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Unglaublich: Merkwürdige Kurzgeschichten mit Charakter und Humor
Unglaublich: Merkwürdige Kurzgeschichten mit Charakter und Humor
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eBook319 Seiten4 Stunden

Unglaublich: Merkwürdige Kurzgeschichten mit Charakter und Humor

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Über dieses E-Book

Nachts ungeschickt über den Reisekoffer mitten im Hotelzimmer gestolpert, dann am Morgen zum Arzt gehumpelt? Wird schon nichts Schlimmes sein? Von wegen: Der Traumurlaub ist erst einmal im Eimer. Im Krankenhaus unversehens in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung gelandet? Wegen eines dummen Treppensturzes? Priester Vincent ist sehr beunruhigt. Anscheinend treibt sich nachts in der Krypta von St. Malo ein Gespenst herum. Der ängstliche Wirt Gaston hilft dem Priester beim Aufspüren der unheimlichen Erscheinung. Und an jeder Ecke warten Bauernfänger auf uns. Die wollen nur unser Bestes. Davon kann nicht nur der Versicherungs-Frischling, sondern auch der leidenschaftliche Kunstsammler bald ein Liedchen singen. Streit um Erbschaft, Hoffnung auf Karriere, Sehnsucht nach Liebe: Das Leben ist bunt und voller netter und böser Überraschungen. Ohne Kompass oder Navi müssen wir uns im Labyrinth des eigenen Daseins zurechtfinden – mit all seinen Verstrickungen, mitunter in einem scheinbar undurchdringlichen Gestrüpp voller Widersprüche.

Mit merkwürdigen Kurzgeschichten schickt Wolfgang von Alt-Stutterheim den Leser kreuz und quer durch den Alltag und betrachtet einige historische Ereignisse aus seinem eigenen Blickwinkel. Während seiner langjährigen Tätigkeit als Psychotherapeut hat der Autor die Mannigfaltigkeit des menschlichen Lebens aus allernächster Nähe beobachtet und in diesem launigen Büchlein augenzwinkernd verarbeitet.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. Nov. 2019
ISBN9783750471993
Unglaublich: Merkwürdige Kurzgeschichten mit Charakter und Humor

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    Buchvorschau

    Unglaublich - Wolfgang V.Alt-Stutterheim

    Wolfgang v. Alt-Stutterheim verbrachte seine Kindheit und Jugend in Leipzig. Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 flüchtete er aus dem sozialistischen System. Im Westen heuerte er zunächst als Seemann an. Anschließend verdiente er sich als Hafenarbeiter in Hamburg seinen Lebensunterhalt. Schließlich fand er seinen Weg im Studium der Psychologie: Nach dem Diplomabschluss arbeitete er in verschiedenen Institutionen, unter anderem in einer Klinik für drogenabhängige Jugendliche. Seit 1990 ist er als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in München tätig.

    Inhalt

    Das Wunder von Lourdes

    Folie à deux – Wahn zu zweit

    Im Sturm

    Rückblende

    Verirrt

    Versunken, ertrunken

    Hoppla

    Die Umsiedlung

    Die Räumung

    Streit in Hopfenhausen

    Verlassenes Land

    Tristesse

    Ein Psychiater berichtet

    Bloomsday

    Der Kunstsammler

    Eine merkwürdige Geschichte

    Manhattan

    Alfons

    Das Vermächtnis

    Ein Date

    Ein Streitgespräch

    Geschobene und Gezogene

    In einem Abteil

    Janus

    Meine Zeit

    Die Meuterer auf der Bounty

    Der Akkordeonspieler

    Die Jubiläumsfeier

    Branca und Edgar

    Pecunia non olet

    Rasputin

    Verfolgungsjagd

    Lesko und Kalinda

    Der Kinderkreuzzug

    Das Gespenst

    Der Medicus

    Sascha

    Der Geizkragen

    Das große Fest

    Der Ernährungsberater

    Der Verbraucher

    Der Verkäufer

    Auf der Suche

    Hilfe

    Der Flaschensammler

    Alfred, der Müllsortierer

    Der Buchhalter

    Adrian

    Die Zirkusartisten

    Zwei Fotografen

    Zwei Väter

    Die Hochzeit

    Die Hopfenkönigin

    Adele

    Gebet

    Fieber

    Die Kleptomanin

    Eine Kreuzfahrt

    Erinnerungen

    Auf der Flucht

    Göttertränen

    Jolanda

    Trennungsschmerz

    Vermisst

    Chronos

    Der Zwergenaufstand

    Rumpelstilzchen

    Hell und Dunkel

    Die Krönung

    Malta

    Ein Albtraum

    Herrenlos

    Der Brandstifter

    Befürchtungen

    Der Lottospieler

    Der Weltuntergang

    Die Flut

    Die Jahresversammlung

    Kaleidoskop

    Danke

    Das Wunder von Lourdes

    De Gaulle und Adenauer haben Freundschaft geschlossen. Jetzt können die deutschen Soldaten mit den Franzosen zusammen in Lourdes feiern.

