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Zu nah am Feuer: Ein Hadessphere-Roman
Zu nah am Feuer: Ein Hadessphere-Roman
Zu nah am Feuer: Ein Hadessphere-Roman
eBook524 Seiten7 Stunden

Zu nah am Feuer: Ein Hadessphere-Roman

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Über dieses E-Book

Als der Rockmusiker Colin attraktive Madeleine auf einer Party sieht, ist es um ihn geschehen. Für ihn ist Madeleine ein wahr gewordener Traum.

Was als romantische Idylle beginnt, wird für Madeleine schnell zu einem ständigen Kampf gegen Klatsch und Intrigen. Außerdem tun ihr Vater und Colins Halbbruder alles, um sie und Colin auseinanderzubringen. Ihr Vater geht sogar so weit, die Bürgschaft für den Kredit zurückzuziehen, mit dem sie ihr Geschäft eröffnet hat. Madeleine verschweigt Colin ihre finanziellen Schwierigkeiten, doch durch ihre heimlichen Versuche, ihr Geschäft zu retten, verstrickt sie sich immer mehr in Lügen und Heimlichkeiten. Schließlich begeht sie einen fatalen Fehler und Colin beendet die Beziehung.

Nur durch einen Zufall erfährt er, dass Madeleine verschwunden ist und dass es Ereignisse in seiner Vergangenheit sind, die sie jetzt ihr Leben bedrohen. Er muss sich dem Teil seines Lebens stellen, den er lange verdrängt hat, wenn er Madeleine retten will.

 

Zweiter Roman der Hadessphere-Reihe.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum12. Juli 2016
ISBN9783736803183
Zu nah am Feuer: Ein Hadessphere-Roman

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    Buchvorschau

    Zu nah am Feuer - Charlott E. Martin

    Prolog

    Es war noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Der Anblick des Sarges direkt vor ihm und das weit aufgerissene Maul der Erde daneben jagten eisige Schauer über seinen Rücken. Warum eigentlich? Da war nichts, was ihn ängstigen müsste. Der Friedhof sah aus, wie man sich einen vorstellte, eine friedliche, saftig grüne Rasenfläche, gespickt mit langen, ordentlichen Reihen weißer Grabsteine und durchzogen von sauberen, geteerten Wegen. Hier und da wurde die Eintönigkeit von Gruppen aus Büschen und Koniferen durchbrochen, aber es waren so wenige und die Stämme der Nadelbäume waren so hoch, dass sie in der gnadenlosen Mittagshitze keinen Schatten spendeten. Die senkrecht stehende Sonne ließ die üppigen Messingbeschläge des dunklen Holzsarges grell aufleuchten. Das alles war wirklich nicht sehr beunruhigend, dachte man nicht daran, dass in diesem Sarg die Leiche eines Menschen lag. Eines toten Mannes. Und nicht die irgend eines Mannes, sondern die seines Vaters! Schon die bloße Vorstellung, dass Matt Collins, der Inbegriff von Lebensfreude, tot sein sollte, verbot sich. Er war immer mehr als nur ein Mensch gewesen, er war für seine Mutter und ihn das strahlende Zentrum ihres Lebens gewesen, der Mensch, mit dem ihr Sein auf- und unterging – sprichwörtlich. Aber es war wahr, er hatte das, was von Matt geblieben war, auf der Trauerfeier gesehen: eine stille Puppe mit einem Gesicht, das wie eine Plastikmaske von Matt's aussah.

    Die Weißen machten das so, hatte ihm seine Mutter auf der Fahrt nach Henderson in Nevada erklärt, sie konservierten die Toten, um sich von Angesicht zu Angesicht von ihnen zu verabschieden. Es war ihre Art, ihre Liebsten zu ehren, und da Matt sein Vater war - gewesen war - hatte er ihn so zu ehren, wie es Matt's Religion entsprach. Matt war auch ein Weißer gewesen - eigenartig, er hatte ihn nie als Weißen gesehen. Matt war einfach Matt gewesen, ein strahlender Held, der von Zeit zu Zeit auftauchte und die Tage in Licht und Lachen tauchte. Seine Mutter war glücklich, wenn er da war, sie tanzte mit Matt durch die Wohnung und sang, wenn sie in der Küche die wundervollen Dinge zubereitete, die Matt von seinen Reisen mitgebracht hatte. Er brachte immer Geschenke mit, einen Schal, eine Kette, ein Kleid für seine Mutter, Spielsachen und Bücher für ihn und Geschichten, oh, Mann, Geschichten, so abenteuerlich, unwahrscheinlich und glorios wie Actionfilme. Hawk lächelte in sich hinein. Matt hatte es so genossen, sie zu erzählen, wie seine Mutter und er, ihnen zuzuhören. Matt war ein prima Vater gewesen – wenn er da gewesen war, was, nahm man es genau, nicht allzu oft gewesen war. Er war ganz überraschend irgendwann aufgetaucht und Tage, manchmal Wochen später genau so plötzlich und ohne ein Wort des Abschieds wieder verschwunden. In den letzten beiden Jahren waren Matt's Besuche seltener geworden. Seine Mutter hatte geduldig weiter auf ihn gewartet, ohne sich zu beklagen, ohne zu weinen und ohne je etwas Schlechtes über ihn zu sagen. Sie hatte nur manchmal am Fenster gestanden und in die Ferne gesehen und dabei unendlich traurig ausgesehen. Wenn er sie gefragt hatte, was los sei, hatte sie leichthin gesagt, sie habe geträumt und ihm über den Kopf gestreichelt, was er hasste. Aber er war schon zehn und bekam eine Menge mehr mit, als die Erwachsenen glaubten. Es war ganz einfach: Matt hatte genug von ihnen gehabt. Das war okay. Hawk hatte von seinen Mitschülern genug über brutale und gleichgültige Väter und Stiefväter gehört, um dankbar dafür zu sein, dass Matt sich andere Jagdgründe gesucht hatte, bevor er seinen Frust an seiner Mutter und ihm auszulassen begonnen hatte. Aber seine Mutter sah das vielleicht anders. Frauen waren manchmal komisch.

    Anfangs hatte auch er noch gewartet, aber da war er noch ein Baby gewesen. Inzwischen war er älter und vernünftiger und konnte auf einen Vater verzichten, der nichts von ihm wissen wollte. Wie auch immer, sie hatten seit einem halben Jahr nichts mehr von Matt gehört, bis zu jenem Nachmittag vor zwei Tagen, als die beiden Polizisten vor ihrer Tür gestanden hatten und jetzt waren sie hier und alles, was von Matt geblieben war, waren eine Holzkiste mit seinem toten Körper und Mengen und Mengen von Blumen.

