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Lioba wechselt die Saite
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eBook261 Seiten3 Stunden

Lioba wechselt die Saite

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Über dieses E-Book

Völlig nackt steht Lioba auf einer Bank vor dem Hauptbahnhof und ruft in die Menge: "Wer will mich?" Alle glotzen sie an, doch keiner schreit "Hier!"
Schweißgebadet wacht sie auf, schüttelt sich, um dieses entsetzlich peinliche Gefühl loszuwerden, und beschließt, sich umgehend von den Partnerbörsen im Internet wieder abzumelden.
Nun hat sie sich damit abgefunden, dass es zurzeit keine unverhoffte Hauptrolle für sie gibt. Nein, in ihrem Inneren ist nichts, das morgen flüstert, morgen ist der Tag aller Tage, morgen passiert etwas Ungeahntes, etwas Wundervolles.
Da überredet sie ihre beste Freundin, mit auf ein mittelalterliches Fest zu gehen. Lioba fühlt sich zunächst völlig fehl am Platz und übe sich im Fremdschämen. Doch als die "Galgenvögel" mit ihren frivolen Liedern vergangener Zeiten loslegen, lässt sie sich mitreißen. Vor allem der Hexengeiger hat es ihr angetan, denn der zieht alle Register seines Könnens.
Zu Hause kramt Lioba ihre Geige hervor, die sie jahrelang der Familie geopfert hat, und spielt die eingängigen Melodien nach. Als Geschiedene hat sie jetzt mehr Zeit, als ihr lieb ist, zumal die beiden Töchter studieren und aus dem Haus sind. In ihren Beruf als Grundschullehrerin will sie auf keinen Fall zurück, denn sie hat sich geschworen, nie mehr zusammen mit grölenden Gören Rabimmel-Rabammel-Rabumm zu singen, zu keinem Sankt Martin der Welt.
Nur kurze Zeit später geben die "Galgenvögel" wieder ein Konzert. Die Burgmauern vibrieren, Besucher und Liverollenspieler sind dicht gedrängt, die Menge ist kaum noch zu halten, die Atmosphäre lädt sich ekstatisch auf.
Und für Lioba bricht die Nacht aller Nächte an…
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Nov. 2014
ISBN9783847618782
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    Buchvorschau

    Lioba wechselt die Saite - Doro May

    Epilog

    Für alle Galgenvögel,

    Streuner, Schelme, Schandmäuler

    und Halunken.

    Und für alle, die euch lieben.

    So wie ich...

    Die Burg

    Dicke Steinblöcke lugen durch die Bäume, grau wie der Himmel. Geheimnisvoll wachsen sie aus den Felsen heraus, haben etwas Endgültiges. Im Wald keine Bewegung. Nur aus der Ferne das Rauschen des Bachs.

    Eine kleine, runde Frau ist unterwegs zur Eyneburg. Sie hebt den Kopf und blickt in eine Baumkrone, genießt die zarten Regentropfen auf ihrem Gesicht und nimmt den Geruch feuchter Erde in sich auf. In diesem verwunschenen Wald kommt sie sich vor wie eine Prinzessin auf der Suche nach dem Glück.

    Immer, wenn sie eine Person kennenlernt, die an einem ungewöhnlichen Lebensentwurf strickt, ist ihre Neugier geweckt. Diesmal hat das der magische Satz Da wirst du Augen machen fertig gebracht. Er war das Tüpfelchen auf dem „i", als sie am Sonntagabend der Freizeitritter Knut ansprach, zu einer Uhrzeit, zu der man das Wochenende eigentlich schon abgehakt hat. Im Hinausgehen aus der Tapasbar in der Elisabethstraße sind sie aneinandergestoßen. Doch anstatt die Lokalität zu verlassen, wie es Lioba, ihre beste Freundin, todsicher gemacht hätte, nahm Valentina mit ihrer Begegnung noch einmal Platz. Sie bestellten ein Glas Wein und ein Bier, und Knut erzählte die allererstaunlichsten Sachen über sein Leben als Kelte, die mittelalterliche Kluft, sein Schwert und seine Burg.