    Sechs Tage wurden den Soldaten für die Wallfahrt nach Lourdes geschenkt. Der Zug war rappelvoll. Sechs freie Tage! Auf dem weiten Weg in die Pyrenäen waren Katholiken, Protestanten, Adventisten, Baptisten, Wiedertäufer, Quäker und selbst Atheisten unterwegs. Die Offiziere, Feldwebel und einfachen Rekruten drängelten sich in christlicher Manier in die Abteile. Der Militärpfarrer saß vorne in der ersten Klasse. Der Sonderzug fuhr ohne Halt zum heiligen Ort. Mit Bier und Hochprozentigem hatten sich die meisten reichlich eingedeckt. Die Fahrt war lang, die Vorfreude auf das Kirchenfest sehr groß. Alkohol floss schon jetzt in Strömen. Selbst die Abstinenzler nahmen manchen Schluck, um sich wegen des Lärms der Kameraden in den Schlaf zu schunkeln. Erst nach Mitternacht wurde die aufgedrehte Truppe langsam müde. Die Luft war stickig. Bierdunst und alle möglichen Körpergerüche durchzogen die Abteile. Die aufgeklappten Sitze boten nur wenig Platz. Der Länge nach oder seitlich nebeneinander lagen die Soldaten erschöpft in ihren Abteilen.

    Nur knapp war Gebirgsjäger Seidel dem Arrest entkommen. Der Pfarrer hatte ihm bei der Beichte ein Angebot gemacht: »Eine Pilgerfahrt in Demut könnte dich vor weiterer Bestrafung schützen.« Guten Willens wollte der Rekrut in Lourdes Vergebung erfahren.

    Während des Appells war er schon mehrfach aufgefallen: Beim Kommando »Augen rechts« hatte er wiederholt nach links geschaut. Angetreten im Karree, hatte Seidel auf der falschen Seite gestanden. Seine Hose war nicht gebügelt, die Mütze saß schief oder sie war zu weit nach vorne gekippt. Beim Gebirgsmarsch war er immer schweißgebadet und meistens der Letzte der ganzen Truppe. Die Ermahnungen seines Kommandeurs hatte er dennoch nicht kommentarlos hingenommen. Leutnant Hauser hatte ihn bald im Visier: Urlaubssperre und nächtlicher Sonderwachdienst boten ihm einen Vorgeschmack auf künftige Zeiten.

    Wie der Zufall es wollte, lag Rekrut Seidel auf der Pilgerfahrt neben seinem Vorgesetzten Hauser im Abteil. Die wohlige Nähe eines männlichen Körpers versetzte den Leutnant in Erregung; der Offizier machte sich wortlos an seinem Nachbarn zu schaffen. Seidel war schon in Tiefschlaf gefallen. Er wälzte sich knurrend zur Seite. Doch Hauser ließ nicht locker. Erst jetzt merkte der schlaftrunkene Rekrut, dass etwas nicht stimmte. Entsetzt starrte er seinem Vorgesetzten ins Gesicht. Gleich darauf rammte er ihm kräftig seinen Ellenbogen in die Rippen. Auch der Leutnant erstarrte, als er Seidel erkannte. Ärgerlich schnaufend verließ Hauser das Abteil und ging nach vorne in die erste Klasse. Die Hose hing ihm noch herunter.

    Im Alter von 14 Jahren hatte Bernadette Soubirous eine weiß gewandete Erscheinung über der Grotte in Lourdes gesehen. Wieder und wieder besuchte sie die Jungfrau mit den Rosenkränzen. »Ich bin die unbefleckte Empfängnis«, hatte sie dem jungen Mädchen zugeflüstert. Ehrfurchtsvoll erstarrte Bernadette vor ihrem freundlich-milden Blick.