    Die Blumen dufteten so betäubend süß, dass es ihm den Atem nahm. Es gab jede Menge davon, Kränze mit Seidenschleifen, riesige Rosensträuße und üppige Gestecke aus Lilien und anderen exotischen Blumen, deren Namen er nicht kannte und die er nie zuvor gesehen hatte – nicht dass er sich viel aus Blumen machte. Neben dem Farbenrausch des Blumenmeers wirkten die schweigsamen, schwarz gekleideten Frauen noch trostloser, verlorener und einsamer, als zuvor bei der Trauerfeier im Beerdigungsinstitut, wo sie still auf ihren Stühlen gesessen hatten. Es wunderte sich nur, wo die Männer waren. Es waren nur zwei ältere Männer da, die sich etwas abseits hielten, zudem sahen sie eher neugierig, als bedrückt aus. Hatte Matt sonst keine Freunde gehabt? Und in welchem Verhältnis standen die Frauen zu ihm? Er hatte keine von ihnen je zuvor gesehen und keine wies eine der Ähnlichkeiten zu Matt auf, die ihm zeigte, dass sie mit ihm verwandt war und auch untereinander sahen sie zu verschieden aus, um miteinander verwandt zu sein. Aber ob blond, brünett, rot- oder schwarzhaarig, ob groß oder zierlich, alle sahen traurig aus und die meisten hatten verweinte Augen. Wie auch immer sie zu ihm standen, sie mussten ihn geliebt haben. Er sah zu seiner Mutter auf, aber deren Blick war nach innen gerichtet, wie so oft seit der Nachricht von Matt's Tod. Vor ihr konnte er, zumindest jetzt und hier, keine Antworten erwarten.

    So traurig alles war, hatte denn außer ihm niemand Angst um sich selbst, Angst, dass Matt's Geist über ihn oder sie kam und sie mit der Geisterkrankheit infizierte? Sein Großvater hatte ihm alles über die Geisterkrankheit erzählt und Großvater war ein weiser Mann. Als hataali wusste er alles über das Leben und den Tod. Die Leute kamen von weither, um ihn um Rat zu fragen. Er heilte Kranke, leitete Zeremonien und hatte Rat für die, die nicht mehr weiter wussten. Hawk hatte einmal einen Weißen, der ins Navajo-Reservat zu Großvater gekommen war, ihn einen Medizinmann nennen hören. Großvater hatte ihn nicht korrigiert, was unhöflich gewesen wäre, aber er hatte später lächelnd zu Hawk gesagt, dass der belagaana wohl zu viele Western gesehen hatte. Hawk wusste es besser. Ein haatali war ein Sänger, einer, der uraltes Wissen und die Gesänge seines Volkes bewahrte und nutzte, um den Menschen zu helfen, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

    Großvater war vorsichtig mit den Verstorbenen und er hatte ihn gelehrt, niemals die Namen eines Verstorbenen auszusprechen, damit der chindi, die Essenz des Bösen, der vom Verstorbenen zurückblieb, nicht auf ihn aufmerksam würde. Die Vorstellung, dass Matt's chindi entweichen könnte, jagte Hawk eine Heidenangst ein und er beobachtete den Sarg genau, damit er jede Veränderung sofort bemerkte. Dabei war war sonst nicht so leicht einzuschüchtern. Letzte Woche hatte er es sogar mit dem dicken Mart aus der Oberstufe aufgenommen und der war ganz gewiss kein Leichtgewicht, weder in körperlicher noch in jeder anderen Hinsicht. Mart war ein Schläger und er genoss es, kleinere Kinder zu unterdrücken. Der verwöhnte, reiche Bastard hatte eine Abreibung verdient gehabt und die drei Tage Schulverweis waren ein kleiner Preis für seinen Sieg gewesen. Hawk lächelte in sich hinein. Er war ein großartiges Gefühl gewesen, Marts Gesicht in die Pfütze zu drücken. Aber jetzt wäre er am liebsten weggelaufen. Die ganze Situation war beklemmend. Die Frauen standen einfach nur da, sie sahen sich nicht an, sie sprachen nicht miteinander, sie starrten einfach nur auf den Sarg oder auf den Boden, aber wenn ihre Blicke ihn trafen, war es, als ob sie etwas wüssten, was er verbrochen hatte, aber keine sprach ihn an und beschuldigte ihn. Aber sie sprachen deswegen, was auch immer es war, auch nicht seine Mutter an. Sie standen einfach nur da. Einige weinten still, andere sahen wütend aus und andere wirkten einfach nur so, als ob sie überall lieber wären, als gerade hier. Das verstand er, er wäre auch lieber wieder im Bus zurück nach Flagstaff, Arizona, auch wenn die Fahrt lang und unendlich langweilig sein würde – wie die Herfahrt. Aber alles war besser, als das hier. Auch seine Mutter war still und unglücklich. Sie stand wie eingefroren hinter ihm, in ihren besten Kleidern, einem schwarzen Rock und einer grauen Bluse, in denen sie in Sammys Restaurant bediente. Sie weinte nicht, aber das würde sie nie tun, wenn er es sehen konnte. Aber er spürte, wie traurig sie war. Er lehnte sich etwas zurück und legte für einen Moment seinen Kopf an ihren Oberarm. Sie nahm seine Hand und drückte sie, eine kurze Berührung, die dankbar und beruhigend zugleich war.

    Ein Priester ging gemessenen Schrittes auf das Grab zu. Er war ein Weißer, ziemlich jung, mit kurzem, hellbraunen Haar und einer randlosen Brille. Er war groß und füllte seinen wehenden, weißen Talar um die Mitte herum ziemlich gut aus und er bewegte sich so schwerfällig, als ob alle Last der Welt auf seinen Schultern ruhte. Sein Blick schweifte in die Runde und er lächelte freundlich. Eine der Frauen, eine hochgewachsene, überschlanke Blonde in einem hautengen schwarzen Kostüm und einem Spitzenschleier vor dem Gesicht trat vor und schüttelte seine Hand. Die beiden wechselten ein paar Worte, die Hawk nicht verstehen konnte, weil er und seine Mutter etwas abseits standen. Die anderen Frauen drängten sich näher um den Priester, der neben dem Sarg Aufstellung nahm und sein Gebetbuch aufschlug.