    Heute ist Valentina bereit für das Abenteuer, denn sie liebt es, Augen zu machen. Sie schätzt die Zeit ab, etwa halb zwölf, eine gute Samstagvormittagzeit. Den alten Opel Corsa hat sie nach einer holprigen Tour über einen verwurzelten Weg am Waldrand im Matsch abgestellt.

    Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie sich außerhalb der närrischen Jahreszeit für eine Verkleidung entschieden, einen Umhang, wie ihn die Ritter trugen, bodenlang, erdfarben, ungefüttert. Diese ungewöhnliche Garderobe trägt sie zu Gefallen ihres neuen Herzensritters aus der Tapasbar, der vorgestern nach der Arbeit ein Paketchen bei ihr ablieferte.

    „Samstag komme ich auch zur Burg, hat sie ihm versichert, als sich dieses Gefühl von Verheißung in ihr breit machte. „Und lieben Dank für das tolle Geschenk. Ja – ich zieh’s an. Versprochen.

    Wie ein Heinzelmann schaut sie von hinten aus, wie sie, klein und rund, die Kapuze auf dem Kopf, über den aufgeweichten Weg quootscht. Sie stellt sich vor, wie romantisch es hier im Sommer sein muss, neben dem Göhlbach zu den kantigen Felsen aufzuschauen, die in die bemoosten Grundmauern der Burg münden. Und wie idyllisch sie auf der großen Wiese mit ihrem Ritter auf einer ganz unmittelalterlichen Karodecke mit Isolierbeschichtung ein Schäferstündchen halten könnte. Schäferstündchen. Sie sinnt dem Wort hinterher und lacht in sich hinein.

    Das Burgareal liegt auf einer Anhöhe – genau so, wie es sich für eine richtige Burg mit Wachturm gehört. Jetzt ist sie oben angekommen, ein gesundes Rot auf den runden Wangen. Sie erwartet etwas als Belohnung für ihre Mühe. Ein Meeting, eine kleine Wochenendschlacht. Und natürlich ihren Ritter.

    Als sie durch den dick gemauerten Torbogen geht, putzt sie ihr Lächeln deutlicher heraus. Am Rand des Platzes, der mit dicken Wackermännern ausgelegt ist, bleibt sie stehen. Da entdeckt sie Knut zwischen wilden Gesellen. Angestrengt führt er das Schwert und schiebt mit der freien Hand die abgerutschte Brille wieder hoch. Dabei kneift er die Augen zusammen, als würde er geblendet. Als er die runde Heinzelmännin erblickt, strahlt er übers ganze Gesicht, nickt ihr zu und ruft: „Hier geht’s gleich rund, Valentina."

    In dem Moment erscheint eine Person auf der Bildfläche, die alle Blicke auf sich zieht. Auch Valentina starrt auf die Frau in ihrem bodenlangen, dunkelroten Miederkleid mit einem Ausschnitt, dass man erwartet, jeden Moment springe einem der üppige Busen entgegen. Dazu tizianrote Locken und ein Lippenstift, der ins Schwarzrote geht. Eine Nutte, ach nein, Hure muss es heißen, wir sind ja im Mittelalter, durchfährt es Valentina, der das anzügliche Grinsen der Kämpen nicht entgeht. Auch die Zuschauer blicken ausnahmslos auf die aufgedonnerte, nicht mehr ganz junge Lady, die so ungeniert die Arme ins Hüftgold stemmt.

    Nur gut, dass Lioba nicht mitgekommen ist, durchzuckt es Valentina. Sie würde sich jetzt mit ihrem typischen Muss-ich-nicht-um-mich-haben abwenden. Valentina wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, lässt den Arm fallen, als wolle sie den Gedanken an die kritische Freundin auf den Boden werfen.

