblich, da Marlene Edmund immer mittwochs einen Zettel zukommen ließ, auf welchem sie notierte, welche Fleisch- und Wurstwaren sie in der kommenden Woche zu essen gedachte. An jedem Donnerstag erwartete sie in der Fleischerei ein gut verschlossenes, mit ihrem Namen versehenes Paket, welches genau das enthielt, was sie wünschte, und oft auch noch ein bisschen mehr. Ein unschätzbarer Vorteil, wenn man das alltägliche Angebot in den Fleischereien bedachte.

    Zu verdanken hatte Marlene dieses Privileg ihrem Mann, der mit Edmund Krüger schon seit der Schulzeit befreundet war. Seit Wilfried das Zeitliche gesegnet hatte, überreichte Edmund die Wurst- und Fleischpakete jedoch plötzlich persönlich und wartete dabei mit ungeahnten rhetorischen Künsten auf, die allesamt auf dasselbe hinausliefen – er wollte mit Marlene ausgehen.

    Gelegentlich fand sie in den Paketen herzförmig geschnittene Wurstscheiben und Schnitzel, die sie schnell versteckte, bevor die Familie sie entdeckte.

    Edmund Krüger war schon seit Jahren geschieden, recht angenehm und grundsätzlich auch keine schlechte Partie. Wirklich zu schade, dass sie ihn nicht wollte. Und schon gar nicht jetzt. Wilfried war erst seit zwei Jahren nicht mehr da und sie war noch nicht soweit. Doch selbst wenn – ihre Wahl fiele sicherlich nicht auf Edmund Krüger. Wurstpäckchen hin oder her.

    Bislang formulierte sie aus Rücksicht auf die unschätzbaren Vorteile bei der Fleisch- und Wurstbeschaffung ihre Ablehnungen äußerst zurückhaltend. Edmund nahm das geduldig hin, ließ sich nicht beirren und fragte weiter. Woche für Woche.

    Noch immer schob er die Körbe darauf, dass Marlene Zeit brauchte. Doch irgendwann würde es selbst ihm zu bunt werden. Und das würde bedeuten, dass Marlene, wenn sie sich nicht allzu sehr einschränken wollte, an jedem Donnerstagnachmittag zusammen mit einem Haufen anderer Leute eine geschlagene Stunde lang beim Fleischer anstehen und sehen musste, was es gerade gab. Oder eben nicht.

    Der Gedanke daran motivierte Marlene zu Freundlichkeit. Und – wie praktisch – heute musste sie nicht mal schwindeln.

    »Wochenende kann ich leider nicht«, sagte sie. »Da sind meine Enkelkinder bei mir.« Der bedauernde Tonfall war ebenso überzeugend wie geheuchelt. Und es kam noch besser. »Das wird jetzt, fürchte ich, häufiger passieren«, verkündete sie und bemühte sich, nicht allzu erfreut zu klingen. »Meine Tochter beginnt gerade mit dem Hausbau und hat an den Wochenenden auf der Baustelle zu tun, weißt du?«

    Ja! Sie lauschte in den Hörer.

    »Wie? Ja. Die große. Charlotte.«

    »Jetzt geh doch schon mit ihm aus«, sagte Marlenes andere Tochter Henriette, die eben hereingekommen war.

    Wie schön. Das Publikum wuchs und erteilte Ratschläge.

    Marlene verabschiedete sich hastig und legte auf. »Das lass mal meine Sorge sein«, fauchte sie.

    »Schon. Aber … was spricht denn dagegen? Vielleicht macht es ja Spaß.«

    »Für dein wöchentliches Wurstpaket würdest du deine Mutter wohl an jeden verkaufen, wie?« Marlene hatte es satt, dieses Thema zu diskutieren. Sie wollte nicht. Basta. Und je mehr die anderen Leute ihr deshalb auf die Nerven gingen, desto weniger wollte sie.

    Natürlich hatte sie sich auch schon selbst gefragt, woher diese Abneigung kam. Und sie hatte nicht lange suchen müssen. Es lag auf der Hand.

    Edmund Krüger war ein Romantiker. Ein romantischer

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