    Hawk zögerte und er spürte, wie auch seine Mutter einen Schritt zurücktrat. Er ergriff ihre Hand und versuchte, sie so unauffällig, wie möglich noch weiter von der Gruppe weg und in eine möglichst aussichtsreiche Fluchtposition zu ziehen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der chindi seines Vaters aus dem Sarg entweichen und alle mit der Geisterkrankheit infizieren würde.

    „Wir sind hier zusammengekommen, um Matt Collins auf seinem letzten Weg zu begleiten", begann der Priester.

    Hawk wand sich innerlich. Wusste der Mann denn nicht, dass jede Nennung seines Namens Matt's chindi aufmerksam machen musste? Aber der Priester redete weiter. In jedem Satz wurde Matt's Name genannt, Matt und Matt und wieder Matt, bis Hawk sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Panisch überlegte er, wie er seine Mutter dazu bewegen konnte, zu Fuß zum Busbahnhof zu gehen, nein zu rennen, als eine der Frauen leise aufschrie. Ein scharfes Einatmen ging durch die Gruppe, wie ein heftiger Windstoß, gefolgt von hektischen Murmeln, dann sahen alle über das offene Grab hinweg in die Ferne, als ob es dort etwas zu sehen gab, das wichtiger war, als die Beerdigung. Hawk reckte sich, um etwas erkennen zu können, aber seine Versuche, zu entkommen, waren zu erfolgreich gewesen. Er und seine Mutter standen am Rand der Gruppe und in der Richtung, in die alle sahen, sah er nichts als schwarzen Stoff vor sich und schreckensstarre Gesichter über sich. Eine der Frauen bekreuzigte sich immer wieder und murmelte etwas, ihre Hand um das goldene Kreuz gekrampft, das sie an einer goldenen Kette um ihren Hals trug. Matt's Geist!

    Jähe Panik jagte heiß-kalte Blitze über Hawks Rückgrat, er wollte rennen, so schnell er konnte, aber er konnte nicht. Seine Füße bewegten sich nicht, es war, als ob sie am Boden festgewachsen seien. Sein Herzschlag trommelte in seinen Ohren. Aber er kämpfte seine Angst nieder. Er musste sich um seine Mutter kümmern! Er war kein Feigling und er würde nicht davonlaufen, bevor er die Gefahr überhaupt gesehen hatte! Entgegen allem, zu was ihn seine Instinkte drängten, zwängte er sich rücksichtslos in die Richtung, aus der die Gefahr drohte.

    Es waren nur zwei Frauen vor ihm, aber es kam ihm vor, als ob er Ewigkeiten gekämpft hatte, bis er freie Sicht hatte und er sah – nichts. Im ersten Augenblick atmete er auf, denn da war nichts, was die Aufregung verursacht haben konnte und für einen abgrundtiefen Augenblick wusste er nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Der Friedhof war so heiß, so still und so verlassen, wie zuvor, die einzige Veränderung war ein dünner, schlaksiger Jugendlicher in Jeans und einem zerknitterten weißen Hemd, der gemächlich mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen auf die Trauergruppe zuschlenderte. Da es nichts anderes zu sehen gab, sah Hawk genauer hin. Der Junge war im Highschool-Alter, Abschlussjahr vielleicht, hoch aufgeschossen und schlank, fast hager, mit kurzen, dunklen Locken, die einen Kamm nötig gehabt hätten, legte man den Maßstab seiner Mutter an. Etwas in der Art, wie er sich bewegte, schlug eine Saite in Hawks Unterbewusstsein an. Er kniff die Augen gegen die grelle Sonne zusammen und sah genauer hin. Lange, lockere Glieder, raumgreifender Schritt, arrogante Kopfhaltung - Hawk schnappte nach Luft: Wo hatte er seine Augen gehabt? Diese Haltung, dieser Gang, das hochmütige, halb verächtliche Lächeln – das war Matt wie er leibte und lebte – oder gelebt hatte. Dazu die dichten Locken, das schmale Gesicht mit der breiten Stirn, der messerscharfen Nase und den steilen Wangenknochen – das war die viel jüngere, verbesserte Version von Matt. Kein Wunder, dass alle so starrten.

    Der Pfarrer hatte schließlich auch bemerkt, dass etwas im Gange war. Er unterbrach seine Rede und wandte sich um. Als er den Jungen sah, lächelte er und winkte ihn mit einer Geste, die die ganze Welt einzuladen schien, heran.

    Der Junge nickte, als ob er sich für die Einladung bedankte, aber er blieb in einiger Entfernung stehen, die Hände in den Hosentaschen, das Kinn vorgestreckt und in den Augen einen Ausdruck, der über das offene Grab hinweg jeder einzelnen Frau der Trauergruppe seine unverhohlene Verachtung deutlich machte.

    Hawk musterte ihn seinerseits. Mädchen würden ihn sicherlich süß finden mit seinen wilden Locken und diesen Wangenknochen – Mädchen standen unglaublich darauf - und sein höhnisches Grinsen würde seine Attraktivität nur noch steigern. Die Einer-gegen-die ganze-Welt-Attitüde zog immer. Unter Jungs würde er sich damit kaum Freunde machen, aber er sah nicht aus, wie einer, der sich darum scherte.

    Der Pfarrer wiederholte seine einladende Geste, aber der Junge ignorierte ihn und und blieb, wo er war, die Hände in den Hosentaschen, gewollt abseits, demonstrativ beleidigend.

    Das Raunen war inzwischen abgeebbt. Anscheinend waren die Frauen zu dem Schluss gekommen, dass nicht Matt's Geist aufgetaucht war, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der einfach so aussah, wie Matt vor – Hawk rechnete schnell nach – ungefähr dreißig Jahren. Der Pfarrer wandte sich wieder seiner Trauergemeinde zu und setzte seine Rede fort, als ob sie niemals unterbrochen worden wäre: Matt und Matt und Matt und sein Leben voller Mühen. Hawk hörte nicht länger zu, als der Pfarrer das Gute in Matt's Leben Revue passieren ließ; die Faszination, die von dem Eindringling ausging, war zu groß, um ignoriert zu werden. Der Typ war unglaublich cool. Furchtlos. Einer wie er kümmerte sich nicht darum, was andere von ihm hielten, er zog sein Ding durch, wie er es für richtig hielt. Irgendwann einmal würde er auch so cool sein.