    Als die Wochenendritter in Stellung gehen, martialisch mit ihren erhobenen Schwertern und voller Konzentration, erfasst Valentina die Vorstellung von Gewalt und ihren Folgen. Ein wonniger Angstschauer stellt die feinen Armhärchen in die Senkrechte. Wäre es nicht denkbar, dass die Typen gleich Ernst machen? Ob es Verletzte geben wird? Womöglich winkt dem Sieger diese Wahnsinnsfrau in Dunkelrot...

    Etüden

    Der Globus war nicht aus der Bahn geflogen. Und die Welt nahm keine Notiz von der Frau, deren Alltag von jetzt auf gleich seinen festen Ablauf verloren hatte. Da kam Lioba die Geige gerade recht. Sie ist ihr ureigenes Instrument, war es lange, bevor sie eine Familie gründete. So kann sie mit ihrer Hilfe an Vergangenes anknüpfen und gleichzeitig ein großes Stück Vergangenheit überspringen und damit das Gedächtnis austricksen, damit die kaputten Nerven verödet werden. Jetzt können neue nachwachsen.

    Gerne wäre Lioba Orchesterspielerin geworden. Sie hätte sich gut gemacht auf dem CD-Cover bei den ersten Geigen, das lange Schwarze figurbetont, das Haar hinter den Schultern. Doch bald stand fest: Ihre Begabung reichte nur für ein gehobenes Hobbyniveau. So wechselte sie von der Musikhochschule auf Grundschullehramt und verwirklichte sich in einem kleinen Freizeitorchester.

    Sie opferte die Geige der Familie, hüllte sie in ein dunkelblaues, weiches Tuch und sargte sie in den Instrumentenkoffer ein, der wiederum in den Tiefen ihres Kleiderschranks verschwand. Aus den Augen, aus dem Sinn.

    Nun hat Lioba die Vierzig deutlich überschritten und mehr Muße als jemals zuvor. Weil sie sich von den Etüden aus ihrer Studienzeit nie getrennt hat, ist es ein Leichtes, sie hervorzuholen und ganz bescheiden wieder anzufangen. Mit dem Geigenhals in ihrer Hand hat sie ihre Gefühle recht gut im Griff, kann sie durch das Etüdentraining bezwingen.

    Jede zweite Ehe wird heutzutage geschieden. Wenn sie ihre Blusen bügelte, bügelte sie in Gedanken eins seiner Hemden. Sortierte sie den Kühlschrank, dann fiel ihr der karge Inhalt auf. Sein Bier stand nicht da, wo es gewöhnlich stand, und es fehlte an Wurst und Fleisch, war eben ein Frauenkühlschrank mit Käse, Gemüse, Joghurt, fettreduzierter Margarine, kohlensäurearmem Mineralwasser und Direktsäften. Alles in sehr überschaubaren Mengen. Aber das schlimmste war, dass ihr der Frauenplural einer Verlassenen übergestülpt wurde. Vom ehelichen Freundeskreis, vom Internetforum Partnersuchender, vom Vermieter. Und von den beiden Töchtern. Natürlich unausgesprochen.

    Sie schlägt die Stimmgabel an den Couchtisch und ihr Gehör nimmt das ‚a' auf. Sie dreht an den Wirbeln und zupft die Saiten an. Wenn sie den Ton kontrolliert, sind ihre Augen vor Konzentration auf den Klang fast geschlossen. Sie wird dranbleiben, soviel steht fest.

    Ohne die altmodische, zusätzliche Kinnstütze läge ihr Kopf zu schief auf dem Kinnhalter, denn ihr Hals ist lang. Schwänin hat ihr Vater früher zu ihr gesagt. Dabei hat er sie angesehen - liebevoll und ein bisschen stolz.

    Schon lange vor der Trennung begann ihr Mann, wenn er nach Hause kam, eine ungewohnte Freundlichkeit an den Tag zu legen. Das hätte sie stutzig machen müssen. Wie erleichtert sie damals war. Und wie grenzenlos dumm. War sie doch davon ausgegangen, dass sie beide nach zwanzig Ehejahren den Punkt erreicht hatten, wo man die Gedanken des anderen lesen kann wie in einem aufgeschlagenen Buch.