    Eine mächtige Basilika ist später über der Grotte errichtet worden. Die Jungfrau Maria steht nun segensreich auf einem Sims über der Höhle in Lourdes. Tausende Sünder und Behinderte pilgern täglich zum heiligen Schrein. Gnade und Erlösung erfahren hier selbst ungläubige Touristen. Weggeworfene Krücken stehen gleich neben der heiligen Quelle.

    Schon von Weitem schallte den Soldaten Marschmusik entgegen. Die Zelte waren außerhalb des heiligen Bezirkes errichtet worden. Rekruten aus aller Herren Länder strömten zur Messe. Weiß gekleidete Priester sangen wieder und wieder ihre frommen Lieder. Aus allen Kehlen erklang im Echo das freudig-fromme Halleluja.

    Mit dem Sakrament der Kommunion erreichte die Zeremonie ihren Höhepunkt. Militärkapellen strömten durch das Städtchen. Ein feierlicher Rahmen, Gottes Segen überall. Die Sünden waren ihnen vergeben. Sogar zukünftige Sünden standen unter der Gnade der ewig verzeihenden Mutter.

    Am Nachmittag neigte sich die Zeremonie dem Ende zu. Ergriffen und erschöpft verweilten die Soldaten auf dem großen Platz. Nur vereinzelt drangen noch Fanfarenklänge durch die Gassen von Lourdes. Die Priester verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Doch das große Fest sollte erst beginnen. Die sommerliche Hitze und die andauernden Gesänge der Jubelchoräle hatten so manchen Teilnehmer fast verdursten lassen. Außer sich vor Freude eilten sie zu den nahe gelegenen Kneipen. Auf dem Weg dorthin besiegelten französische Marinesoldaten, Fremdenlegionäre und deutsche Pioniere ihre Brüderschaft. Sie tauschten immer wieder Abzeichen, Mützen oder Schulterklappen als Zeichen ihrer Freundschaft aus. Rekrut Seidel trug jetzt eine Matrosenmütze mit langen blauen Bändern. Auch Leutnant Hauser tauchte in die jubelnde Menge ein. Mit aufgeknöpfter Jacke sang er fröhliche Lieder. Bier, Wein und Schnaps flossen in rauen Mengen durch die staubigen Kehlen der Soldaten. Der Segen von Lourdes beseelte alle Soldaten.

    Erschöpft kehrten sie in ihre Kasernen zurück.

    Niemand weiß genau, warum das Wunder geschah: Rekrut Seidel wurde zum Gefreiten befördert.

    Folie à deux – Wahn zu zweit

    »Wir leben schon seit ewigen Zeiten in dieser Mietskaserne«, sagt Edgar zu seiner Frau. »Ja«, erwidert Hertha, »es sind jetzt 17 Jahre. Wir können nicht raus, die Miete ist billig. Doch es wird immer schlimmer, seit wir in Rente sind. Die meisten, die hier wohnten, sind verstorben oder schon längst weggezogen. Kein Aufzug, nur ein kleiner Balkon zum Hinterhof. Das Schleppen der Flaschen in den vierten Stock ist eine Schinderei. Am besten kaufen wir einen Wassersprudler. Du bist auch nicht mehr der Jüngste. Übrigens, seit dem Tod ihres Mannes poltert Frau Maier immer wieder in ihrer Wohnung herum. Was treibt die nur? Schiebt sie jeden Tag ihre Möbel von einer Seite auf die andere? Neuerdings begrüßt sie mich besonders freundlich. Was führt sie nur im Schilde? Die war doch früher eher verbiestert und kriegte kaum die Zähne auseinander. Ihre Tochter lässt sich auch nur noch selten blicken. Den Rollator an der Haustür hat sie absichtlich schräg in den Weg gestellt. Kürzlich hat sie auf ihrem Balkon Tomaten angepflanzt und mich gefragt, ob ich ihre Paradeiser schon bewundert hätte. ›Die kommen gut‹, meinte sie. ›Die winken mir mit ihren roten Bäckchen freundlich zu.‘«

    »Weißt du, was ich unverschämt finde?«, knurrt Edgar, »dass die Tomaten zu unserem Balkon herüberhängen!«

    »Ich habe eine Idee«, rief Hertha. »Das ist unser Terrain! Was darüberhängt, gehört uns.«