    Der Eindringling musterte die Trauergemeinde mit unbewegtem Gesicht; er schien er sich jedes Gesicht genau einprägen zu wollen. Irgendwann traf der suchende, zornige Blick Hawk – und blieb hängen. Schweigend musterte er ihn, mit Augen, die so grün und klar waren wie die von Matt, ebenso smaragdgrün und von der gleichen, intensiven Unverblümtheit. Hawk fühlte fast, wie der Blick von seinem ordentlich gekämmten, glatten schwarzen Haar, über sein Gesicht zu seinem sorgfältig gebügelten, weißen Hemd und der neuen, schwarzen Hose bis zu den Spitzen seiner staubigen Sneakers und zurück zu seinem Gesicht wanderte.

    Hawk starrte zurück. Unendliche Sekunden geschah nichts, dann nickte der Jugendliche fast unmerklich. Hawk grinste erfreut und ging auf ihn zu. Er hörte seine Mutter seinen Namen flüstern, aber seine Neugier war zu groß und er ignorierte sie. Der Druck ihrer Hand auf seiner Schulter verschwand, er bemerkte es nicht einmal. Es waren nur ein paar Schritte an dem mit grünem Grasteppich verkleideten Loch im Boden vorbei, bis er dem Jungen gegenüberstand, der so viel Aufruhr verursacht hatte. Er war groß, mindestens eineinhalb Köpfe größer als er und seine Haltung war entspannt, aber dennoch wachsam, er signalisierte ohne Worte, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Sein Blick sezierte ihn so gründlich, dass er sich unbehaglich fühlte, aber dann nickte er und der Hauch eines Lächelns flog über sein Gesicht, das ihn vom Terminator in einen guten Kumpel verwandelte.

    „Wie passt du in diese Krähenschar?"

    Krähenschar? Hawk grinste. Sie sahen wirklich aus wie eine Schar von traurigen, schwarzen Vögeln. Aber die Antwort... Matt's Namen auszusprechen war aus naheliegenden Gründen keine Option, ihn seinen Vater zu nennen schien nicht viel sicherer, aber nicht zu antworten kam auch nicht infrage.

    „Sie ist meine Mutter", antwortete er und nickte in Richtung seiner Mutter, die anders als die anderen Frauen höflich ihren Blick abgewandt hielt.

    Jetzt, als er den Jungen direkt vor sich sah fielen Hawk noch andere Ähnlichkeiten mit Matt auf, die Linie der arrogant geraden, schmalen Nase, die schmalen, scharf geschnittenen Lippen, die steilen Augenbrauen. Ihm kam ein Verdacht ...

    „Dein Name?", durchbrach die schroffe Frage seinen Gedankengang.

    „Colin."

    Der Junge fletschte seine Zähne in einer Weise, die Abscheu und ein Maß an Aggression zeigte, die Hawk einen vorsichtigen Schritt zurücktreten ließ.

    „Hast du noch ’nen anständigen Namen? Ich meine einen, der nicht nach deinem Alten klingt."

    Hawk grinste erleichtert. In seinen Papieren stand zwar Colin, aber seine Mutter nannte ihn Hawk. Wenn Matt dagewesen war, hatte er darauf bestanden, dass sie ihn Colin nannte, aber das musste er ja nicht unbedingt erwähnen.

    „Hawk."

    Der Hauch eines Lächelns flog über das Gesicht seines neuen Bekannten.

    „Hawk also. Gut. Ich bin Rafael. Glückwunsch Hawk, wie's aussieht hast du gerade einen großen Bruder bekommen."

    Kapitel 1

    „Nein, keine Chance, Vince, lachte Colin Arden. „Da mache ich nicht mit. Such' dir einen anderen. Wie wär’s mit Dandy? Der ist für jeden Blödsinn zu haben.

    Vince Chapman, Regisseur und der neue, strahlende Stern am Filmhimmel, hatte ein dickes Fell und nahm die abwertende Bemerkung über einen Film, der ihm den Oskar in mindestens acht Kategorien bringen sollte, nicht zur Kenntnis. Überdies galt er als äußerst zielstrebig und jeder Widerstand bestärkte ihn erst recht auf dem einmal eingeschlagenen Pfad. Aber mit Julian „Dandy" Loring, seinem Freund und Bandkollegen, sozusagen vor seiner Nase herumzuwedeln hatte den gewünschten Effekt: Vince wechselte wie ein Bluthund auf die neue Spur.

    „Julian Loring?, überlegte er. „Hübscher Junge, gute Figur, erstklassige Aussprache. Er seufzte. „Aber er ist blond", als sei Dandys wallende blonde Mähne ein Makel und nicht einer der Gründe, warum Dandy nicht allzu oft allein schlafen musste.

    „Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Nur diese drei Szenen. Du musst nichts anderes tun, als Sandy Mercer küssen. Sandy Mercer! Hast du eine Ahnung, wie viele Männer für diese Chance auf Knien hinter mir herrutschen würden? Du bist undankbar! Und wegen der paar Sätze, die du zu sagen hättest, musst du dir keine Gedanken machen. Für eure Refrains musst du ja auch Text lernen. Ach ja, und lebensecht sterben dürfte auch kein Problem sein."

    „Lebensecht sterben, aha."

    „Exakt. Hör zu, ich erkläre dir die Schlüsselszene. Du wirst sehen, es ist genau das, was du schon immer machen wolltest."

    Während sich Vince weitschweifig über sein neuestes Projekt ausließ, suchte Colin den weitläufigen Park des Fairbanks-Anwesens nach einem Bekannten ab, der ihn vor Vince’s Avancen rettete. Nur mit halbem Ohr lauschte er der ausführlichen Beschreibung der Szene, die von der überwältigenden Präsenz eines Schauspielers mit Charme, Esprit und dem Aussehen eines Kriegergottes dominiert werden sollte und die Vince in seiner, Colins, Person gefunden zu haben glaubte. Colin nahm sich ein Glas Weißwein vom Tablett eines Kellners. Zu spät erinnerte er sich daran, dass Roger Fairbanks zwar jede Menge Geld hatte, dass sich jedoch Geschmack nicht kaufen ließ und er seine Gäste mit dem süßen Stoff verwöhnte, den er selbst zu trinken pflegte. Nur der Champagner war trinkbar, weil der führende Partyservice der Stadt sich in diesem Bereich nicht hineinreden ließ. Nur war der Kellner inzwischen verschwunden. Einerlei, er hätte sowieso lieber ein Bier gehabt.

