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Am liebsten mit dir
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eBook333 Seiten4 Stunden

Am liebsten mit dir

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Über dieses E-Book

Wie lebt man weiter, wenn die Seele weint?

Mit drei Kindern platzt das Kapitänshaus aus allen Nähten. Lin und Joel haben alle Hände voll zu tun. Doch geheimnisvolle Anschläge stören ihr Leben und das Unfassbare passiert. Ihr Jüngster verschwindet auf unerklärliche Weise und die Liebe seiner Eltern wird schwer erschüttert.
Während Lin kaum zu sich findet, wird Joel mit der dunklen Seite seiner Vergangenheit konfrontiert. Und was er entdeckt, schockt ihn zutiefst, gibt aber auch Hoffnung.

Geschieht doch noch ein Wunder?

Packendes Romantik-Drama!
Stoff, aus dem elterliche Albträume gewebt sind, gepaart mit verträumt-poetischen Momenten einer großen Liebe, die am seidenen Faden hängt.
Ein Must-Read!
(Manuel Strack, Autor)
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Juli 2022
ISBN9783347612709
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    Buchvorschau

    Am liebsten mit dir - Chris Livina

    Erster Teil

    DE R R EGEN HATTE NACHGELASSEN. E IN W OLKENBRUCH WAR AUF das Kapitänshaus niedergeprasselt und hatte den Vormittag in tiefstes Grau getaucht. Am Bordsteinrand trudelte ein aufgeweichtes Papierbötchen durch einen Strom Regenwasser. Die von Kinderhand aufgekritzelten Namen verwässerten in blauen Schlieren und bevor das Schiffchen vom Gully verschluckt wurde, hatte sich eine Buchstabenfolge komplett aufgelöst.

    Als sich das Licht durch die verhangenen Schwaden kämpfte, brach Joel zum Einkaufen auf. Ole brauchte neue Windeln. Er wartete, bis Lin das Baby gestillt hatte und schaltete seiner Tochter den Fernseher aus. Sanft küsste er seine Freundin. »Leg dich etwas hin, Süße. Es wird ’ne anstrengende Nacht. Der Kleine hat ziemlich viel geschlafen heute.«

    Lin streckte sich auf der Couch aus, als er den Wagen anließ. Kraftlosigkeit lähmte ihre Glieder und Gedanken, sie erlebte die ersten Wochen nach der Geburt wie durch eine beschlagene Fensterscheibe. Der ständige Schlafmangel, die Nachwirkungen der Niederkunft und das permanente Gefordertsein beim Stillen brachten eine tiefe Erschöpfung mit sich. Joel half ihr, so gut er konnte. Er wickelte Ole, er bespaßte ihn in aller Frühe, wenn er nicht schlafen wollte, aber er hatte nun mal keine Brüste.

    Ihr fielen die Augen zu.

    Joel fuhr mit seinen Kindern ins neugebaute Einkaufszentrum. Nachdem er die Windeln und Kleinkram besorgt hatte, fiel sein Blick auf eine Boutique, an deren Schaufenster sich Lin letzte Woche wegen einer hübschen Bluse die Nase plattgedrückt hatte. Ole hatte jedoch einen Weinkrampf bekommen und sie hatten den kurzen Einkaufsbummel abgebrochen. Joel sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde noch, dann musste der Kleine wieder an die Brust. Zielstrebig marschierte er in den Laden. Ruby zerrte an seiner Hand. »Daddy, krieg ich eine Münze? Ich will im roten Auto fahren.« Sie deutete mit dem Finger vor das Geschäft.

    »Okay du Quälgeist, hier, fünfzig Cent. Zisch ab.«

    Ruby fegte nach draußen.

    So, endlich Ruhe im Karton. Joel sah sich nach der Bluse um, irgendwo hier musste sie doch hängen.

    Lexa sah das Elfchen, bevor sie Joel erspähte. Es war in das Ruckelauto vor der Boutique gestiegen und fuhr darin, indem es wild das Lenkrad drehte und »tut - tut!« rief.

    Lexa musste zweimal hinsehen. Diese hellen Zöpfchen und das zarte Gesicht erinnerten sie derart an Lin, dass es ihr die Luft abschnürte. Sie konnte nicht anders, sie musste das Mädchen ansprechen. Geschmeidig glitt sie an das Spielauto heran.

    Das Fahrzeug versagte stotternd seinen Dienst und das Kind trat in drolliger Wut auf das Pedal. »Oh nein! Paaapa? Die blöde Blechbüchse ist schon aus!«

    »Brauchst du fünfzig Cent für dein Auto?«, fragte Lexa und hielt ihr ein Geldstück hin.

    Das Kind wandte ihr das Gesicht zu. Den trotzigen Ausdruck um den Mund der Kleinen kannte Lexa nur zu gut und es traf sie wie eine Abrissbirne, als das Mädchen lächelte. Zwei mandelförmige Grübchen tauchten in den Wangen der Kleinen auf, ihre Milchzähne reihten sich aneinander wie Tictacs. Das war unverkennbar Joels Lächeln in diesem Kindergesicht, ein Lächeln, das sie fast umgebracht hatte.