    »Vielleicht ist es eine List von ihr«, überlegt Edgar. »Kürzlich geisterte sie nachts auf dem Balkon herum. Dann hat sie was in den Kübel gestreut, das so komisch gerochen hat. Das war kein Düngemittel. Ich glaube, das war Gift. Deswegen hängen die Tomaten bei uns auch so zum Greifen nahe auf dem Balkon. Das Miststück will uns vergiften!«

    »Edgar, schwafelst du wieder oder hast du es wirklich mit eigenen Augen gesehen?«

    »Ich schwöre es, sie hat sich heimlich am Kübel mit den Tomaten zu schaffen gemacht.«

    »Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen«, rief Hertha. »Ich durchschaue ihren Plan: Wenn sie uns vergiftet hat, soll ihre Tochter in unsere Wohnung einziehen. Ein sauberes Früchtchen, unsere liebe Frau Maier. Ha, ha, Paradeiser für das Paradies! Eva lässt grüßen. Ich hab doch schon immer gewusst, dass sie ein falsches Luder ist. Die wird sich wundern, wenn sie uns putzmunter auf der Treppe trifft.«

    »Willst du sie nicht anzeigen?«, fragt Edgar. »Das ist doch ein heimtückischer Mordversuch.« »Nein, nein, viel größer ist die Schadenfreude, wenn die Schlange vergeblich auf ihre Opfer warten muss. Am besten, sie verhungert und folgt bald ihrem Mann. Dann könnte die Tochter ihre Wohnung übernehmen«, ruft Hertha voller Häme.

    »Was gibt es heute Mittag? Ich krieg langsam Hunger«, erkundigt sich Edgar.

    »Ich mache Ratatouille, heute mal mit ungeschälten Tomaten. Edgar, bitte: Kauf Gemüse und saftige Tomaten dazu.«

    »Kannst du alles auf den Zettel schreiben?«, bittet sie Edgar. »Ich bin in letzter Zeit so vergesslich geworden.«

    Kaum ist er unterwegs, nimmt sie die Paradeiser vom Balkon, aus Nachbars Garten, wie man so schön sagt. Was die kann, kann ich auch, denkt sich Hertha. Endlich werde ich den Trottel los! Flugs landen Frau Maiers Tomaten im Topf.

    Edgar schaufelt vergnügt das Mittagsmahl in sich hinein. Hertha hat heute gar keinen Appetit.

    Edgar macht danach ein Nickerchen. Hertha lauert.

    Nach dem Mittagsschläfchen streckt sich Edgar gemütlich nach allen Seiten. »Das Ratatouille hat heute wunderbar geschmeckt. Wir hatten riesiges Glück, dass wir nicht die vergifteten Tomaten vom Balkon genommen haben. Soll sie doch Frau Maier essen!«

    Hertha starrt ihn entgeistert an.

    Im Sturm

    Es war der letzte Tag unserer Urlaubsreise in Spitzbergen. Es sollte nur ein kurzer Ausflug sein. Der Tag brach an, der Zweimaster zog friedlich über die ruhige See. Das Meer begrüßte uns mit sanft plätschernden Wellen. Das Segelboot nahm bei einer leichten Brise langsam Fahrt auf. Nur ein paar Seemeilen entfernt liegt Nordaustland, eine unbewohnte Insel.

    In früheren Zeiten hatten dort Walfänger und Robbenjäger gehaust. Auch die Nazis hatten sich während des Krieges in Spitzbergen und auf der Insel eingerichtet. Eine kleine Gruppe deutscher Soldaten hatte Wetterdaten an die deutsche Wehrmacht geschickt. Das Unternehmen »Haudegen« unter Führung des Ordonanzoffiziers Wilhelm Degen ist in den Geschichtsbüchern nur eine Randnotiz. Der verlorene Haufen war erst lange nach Kriegsende in Gefangenschaft geraten. Man hatte sie in den Kriegswirren einfach vergessen! Berlin war Monate zuvor mit Pauken und Trompeten gefallen. Die norwegischen Soldaten staunten nicht schlecht über das Arsenal der Besatzer: Sie waren bis an die Zähne bewaffnet.