    Es war kurz vor Mitternacht und die Party bei Roger und Gillian Fairbanks hatte gerade erst begonnen, weswegen noch nicht das übliche Gedränge herrschte, das es leichter gemacht hätte, Vince auszuweichen. Colin bedauerte ohnehin, dass er sich hatte überreden lassen, herzukommen. Seit vier Wochen waren er und seine Freunde im Studio mit den Aufnahmen zu ihrem neuen Album beschäftigt und er hatte sich danach gesehnt, einfach nur einen Abend allein sein zu können. Aber Gillian hatte so gedrängt und er tat ihr ja eigentlich gerne den Gefallen. Er hatte sich gesagt, dass er nicht länger als ein paar Minuten bleiben musste, aber dann war er ausgerechnet Vince in die Arme gelaufen. Colin mochte ihn, wirklich, aber er hätte ihn mehr gemocht, wenn Vince nicht die Angewohnheit entwickelt hätte, ihn zu einer Rolle in einem seiner Filme überreden zu wollen. Die angesprochene Rolle des todgeweihten Liebhabers war ihm nach Vince’s Auffassung direkt auf den sportgestählten Leib geschrieben und gerade schwelgte Vince in Vorstellungen vom Aufeinandertreffen nordischer Kühle und indianischen Feuers und wie gut seine sehnigen, tief gebräunten Musikerhände auf der lilienweißen Haut der silberblonden Sandy wirken würden. Dieses Bild musste ihn doch beeindrucken oder etwa nicht? Die weiblichen Kinobesucher würden sich hoffnungslos in die Verkörperung des dunklen, mysteriösen Verführers verlieben und hemmungslos in ihre Taschentücher schluchzen, wenn seine Darstellung des Todeskampfes eines von Dutzenden von Kugeln durchsiebten Ehebrechers nur eine Spur der Dramatik aufwies, für die die Bühnenshows von Hadessphere bekannt waren. Und stoische Haltung im Angesicht des Todes war für einen Krieger der Navajo doch eine Selbstverständlichkeit oder nicht?

    Da Colin einschätzen konnte, dass seine schauspielerischen Fähigkeiten nicht mehr als mäßig waren, wusste er auch, dass es sein Aussehen war, das ihm die Angebote bescherte, die sich mehr oder weniger auf den monoton-dumpfen Quotenindianer oder den mysteriös-erotischen Liebhaber beschränkten. Er hatte keine Lust, sich als exotischer Hintergrund vom Dienst verheizen zu lassen.

    „Nimm’s mir nicht übel, Vince, aber such dir einen anderen Todeskandidaten. Ach ja, und wenn du schon dabei bist, feuere den Drehbuchschreiber. Entweder ist der gehörnte Ehemann blind oder dein Liebhaber ist ein medizinisches Wunder. Dutzende von Kugeln! Wenn du willst, machen wir beide einen realistischen Versuch. Ich zeige dir, auf welche Entfernung man genau trifft und du findest heraus, wie man sich schon nach dem ersten Treffer fühlt."

    „Du meinst, du würdest es dir überlegen, wenn ich mich auf, sagen wir, zwei oder drei Kugeln beschränke?", fragte Vince zuversichtlich.

    „Nur wenn ich sie vorher an dir ausprobieren kann."

    Colin kam sich gemein vor, als er die Hoffnung in den zutraulichen Augen des unscheinbaren Mannes verlöschen sah. Er wusste, dass diese Hilflosigkeit Vince’s Masche war und dass es kaum einen zielstrebigen Menschen in Hollywood gab, aber es kostete immer Überwindung, ihm einen Wunsch abzuschlagen.

    „Nein, komm jetzt nicht auf dumme Gedanken - nicht einmal dann. Ich bin immer noch dankbar, dass ich nicht im „Vermächtnis des schwarzen Bundes mitgemacht habe, an das „Gläserne Labyrinth will ich nicht einmal denken."

    Vince’s erster Film war ein Epos aus den Gründertagen New Yorks, gewesen, das dem Betrachter keine Einzelheit der damaligen sozialen und medizinischen Verhältnisse ersparte, was insgesamt schon zu viel Blut und Pathos für Colins Geschmack war, aber es war immer noch besser gewesen, als das düstere Psychobild der Selbstzerfleischung eines Soldaten, der als Einziger seines Zuges einen Einsatz überlebt hatte.

    Dieser Film, in dem er die Rolle eines heroinabhängigen Indianers abgelehnt hatte, war es gewesen, der Vince den endgültigen Aufstieg in den Olymp beschert hatte.

    „Es waren erfolgreiche Filme. Zwei Oskars und fünf Nominierungen, entgegnete Vince pikiert. „Du hättest den für die beste Nebenrolle bekommen können. Ricky Stowe sieht nur halb so gut aus, wie du und jetzt verdient er das große Geld und die Frauen rennen ihm die Tür ein. Und was hast du?

    „Keine Psychoprobleme, brummte Colin gutmütig. „Ich hörte, der gute Ricky hat schwer gesoffen, als die Dreharbeiten vorbei waren. Identifikation mit einer Rolle ist ja gut und schön, aber Ricky hat wohl vergessen, wieder umzuschalten.

    „Ricky hat schon für zwei gesoffen, als er noch zur Highschool ging, beschied ihm Vince brutal. „Man kann ihn nur ertragen, wenn er voll ist wie eine Strandhaubitze. Er ist ein wirklich guter Schauspieler, aber ansonsten ein echter Kotzbrocken, wusstest du das nicht?

    Colin zuckte gleichgültig die Schultern. Rickys Ruf hallte ihm voraus, wie Donnergrollen. Aber ganz abgesehen davon konnte nach Colins Ansicht jeder tun, was ihm gefiel und wenn jemand es richtig fand, sich seinen Verstand aus dem Schädel zu spülen, war das seine Angelegenheit allein. Nach seiner Meinung war Ricky jedoch gut beraten, seine übersteigerten Allüren zurückzuschrauben.

    „Ich habe gehört, dass man eine schriftliche Anfrage einreichen muss, bevor man ihn ansprechen darf."

    „Habe ich auch gehört, aber er hat es nie drauf ankommen lassen, wenn ich in der Nähe war, entgegnete Vince bedrückt. „Schade, nicht?

    Colin hatte von Vince's berüchtigten Temperamentsausbrüchen gehört und er nahm an, dass Vince sie mehr genoss, als er jemals zugeben würde. Und Ricky wäre ein Festmahl für ihn.