    Die einschlägigen Lektüren zur Suche nach einer passenden Lebensform liegen auf der Ablage unter dem dunklen Couchtisch, einer Notlösung aus Eiche antik mit Dackelbeinen. Einige Ratgeber für Verlassene, die in die Sinnkrise stürzten, waren durchaus ernst zu nehmen, taten nicht so, als könnten sie das Problem, dessen Diagnose auf der Hand lag, lösen. Lioba las dann häufig bis in die Nacht. Da kam doch bestimmt noch etwas in dem Buch, was für sie passte.

    Doch es kam nur der Schlaf.

    Nun hat sie sich damit abgefunden, dass es zurzeit keine unvorhersehbare Rolle für sie gibt. Nein, in ihrem Inneren ist nichts, das morgen flüstert, morgen ist der Tag aller Tage, morgen passiert etwas Ungeahntes, etwas Wundervolles.

    Auf ins Gefecht

    Ein kahlköpfiger Haudegen ruft in Richtung der üppigen Frau: „Geh ins Warme! Wie sollen wir uns auf den Kampf konzentrieren, wenn du da so stehst?"

    Die Angesprochene lacht breit. „Als Baderin stehen mir andere Möglichkeiten zur Verfügung. Da brauch ich kein Schwert." Mit Schwung dreht sie sich um und stiefelt, betont mit ihren kapitalen Hüften wackelnd, ins Haus.

    Die beiden Gruppen gehen in Stellung. Gleich neben dem Burgtor steht breitbeinig der Priester, die Arme verschränkt, die schwarzen Schuhspitzen zeigen nach außen. Mit hin- und herflitzenden Äuglein in seinem blassen Mondgesicht nimmt er die feindlichen Lager in den Blick. Sein priesterliches Haarkränzchen erinnert an eine natürlich gewachsene Tonsur. Eine Vorsehung seines Hobbys, denn der Geistliche ist nicht echt. Alles hier ist nicht ganz echt – von der Burg einmal abgesehen.

    Außer Valentina sind noch weitere Zuschauer zur Eyneburg gekommen, die im Volksmund Emmaburg genannt wird und in Ostbelgien liegt. Die Leute stecken in dicken Anoraks und machen den Eindruck, als stellten sie sich extra als Publikum zur Verfügung.

    Die anderen, die die Mitte für sich beanspruchen, tragen dünn besohlte braune Stulpenstiefel, Tunika und Landsknechthosen. Sie stehen in Grüppchen zusammen, werfen skeptische Blicke nach oben in das trostlose Einheitsgrau. Knut, der korpulente Ritter mit der Brille, winkt mit der freien Linken Valentina zu, während die andere Hand mit einem fulminanten Schwert herumfuchtelt.

    „Und los!", brüllt eine nicht mehr ganz junge Ritterfrau, deren lange, rote Tunika mit den rot gefärbten, wild zerzausten Haaren um die Wette leuchtet, und schwingt keuchend die Waffe vor ihrem Kopf hin und her. Die anderen machen es ihr nach. Jeder Kelte sucht sich einen gegnerischen Wikinger oder auch umgekehrt - der Zuschauer hat mit der Feindbestimmung so seine Probleme. Die Jahrhunderte erscheinen wie weggefegt, Autos und Motorräder sind außer Sichtweite geparkt und Busse fahren nicht bis zur Burg.

    Die lückenlos gefugten Burgmauern bringen den Hof zum Klingen. Man hört Ha! - Hoher Zwerg!, wenn die Schneide kurz vor der Enthauptung gestoppt worden ist, oder Das war ein Dach, wenn das Schwert auf den gegnerischen Kopf niederfährt und wenige Millimeter vor der Spaltung des Schädels abgefangen wird.

    Die Freizeitkämpen befinden sich am äußersten Rand ihres Lebens. Zweimal die Woche mindestens. Ochs und Eber, die diagonalen Vernichtungsschläge, wechseln sich ab. Auch das Mittelalter hat sein Fachchinesisch, stellt Valentina fest. Zünftig geht man der archaischen Neigung zur Gewalt nach und hat einen Heidenspaß dabei - ganz im wörtlichen Sinne. Gestöhn mischt sich mit dem Klang aufeinander krachenden Eisens. Das Schuhwerk kratzt und scharrt über den Boden. Dazwischen einzelne Lacher.