    Zu der halb verfallenen Wetterstation der Wehrmacht wollten wir nun einen Abstecher machen. Allmählich tauchte Nordaustland am Horizont auf. Mit unseren Feldstechern bewunderten wir das Naturparadies aus der Ferne. Eisbären, Polarfüchse und Rentiere strichen unbekümmert durch den schneebedeckten Archipel. Die Walrosse gönnten sich eine Ruhepause am Strand. Sie genossen die warme Mittagssonne am Ufer. Einige starrten unentwegt auf das Meer. Sie hielten offenbar nach gefährlichen Grönlandhaien Ausschau. Zwei Polarfüchse liefen in respektvoller Entfernung an der Herde vorbei. Sie lauerten auf ein wehrloses Opfer. Die Eisbären waren in der endlosen Schneelandschaft kaum auszumachen.

    Ich war froh, für ein paar Tage dem Großstadtgetriebe entronnen zu sein: kein Palaver, keine sinnlosen Fragen, keine unnützen Grübeleien. In der Stille der Natur fielen alle negativen Gedanken von mir ab. Die Norweger sind wortkarge Menschen. Nur die knappen Befehle des Kapitäns durchdrangen die majestätische Ruhe der Fjorde. Die Mannschaft war mit dem Segelboot und der Navigation vollauf beschäftigt. Sie wichen den scheinbar harmlosen Eisbergen in sicherer Entfernung aus. Ab und zu krachten riesige Eisbrocken von der Gletscherwand herunter. »Die Gletscher kalben«, erklärte uns der Reiseführer. Die herabstürzenden Schnee- und Eismassen brachten unser kleines Segelboot ordentlich zum Schaukeln. Unser winziges Boot schlich wie eine Ameise an den Eisbergen vorbei.

    Bald wurden wir auf Schlauchboote verfrachtet und erreichten nach einer kurzen Schaukelfahrt das längst vergessene Eiland.

    Die heftigen Schneestürme hatten von der alten Wehrmachtsstation nicht mehr viel übrig gelassen. Der Wind pfiff durch die Löcher und Ritzen der morschen Bretter. Der Reiseleiter schaute besorgt gen Himmel. »Es wird Zeit für die Rückfahrt«, rief er uns zu. »Der Kapitän wartet schon auf uns.«

    Kaum hatten wir unser Schiff erreicht, ballten sich schwarze Wolken am Horizont zusammen. Bis zum sicheren Hafen hatten wir noch einige Seemeilen vor uns. Ein heftiger Sturm zog auf.

    Die kleine Insel lag schon weit hinter uns. Es gab kein Zurück mehr. Der Steuermann umklammerte das Ruder – vergeblich: Das Boot war den mannshohen Wellen hilflos ausgeliefert. Es tanzte wie eine Walnussschale auf dem Meer. Die Matrosen konnten die Segel nicht mehr raffen. Der Sturm peitschte gnadenlos durch die Takelage. Nach kurzer Zeit hingen die Segel nur noch in Fetzen vom Mast. Steuerlos trieb das Schiff durch die brodelnde See. Nebelbänke zogen auf. Die Besatzung verlor jede Orientierung.

    Wir erstarrten vor Kälte und flüchteten uns unter Deck. Der Zweimaster wurde nach oben gerissen und stürzte dann wie ein abgeschossener Pfeil laut scheppernd in den Abgrund hinunter. Wasser schwappte ins Boot. Mit eiligst herbeigeschafften Eimern und Töpfen schöpften die Männer das Wasser wieder heraus. Mir wurde speiübel. Im Rhythmus der wild gewordenen Schiffschaukel rutschten erbrochene Essensreste, Besteck, Teller und Küchengeräte von einer Seite zur anderen. Das wüste Gepolter vermischte sich mit dem Gebrüll der tosenden See. Die majestätische Stille war einem Höllenlärm gewichen. Jeder versuchte, sich irgendwo und irgendwie festzukrallen. Einige hatten nicht mehr die Kraft, Halt im Chaos zu finden. Sie rutschten im Bauch des Schiffes wie Fallobst hin und her.

    Wie lange wir auf dem geifernden Meer umhertrieben, kann ich nicht sagen.

    Dem Tode näher als dem Leben, hörte ich ein hartes Knirschen unterm Kiel. Gleich einem Geisterschiff waren wir in einer unbekannten Gegend gelandet. Über Baumstümpfe und Walknochen hinweg stolperten wir an dem Küstenstreifen entlang. Schließlich krochen wir einen steilen Hang hinauf. Weiter oben fanden wir eine verlassene Behausung. Ein paar verstaubte Gerätschaften und altes Gerümpel lagen verstreut herum. Walfänger und Pelztierjäger hatten sich hier wohl vor Jahrzehnten eine provisorische Bleibe eingerichtet. Rasch zerrissen wir ein paar Hemden, um den Verletzten Notverbände anzulegen. Eisiger Wind pfiff durch das morsche Gebälk. Stinkende Bärenfelle schützten uns vor der Kälte. Zusammengeschusterte Bohlen dienten uns als nächtliches Lager. Ich fiel in einen traumlosen Schlaf.