    „Das Leben ist gemein, zu selten ist es einem Menschen gegönnt, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Aber du hättest die Chance, herauszufinden, ob es stimmt. Lass dir mein Angebot noch einmal durch den Kopf gehen. Zwei Wochen Arbeit und jede Menge Vergnügen: Ricky spielt nämlich den Ehemann."

    „Colin, wie schön, dass du gekommen bist!"

    Gillian Fairbanks entzückter Ausruf enthob Colin einer weiteren ablehnenden Antwort. Er lächelte ihr entgegen, als sie auf ihn zuschwebte. Die transparenten Lagen ihrer pfauenblauen Robe umwogten sie wie Nebelschwaden. Gillians hochgewachsener, schlanker Mannequinkörper rundete sich auffällig unterhalb ihrer Brust. Sie war schwanger und sie unternahm nichts, um die Anzeichen zu verschleiern. Voller Freude umarmte sie Colin und hauchte ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Dabei hüllte ihn der Duft ihres blumigen Parfums ebenso ein, wie ihr liebevolles Lächeln.

    „Ich hatte so gehofft, dass du kommst, daran geglaubt habe ich nicht. Ich weiß, du hasst solche Veranstaltungen. Und dann fällst du gleich Vince in die Hände! Armer Kerl, hat er dich wieder vom rechten Pfad abbringen wollen?"

    „So ist es recht: Fall mir in den Rücken! Ich will ihn berühmt machen und er tut, als ob ich ihm an die Wäsche wollte."

    „Pst, Vince! Denk daran, dass hier eine Menge Menschen sind, die deine lockere Lebensauffassung nicht teilen, tadelte Gillian Fairbanks milde. „Oder halte dich zumindest so lange zurück, bis alle gespendet haben.

    „Jetzt weiß ich endlich, warum du mich eingeladen hast. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum du deinen schwulen Bruder auf dem hochherrschaftlichen Anwesen duldest: Zuerst soll ich den Löwenanteil von den paar Kröten spenden, die ich mit meinen bescheidenen Filmen verdient habe, und dann soll ich die Gäste aus dem Haus graulen, damit du und der werte Herr Gemahl noch vor Sonnenaufgang in allen Ehren sündigen könnt."

    „Apropos Spende", unterbrach Colin die geschwisterliche Kabbelei, bevor Gillian wieder, wie schon zu anderen Gelegenheiten eine Grundsatzdiskussion darüber entfachen würde, ob die heterosexuelle Lebensgestaltung nicht doch eine wäre, zu der sich Vince mit etwas Mühe durchringen konnte. Vince wollte nicht oder konnte nicht, aber das war nach Colins Auffassung ganz allein seine Sache. Gillian jedoch wollte oder konnte das nicht begreifen. Im Grunde ihres Herzens hatte sie nie die kleinbürgerliche Lebenseinstellung ablegen können, die in der Kleinstadt in Massachusetts, aus der sie stammte, die allgemeingültige war. Ein Leben im Jet Set hatte daran nichts ändern können. Was sie bei jedem anderen akzeptiert hätte, sah sie bei ihrem Bruder als Makel an, der in ihrer Vorstellung auch einen Schatten auf ihre gesellschaftliche Integrität warf.

    „Das hier ist für dich. Meinen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag."

    Gillian schlug entzückt die Hände zusammen, als sie die winzige rote Lackschachtel sah.

    „Wie süß von dir. Aber du solltest das doch nicht tun. Eine kleine Spende für die Stiftung wäre mehr als ausreichend gewesen."

    „Das habe ich bereits erledigt. Roger stand am Eingang und er sah so grimmig aus, dass ich versehentlich eine Null zu viel auf den Scheck gemalt habe. Aber für ein Lächeln von dir ist mir nichts zu teuer."

    „Da siehst du es Vince: Es gibt noch Menschen auf dieser Welt, die einer Frau huldigen, die entsetzlich aus der Form geraten ist. Jetzt habe ich wenigstens eine Freude auf dieser Welt."

    Die deprimierende kleine Ansprache wurde durch das blühende Aussehen des Geburtstagskindes als reine Koketterie entlarvt, wenn es nicht bereits der funkelnde eisblaue Diamant an ihrem Ringfinger getan hätte. Gillian sah, das er Colin nicht entgangen war und hob ihn so, dass sich das Licht der Lampions darin brach.

    „Ist er nicht wunderbar? Roger hat ihn bei Madeleine gekauft. Sie hat einen entzückenden Laden direkt neben „Scarlet, meiner Lieblingsboutique auf dem Sunset Boulevard. Immer wenn ich in der Gegend bin, besuche ich sie und ich bin nie ohne eine nette Kleinigkeit aus nach Hause gegangen. Madeleine ist eine wirkliche Künstlerin. Roger sagte ihr, dass er etwas ganz Besonderes wollte und sie entwarf die Fassung und besorgte einen Diamanten in genau der Farbe meiner Augen. Er ist reizend, nicht wahr?

    „Kein Wunder, dass Roger jetzt eine Wohltätigkeitsparty geben muss", schmunzelte Colin, der nicht ganz sicher sein konnte, ob Gillians Begeisterung Roger oder dem Diamanten galt. Er tendierte dazu, das lobende Attribut dem Diamanten zuzugestehen, denn reizend würde er Roger auch bei äußerstem Wohlwollen nicht nennen. Dass das Verhältnis zu Roger etwas gespannt war lag zum Großteil an Roger, der sich nicht damit abfinden konnte, dass ein ehemaliger Liebhaber seiner Frau ein geschätzter Gast in seinem Haus war. Lieber hätte er es gesehen, wenn Gillian mit ihrem Vorleben ein für allemal gebrochen hätte. Colin hatte von Anfang an gewusst, dass seine Verbindung zu Gillian nicht für die Ewigkeit geschaffen war, zu verschieden waren ihre Ansichten und Erwartungen, aber er schätzte sie als Freundin und hatte nicht vor, diese Freundschaft wegen eines unnötig eifersüchtigen Ehemannes aufzugeben. Deswegen gab er sich Mühe, Roger aus dem Weg zu gehen und bei unvermeidlichen, gesellschaftlichen Begegnungen waren sie beide gewandt genug, die Klippe Animosität zu umschiffen. Bissige Bemerkungen konnte und wollte sich Colin deswegen jedoch lange nicht verkneifen.