    Frida, Mitglied der Berserker, eines Wikingerstamms, der es wegen seiner Schlachtenraserei ohne Rücksicht auf Verluste zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat, unterbricht unvermittelt ihren Angriff . „Mir wird der Arm lahm."

    Auch einige männliche Kämpen stehen noch am Beginn ihrer martialischen Karriere. Knut ist nicht nur korpulent, sondern auch schnell außer Puste. Ein Schnürsenkel hat sich geöffnet und die Brille fliegt ihm von der Nase.

    „Pass auf!", ruft er noch, da ist schon ein Feind draufgetreten.

    Valentina zuckt zusammen. Soll sie eingreifen?

    „Ach du Scheiße! Tut mir echt leid", sagt Felan, hebt die zertretenen Reste auf und serviert sie dem kurzsichtigen Feind auf der flach ausgestreckten Hand.

    „Nicht so tragisch. Früher hatten sie auch keine. Außerdem ist es nur meine Ersatzbrille. Das Designermodell liegt im Handschuhfach." Knut lacht angestrengt, reibt sich das Nasenbein und bückt sich, um seinen rechten Stulpenstiefel wieder zuzuschnüren. Er trägt Bauch und das Bücken dauert. Beim Aufstehen tritt er auf den Saum seines Überwurfs und stranguliert sich fast mit der Kordel, die den schwarzen Poncho am Hals fixiert.

    „Gefährliches Spiel, was wir hier treiben. Er prustet los. „Früher war ich Winnetou. In meinem nächsten Leben werde ich wieder Indianer - back to the roots.

    Die anderen freuen sich mit ihm.

    Baumbestattung mit Fährfrauen und Spielleuten

    „Meint ihr nicht auch, dass wir reichlich laut sind? Ist schließlich eine Beerdigung." Der junge Mann sieht anklagend auf die Mutter aller Trommeln, die sich ein großer Mönch vor seinen ausladenden Bauch geschnallt hat.

    „Nee, Erasmus. Das siehst du ganz falsch. Bonifacius streichelt seine Trommel. „Wir sind engagiert, um unser Liedgut abzuliefern. Und wenn die Tote halt auf Mittelalter stand, dann sind wir hier genau richtig.

    „Du kannst doch nicht wie sonst auf deiner Trommel herumschlagen."

    „Ich streichel sie halt nur ein bisschen."

    „Wir sind gebucht und Ende Gelände. Mein Kühlschrank ist leer." Die junge Frau zieht ihren Haarreifen ab, streicht sich die langen, glatten Haare aus dem blassen Gesicht und zwingt sie mit dem perlmuttfarbenen Reif wieder nach hinten.

    „Du hast einen Kühlschrank?", sagt Erasmus spöttisch.

    „Wen bringen wir eigentlich unter die Erde?", wendet sich die blonde Langmähnige, die an eine Meerjungfrau erinnert, an den Mönch.

    „Du meinst, unter die Wurzel? Einen eingefleischten Fan, wen sonst?" Samuel, der die Fidel streicht, wundert sich über sich selber. Ja, er kann wieder witzeln. Länger schon. Erasmus ist es ebenfalls aufgefallen, denn er lächelt zu ihm hinüber. Wussten die anderen eigentlich, dass sie alle seine Familie waren? Nicht mehr und nicht weniger. Die Szene ist eigentlich Nebensache. Obwohl... . Vielleicht doch nicht. Im städtischen Orchester hat er sich zunehmend gelangweilt. Außerdem hatte er es nicht ertragen können, dass Elisabeth nach der Vorstellung nicht mehr auf ihn wartete. Sollten sie ihn doch ruhig für bescheuert erklären. Vor allem der Bratschist. Samuel muss grinsen. Dieser Affe. Wie der sich aufgespielt hat, als Samuel verkündete, er habe sich beruflich verändert, und als er dann mit der Wahrheit rausrückte. Absturz aus dem klassischen Olymp ins Bettelpack. Der Bratschist hatte im Grunde nur ausgesprochen, was die anderen dachten. Jedenfalls hat Samuel das allgemeine Kopfschütteln noch vor Augen.