    Am frühen Morgen fanden wir nichts Brauchbares in der Hütte. Eine verrostete Petroleumlampe hing wie ein vergessenes Museumsstück an der Tür.

    Wir mussten zu unserem Wrack zurück. Am Horizont zog ein Walfangschiff wie ein Schlachthaus an uns vorbei. Unsere weiße Flagge sah die Besatzung nicht. Mit notdürftig geflickten Segeln wagten wir uns wieder aufs Meer.

    Doch der Sturm hatte nur eine kurze Atempause gemacht. Das Unwetter erwischte uns erneut auf hoher See. Wir verkrochen uns wieder unter Deck. Die lautstarken Befehle des Kapitäns drangen zu uns ins Unterdeck herunter.

    Mit einem kräftigen Rums unter dem Kiel stoppte unsere Irrfahrt in der Nähe unseres Hafens. Die Strömung hatte uns zurück aufs Festland getrieben. Andere Segelschiffe lagen längst vertäut im Hafenbecken. Niemand schien uns zu bemerken. Wir waren froh, mit dem nackten Leben davongekommen zu sein. Einige glaubten, dass ihre Stoßgebete geholfen hätten. Ein Schutzengel hätte uns vor einem schlimmeren Ende bewahrt. Ich weiß es nicht. Auch der Kapitän sagte kein Wort. Ich umarmte ihn.

    Rückblende

    Das Mittagessen steht auf dem Tisch. Gleich muss er aus der Schule kommen. Das Telefon klingelt: »Ihr Sohn liegt im Krankenhaus. Er war in einen Unfall verwickelt und hat sich ein Bein gebrochen.«

    Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf: Es muss auf dem Nachhauseweg passiert sein. Der Schulweghelfer hatte sich vor ein paar Tagen krankgemeldet. Diese verdammte Kreuzung! Vielleicht ist ein Ball auf die Straße gerollt und er ist hinterhergerannt.

    Er war immer ein sehr ruhiges Bübchen, doch so still auch wieder nicht. Wenn er vor lauter Wut geschrien hat, habe ich ihn zum Trost an meine Brust gelegt. Das hat nicht immer geholfen. Manchmal hatte er gar keinen Hunger gehabt, sondern sich nur in die Windeln gemacht. Auch eine Mutter muss dazulernen! Aber wer versteht schon eine Mutter? Er ist in meinem Bauch gewesen, er gehört zu mir.

    In der Kita plagte ihn Heimweh. Manchmal weinte er leise vor sich hin. Ich nahm ihn wieder raus. Bis zum vierten Lebensjahr stillte ich ihn. Er konnte schon fast stehend meine Brust erreichen. Die Nachbarn hatten sich darüber lustig gemacht, wenn ich ihm auf dem Spielplatz die Brust gab. Aber meine Muttermilch bewahrte ihn vor Krankheiten!

    In der Vorschule nahm er an einem Förderprogramm teil. Ein Lehrer hatte mich vor der Gluckenfalle gewarnt. Eine Unverschämtheit!

    Ich tue nur mein Bestes. Er ist mein Kind, mein eigen Fleisch und Blut. In der Schule ist er sehr fleißig. Seine Mitschüler mögen ihn nicht. Er sei ein Streber. Ein Einserschüler hat es eben nicht leicht. Er kann jetzt schon wunderbar lesen, schreiben und rechnen. Na gut, jeden Nachmittag machen wir zusammen die Hausaufgaben. Womöglich ist er hochbegabt? Etwas Gescheites soll mal aus ihm werden. Ich bin stolz auf ihn. Ich habe ihm jeden Stein aus dem Weg geräumt. Wie oft habe ich mich bei den Lehrern beschwert, wenn er ungerecht behandelt wurde. Ich bin eine Kämpferin. Ich stand immer auf der Matte, um ihn zu verteidigen.