    „Als er diesen Brocken in Auftrag gegeben hat, muss diese Madeleine in lauten Jubel ausgebrochen sein. Bestimmt muss Roger jetzt am Buffet sparen. Gehen wir und versuchen, wenigstens ein trockenes Brötchen zu ergattern."

    „Halt, bestimmte Gillian. „Zuerst will ich dein Geschenk auspacken und dann zeige ich dir, wo Roger die wirklich guten Sachen hat. Wir haben da einen Rotwein aus Frankreich, der müsste dich glücklich machen. Aber du, wandte sie sich an Vince, „bekommst keinen Schluck davon."

    Behutsam löste sie die zarte goldene Schleife, dann hob sie vorsichtig den roten Lackdeckel an.

    „Oh, Colin, das ist wunderschön", hauchte sie ergriffen.

    Behutsam entnahm sie dem Kästchen einen winzigen Buddha aus Elfenbein. Vor langer Zeit hatte ein Künstler dem Kunstwerk den Ausdruck von Weisheit und unendlicher Güte zu verleihen verstanden. Die Zeit hatte das Elfenbein gelblich verfärbt, was der Figur zusätzliche Kraft und Schönheit verlieh.

    „Woher wusstest du, dass ich asiatische Kunst sammele, seit wir letztes Jahr in Japan waren?"

    „Lani hat es mir gesagt, gestand Colin. „Sie wäre gern gekommen, aber sie und Viper sind auf einer Familienfeier in Honolulu.

    Er schmunzelte verstohlen, Rafael würde die Zeit buchstäblich unter den Kindern seiner angeheirateten Familie begraben verbringen. Obwohl Rafael nie den geringsten Versuch unternahm, sich beliebt zu machen - eher das Gegenteil - waren Kinder geradezu verrückt nach diesem verdrießlichen Stück Arroganz. Zugegeben, seit seiner Hochzeit mit der entzückenden Hawaiianerin Lani zwei Jahre zuvor war Rafael „Viper" Estes, Gitarrist der Band Hadessphere, anerkannter Misanthrop und ganz nebenbei sein Halbbruder, etwas weicher geworden, was jedoch nicht hieß, dass er jemals völlig handzahm werden würde. Aber Lani schien auf die Kombination aus rauer Schale und hartem Kern zu stehen, sie hatte mit dem personifizierten worst case keinerlei Probleme. Rafaels Ruf, der das Ergebnis jahrelanger beharrlicher Hingabe an alle Arten des Lasters war, machte es für Außenstehende schwierig, anzuerkennen, was Colin bereits wusste: dass diese Ehe im Himmel geschlossen worden war.

    Colin war seiner reizenden Schwägerin seit dem ersten Blick in ihre sanften Augen verfallen, er liebte sie so, wie es bei einem Schwager nicht unbedingt akzeptabel war. Aber solange niemand anderer als er davon wusste, konnten alle damit leben. Vor allem, solange Rafael nur ahnte und nicht wusste.

    „Ich verstehe immer noch nicht, wie eine nette Frau, wie Lani einen solchen Eisklotz heiraten konnte, seufzte Gillian. „Sie hätte besser dich genommen.

    „Ganz meine Meinung, aber ich muss etwas Wesentliches falsch machen, du hast ja auch Roger geheiratet und nicht mich."

    „Du hast mich ja nicht gefragt."

    „Ich hatte keine Chance dazu; als ich endlich allen Mut zusammengenommen hatte, hattest du nur noch Augen für Roger."

    Gillian lächelte lieb und hakte sich bei Colin unter. „Ich werde mich heute sehr genau davon überzeugen, was an deiner Technik nicht perfekt ist. Aber ich kann dir schon versprechen, dass eine Menge junger Damen entzückt geseufzt haben, als du aufgetaucht bist. Und ich werde dich mit jeder einzelnen bekannt machen."

    Colin wusste, dass Gillian sich sehr genau an jede Einzelheit seiner Technik erinnerte, schließlich hatten sie sechs angenehme Monate miteinander verbracht. Nachdem ihre Beziehung auseinandergegangen war, weil Gillian ihm unter Tränen gestanden hatte, dass sie sich in Roger verliebt hatte, war aus ihrer Liebelei eine dauerhafte Freundschaft geworden. Er erinnerte sich noch gut an jenen Abend und daran, wie er seine gerade Verflossene im Arm gehalten und getröstet hatte, weil sie schier daran verzweifelt war, ihm das Herz brechen zu müssen. Aber irgendwie war seine moderate Reaktion wohl ein Fehler gewesen, weil Gillian seitdem einen regelrechten Schuldkomplex entwickelt hatte und ständig versuchte, ihn für den Verlust zu entschädigen.

    Colin warf Vince einen hilfeheischenden Blick zu, der jedoch begegnete ihm mit einem Schulterzucken und einem boshaften Blick.

    „Selbstverständlich würde ich dir jede Unterstützung gewähren, wenn du einer meiner Stars wärst, aber so ... Tut mir leid! Sagtest du nicht, dass Julian heute kommen will? Vielleicht ist er ja wirklich das, was ich immer wollte. Wenn du mich also entschuldigen würdest ..."

    Vince wandte sich würdevoll ab und überließ Colin einem Schicksal, das nicht ganz so hart war, wie Colin glauben lassen wollte. Solange Gillian ihm die letzte Wahl überließ, war er gern bereit, den Hahn im Korb zu spielen.

    Angeregt plaudernd zog Gillian ihn durch die Grüppchen von Gästen, hielt hier und da kurz an, lächelte, begrüßte Freunde und Förderer der Fairbanks-Stiftung für leukämiekranke Kinder, ließ sich jedoch nicht dazu überreden, von Colins Seite zu weichen. Colin beschlich das untrügliche Gefühl, Gast bei seiner eigenen Hinrichtung zu sein. Er kannte sich mit Frauen aus: Demonstrativer weiblicher Geleitschutz bedeutete nur selten etwas anderes, als dass man der besten Freundin der Eskorte zum Fraß vorgeworfen werden sollte. In Gedanken formulierte er eine Auswahl höflicher Ausflüchte, damit sie ihm im entscheidenden Augenblick auch wirklich leicht von den Lippen flossen. Er erinnerte sich nur zu gut an Terry-June Mayhew, mit der Gillian ihn zuletzt hatte verkuppeln wollen. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass bei jeder ihrer Bemühungen der in ihren Augen passende Ersatz einer gewesen wäre, der in ihm wenigstens eine Spur von Bedauern belassen hätte. Terry-June hatte ihn dieses Bedauern bereits nach einer Viertelstunde gelehrt, in der sie ununterbrochen nur über das eine für sie relevante Thema geredet hatte: ihre eigene, überaus attraktive Person. Er hatte Gillian danach sehr deutlich gemacht, dass er keine karitative Einrichtung war und auch nicht vorhatte, es zu werden. Gillian hatte seinen Worten ohne Schwierigkeiten entnehmen können, dass sie bei keiner Einladung mehr auf seine Anwesenheit zählen konnte, falls sie sich nicht zurückhielt. Aber seit Terry-June war eine ganze Weile vergangen und er täte wohl gut daran, seine Warnung zu erneuern.