    Der dicke Mönch sagt: „Die Tote ist eine Bürgerliche aus der Jetztzeit. Sie hatte Krebs, die Arme. Und es war ihr Wunsch, von den Fährfrauen begleitet zu werden und wir sollen den Schlusspunkt setzen. Weil das Leben doch weitergeht und lustig sein soll."

    „Und was tun die Fährfrauen hier, wo wir doch engagiert sind?" Erasmus hat einen etwas beleidigten Ton angeschnitten. Man merkt, dass er sich nach einer richtigen Bühne sehnt. Damit kennt er sich aus. Aber das hier...

    „Die Seele hat es nicht so eilig, weißt du, erklärt ihm Hildegard mit Geduldsstimme, „da freut sie sich, wenn sie zum endgültigen Abschied ein bisschen Begleitung hat.

    „Wer? Die Seele?"

    „Ja klar. Davon reden wir doch gerade, oder?" Sie sieht Erasmus an wie eine genervte Mutter.

    „Und was macht die Seele, wenn der Tote als Organspender zerlegt wird?", fragt Erasmus.

    „Das muss für eine Seele fürchterlich sein. Hildegard senkt die Stimme. „Früher haben sie drei Tage lang den Toten aufgebahrt, ihm vorgelesen, waren bei ihm, haben für ihn gebetet. Das Fenster stand offen. Da konnte die Seele dann raus, wenn ihr danach war.

    „Nee, ne?" Erasmus gibt den dummen Schüler, der seiner Lehrerin den Unsinn nicht abkaufen mag.

    „Glaub doch, was du willst. Ich lasse mich jedenfalls nicht zerteilen", sagt Hildegard.

    „Ist ja in Ordnung, zischt Erasmus. „Wenn du gestorben bist, les ich dir also drei mal 24 Stunden vor und spiel dir paar von unseren Liedern und das Fenster mach ich auch auf. Dann kann deine Seele ungestört abhauen. Bist du nun zufrieden?

    Ein älterer Mann tritt zu der mittelalterlichen Band, so dass Hildegard die Antwort schuldig bleibt. Als er in dem grauen Wetter die Sonnenbrille abnimmt, werden gerötete Augen frei. Hinter ihm geht eine weiß gekleidete Frauengruppe, eine Melodie summend. Es klingt harmonisch warm und auf eine angenehme Weise feierlich. Eine der Frauen, die ausstrahlen, dass sie genau wissen, was zu tun ist, trägt eine Urne in den ein wenig vorgestreckten Händen.

    „Schön, dass Sie kommen konnten, sagt der Witwer zu Bonifacius, dem als Mönch verkleideten Bandleader. „Meine Frau war sehr dem Mittelalter verbunden, müssen Sie wissen. Sie hatte Mediävistik studiert und interessierte sich besonders für das mittelalterliche Liedgut. Diese zuweilen recht deftige Musik hatte es ihr angetan. Er zwingt sich zu einem Lächeln.

    Bonifacius macht eine Geste, als wolle er den Mann umarmen. Stattdessen legt er seine Arme um die riesige Trommel vor seinem Bauch, was ihn in Samuels Augen irgendwie lächerlich erscheinen lässt. Kummer tötet leider nicht, denkt Samuel und blickt mitleidig auf den Mann. Nur endlose Müdigkeit kommt und geht, wie es ihr gefällt. Und dass einem bald alles gleichgültig wird, was einmal von Bedeutung war. Vor seinem inneren Auge ist er es, der hinter dem Sarg einer Frau hergeht. Seiner Frau. Es ist bald zwei Jahre her.

    Die Fährfrauen, die sich eigens dazu zusammengefunden haben, die

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