    Das Leben ist voller Widrigkeiten. Das habe ich schon in meiner eigenen Kindheit erlebt. Meine Mutter ist früh gestorben. Nach ihrem Tod bin ich bei meiner Tante aufgewachsen. Ein Bademeister hat mich im zwölften Lebensjahr angegrabscht. Sittenstrolche lauern überall auf der Welt. Wenn ich mit meinem Sohn ins Schwimmbad gehe, wird der Bademeister erst mal gründlich gescannt.

    Er wollte kein Muttersöhnchen sein. Die anderen Kinder haben ihn schon ausgelacht, wenn ich mein Herzchen von der Schule abgeholt habe. Mit einem Mal, von heute auf morgen, wollte er alleine in die Schule gehen. Ich habe einen großen Fehler gemacht. Und jetzt ist es passiert. Ich hätte es wissen müssen!

    Voller Sorge laufe ich zum Krankenhaus. Wenn er stirbt, dann sterbe ich auch. Ach Unsinn, er hat sich doch nur das Bein gebrochen. Ich biege um die letzte Kurve. Plötzlich gibt es einen lauten Schlag. Den Schulbus habe ich völlig übersehen.

    Wie ein Golfball fliege ich in hohem Bogen durch die Luft und lande in einem schwarzen Loch. Richtungslos flattern Gedanken und Erinnerungen durch meinen Kopf. Ich werde in einen dunklen Gang geschoben. In der Ferne wartet ein Licht auf mich. Es begrüßt mich freundlich. Mein bisheriges Leben zieht wie in einem Bilderbuch an mir vorbei.

    Gleichzeitig schwebe ich über meinem Körper. Ich sehe mich auf dem OP-Tisch liegen. Die Ärzte versuchen fieberhaft, die Blutungen zu stoppen. Krankenschwestern schwirren um mich herum. Ich werde künstlich beatmet. »Ich weiß nicht, ob die durchkommt«, murmelt ein Arzt. Schweiß steht auf seiner Stirn.

    Bin ich tot? Helles Licht hüllt mich ein. Dann höre ich eine Stimme in meinem Herzen: »Du hast in deinem Leben noch einiges zu erledigen. Dein Sohn braucht dich.« Mit einem heftigen Schlag werde ich in die Gegenwart zurückkatapultiert. Der Defibrillator berührt noch meine Brust.

    »Wie geht es meinem Sohn?«, frage ich besorgt.

    »Den Umständen entsprechend gut«, antwortet der Arzt. »Er hat schon nach Ihnen gefragt.«

    Verirrt

    »Bist du trittfest?«, fragte Felix Anna. »Mit meinen neuen Bergstiefeln schon«, antwortete sie. »Sieh mal hier, auf der Karte. Die Tour auf die Kandel können wir locker schaffen. Der Berg ist gut 1200 Meter hoch. Die Landschaft und der Ausblick ins Tal sind atemberaubend. Von unserer Pension in St. Peter brauchen wir gut drei Stunden rauf. Der Weg zurück ist kürzer.«

    »Super«, rief Anna begeistert.

    »Im Naturpark gibt es seltene Tiere und Pflanzen. Wenn wir Glück haben, überraschen wir eine scheue Wildkatze oder es läuft uns ein prächtiger Rothirsch über den Weg. Einen Achtender kenne ich nur aus dem Zoo. Jedenfalls brauchen wir feste Schuhe. Die Kreuzottern sind zwar scheu, aber man weiß ja nie, ob eine aus dem Hinterhalt zuschnappt. Am besten starten wir gleich in der Früh, die Tage sind im Herbst nicht allzu lang.«

    Am nächsten Morgen zogen sie los. «Auf der Karte sieht alles leichter aus«, schnaufte Anna während des Aufstiegs. »Der Weg ist ziemlich schmal, gleich daneben geht es steil herunter. Zum Glück gibt es Halteseile und ab und zu ein festes Geländer.«

    »Jetzt machen wir erst mal ein Päuschen«, beruhigte sie Felix. »Wer weiß, wann wir den Berggasthof erreichen!«

    Rote Moos- und Vogelbeeren säumten ihren Weg. Sonnengelbe Arnika winkte ihnen freundlich zu. Vorbei an Hunderte Jahre alten Rotbuchen und Eichen erreichten sie endlich den Gasthof. Sie genossen die herrliche Aussicht auf dem Gipfel. »Viel Zeit bleibt uns nicht«, gab Anna zu bedenken. »Wir sollten bald wieder aufbrechen.«

    Auf dem

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