    Er schenkte Gillian, die ihm vom erwarteten Sohn und Thronerben vorschwärmte, ein beiläufiges Ohr, während er sich im Park des weitläufigen Anwesens umsah. Langsam begann sich die Rasenfläche mit festlich gekleideten, gut gelaunten Menschen zu füllen. Bald würde das herrschen, was Gillian, wie jede Gastgeberin in Bel Air abfällig als entsetzliches Gedränge abtat, obwohl sie doch Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um genau das sicherzustellen. Eine Party, bei er sich die Gäste nicht gegenseitig auf die Zehen traten, war ein absolutes Desaster, aber Gillian hatte, genau wie ihr ergebener Gatte, beste Verbindungen, weswegen ein solcher Fall weder jetzt noch für die Zukunft zu erwarten war. Die letzten Gäste würden irgendwann nach dem Frühstück gehen. Falls Gillian die Vorstellung gepflegt hatte, irgendwann vor Sonnenaufgang ins Bett zu kommen, hatte sie sich stärker verändert, als er angenommen hatte. Er hatte sie noch als bemerkenswert ausdauerndes Partygirl in Erinnerung. Und wie sie dieses Leben genossen hatte!

    Sie hatten die mit Blumen und Lampionketten geschmückte Terrasse der Villa erreicht, eines Natursteinbaus aus dem zwanzigsten Jahrhundert, der angestrengt vorzugeben versuchte, aus dem sechzehnten zu stammen, als Colin wie angewurzelt stehen blieb.

    „Wer ist das?"

    „Wer?"

    Colin antwortete nicht. Er war nicht imstande dazu, war gefangen im Bann einer Vision. Was er sah, konnte nicht real sein: Mondlicht und Mitternacht hatten eine Sirene geformt, die er sich in seinen wildesten Träumen nicht hätte vollkommener ausmalen können. Jede ihrer Kurven war perfekt, der sanfte Schwung ihres Nackens reine Verheißung, ihre Haltung vollendete Harmonie, ein Wesen aus einer anderen Dimension, unfassbar schön und strahlender als der Diamant an Gillians Finger. Sie stand mit dem Rücken zu ihm. Glänzende, dunkelblaue Seide floss wie mitternächtliches Wasser an ihrem Körper herab, ein dreieckiger, zartblauer Eissplitter steckte in ihrem schweren, weißblonden Haarknoten und zerfloss in einen Regen glitzernder Tränen auf der makellosen Haut ihres Rückens. Der aufsehenerregend tiefe Rückenausschnitt ihres Abendkleides war nichts weniger, als die Einladung, ihre golden schimmernde Haut zu berühren, das sanfte Schwingen der Schmuckschnüre über ihr Rückgrat war die Aufforderung, es sofort zu tun. Colin war ganz und gar nicht der Mann, der sich schon beim Anblick einer schönen Frau in Ekstase wand. Er schätzte Schönheit und er mochte Frauen und er wusste den Genuss an beidem mit einer gesunden Portion Realismus zu verbinden. Trotzdem stand er jetzt hier und wartete angespannt darauf, dass seine Vision sich umdrehte. Er musste wissen, ob die überaus gewagte und dennoch elegante Aufmachung sich in ihren Zügen widerspiegelte oder ob sie lediglich das Ergebnis einer erfolgreichen Sitzung bei einem guten Designer war.

    „Dort neben dem Pavillon?", vergewisserte Gillian sich, obwohl sie schon nach dem ersten Blick in die Richtung, in die er starrte, sicher sein musste, was oder eher wen ihr ehemaliger Geliebter gerade für sich entdeckt hatte.

    „Taneeya Carventas und Dominic Dane müsstest du kennen, Anthea Jones-Courtney auch, der Herr, der mit dem Rücken zu uns steht, ist Andrew Barron, einer von Rogers Bankerfreunden aus New York."

    Colin reagierte lediglich mit einem Knurren, das ihr bedeutete, den Bogen nicht zu überspannen. Er hatte seinen guten Willen bewiesen und war zu ihrer Party gekommen, nun forderte er die Gegenleistung ein.

    „Ah ja, die Dame in Blau. Ich erinnere mich, dass du schon immer ein Faible für Blau hattest, nicht wahr? Das bringt mich auf ein ganz wichtiges Thema: Wie findest du mein Kleid? Du hast noch nicht ein Wort darüber verloren!"

    „Entzückend", murmelte er, jedoch ohne den Blick von seinem Ziel zu wenden.

    Gillian seufzte, aber sie erkannte wohl, dass sie nicht mehr aus ihm heraus bringen würde. „Die Dame, die du in deiner Phantasie gerade aus dem Rückenausschnitt ihres Abendkleides zerrst, ist Madeleine Turner. Die Madeleine, von der ich dir gerade erzählt hatte."

    „Roger hat den Klunker wohl doch noch nicht bezahlt, mutmaßte Colin, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von einem Traumbild zu lassen, das sich, so seine Befürchtung, bereits beim nächsten Lidschlag in Nichts auflösen würde. „Sonst hätte sie sich die zweite Hälfte des Kleides auch noch leisten können. Ich hätte nie gedacht, dass Mr. Perfekt einmal etwas vergisst und dass ich ihm dafür auch noch dankbar sein muss.

    Wenn Colin nicht sehr gut gewusst hätte, dass sich der Wert einer Robe am allerwenigsten an der Menge des verarbeiteten Materials maß, hätte Gillian ihm deutlich dargelegt, dass die Zahlungsmoral ihres Gatten über jeden Zweifel erhaben war. Roger, der vorhatte, bei der nächsten Wahl als Gouverneur zu kandidieren, wäre über

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