    »Ich darf nix annehmen von Fremden«, erklärte die Kleine und rutschte von dem Auto herunter.

    Lexa warf einen Blick durch das Schaufenster in den Laden, starr vor Schreck stierte sie auf seinen Rücken. Die geraden, starken Schultern. Der dunkle Haarschopf! Da stand Joel zwischen den Kleiderständern und durchkämmte mit angestrengter Miene die Kleidungsstücke, mit einem Baby in der Trage?! Hitze durchfuhr sie und die alte Sucht brach hervor. Nur mit Mühe riss sie ihren Blick los und kramte fahrig in ihrem Täschchen. »Ich bin keine Fremde. Ich war mal mit deinem Papa befreundet. Es ist Joel, nicht wahr?« Sie deutete mit dem Kopf in den Laden. Ruby klappte den Mund auf. »Du kennst ihn?«

    »Wir sind zusammen zur Schule gegangen«, erwiderte Lexa. »Los, fahr noch ’ne Runde. Ich gehe rein und sage ihm Hallo.«

    Das Mädchen musste nicht lange überredet werden. Ruby hopste vergnügt, die blonden Zöpfchen hüpften auf und ab. »Danke«, zwitscherte sie artig und stieg in den Wagen zurück. »Bist du in ihn verknallt?« Ruby grinste breit und warf die Münze ein. Das Auto setzte sich in Bewegung.

    Lexa biss sich auf die Lippe und schmeckte ihr Gloss.

    »Ist schon okay«, folgerte das Mädchen aus ihrem überraschten Gesichtsausdruck. »Alle Frauen sind in ihn verknallt. Außer meine Oma!« Ruby lachte sich kaputt über ihren eigenen Witz.

    Lexas Beine schlingerten gummiartig und sie lehnte sich kurz an das Schaufenster. Ihr Blick wanderte wieder zu Joel, der nun an der Kasse stand. Ohne ein weiteres Wort an seine Tochter wandte sie sich um und betrat den Laden.

    Joel hatte sie schon entdeckt und unterdrückte den Wunsch, sich hinter einen Kleiderständer zu ducken. Es war zu spät. Sie steuerte bereits auf ihn zu. Widerwillig trat er auf den Gang. Seine Hand krampfte sich in die Bluse, die er gerade bezahlt hatte.

    Lexa sah verändert aus. Sie trug ihre braunen Haare auf Schulterhöhe, bauschig geföhnt, mit einer Tonne Haarspray betoniert. Obenauf thronte eine riesige Sonnenbrille. Dazu ein knielanger Fummel, ein Dolce&Gabbana Täschchen schaukelte an ihrem sonnengebräunten Arm. Die harten Augen waren dieselben, das konnten auch die überlangen, künstlichen Wimpern nicht verbergen.

    Joel unterdrückte ein Schaudern. Seit der lebensverändernden Nacht hatten sie einander nicht wiedergesehen. Ihr Dad hatte sie von der Schule genommen, als die Geschichte bekannt wurde.

    Seine Mutter und seine Lehrerin hatten dafür gesorgt, dass Lexas Vater von der Sache erfuhr. Teresa hatte ihm mit einer Anzeige wegen Drogenmissbrauch und Vergewaltigung gedroht, gestärkt durch die Aussagen von Joels Freunden.

    Mister Wright hatte nicht lange gefackelt. Der Eskapaden seiner Tochter überdrüssig, hatte er Lexa ihre Kreditkarten abgenommen, ihr einen Pixi Cut schneiden lassen und sie mit winzigem Handgepäck am Flugschalter abgegeben. Ihre restlichen Schuljahre hatte sie in einem Mädchenpensionat in Edinburgh geschmort, weit weg von Wrestlington, weit weg von Joel.

    »Du bist nicht mehr in Schottland?« Er runzelte die Stirn und sah über ihre Schulter, als schätzte er den Weg zum Ausgang ab. Lexa fasste sich zitternd ins Haar und schob es mit einer femininen Geste zurecht. »Mein Vater ist verstorben. Ich muss seine Angelegenheiten ordnen.« Immer wieder senkte sie ihren Blick, nur um ihn Sekunden später erneut auf Joel zu richten. Dreiundzwanzig war er nun, genau wie sie. Seine blauen Augen musterten sie ablehnend, er hatte nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Er legte seine Hand über die Rundung der Trage, das winzige Wesen verschwand beinahe vollständig in seiner schützenden Hülle. Diese behütende Geste löste in Lexa eine Verzweiflung aus, die ihr den Boden unter den Füßen wegzog. »Hast du einen Bruder bekommen?«, fragte sie hoffnungsvoll und trat näher. Sie erinnerte sich, dass Joels Mutter unheimlich jung war, sie hatte sie nicht oft gesehen.

    Er zögerte, mit umwölkter Stirn biss er sich auf die Unterlippe. Wie süß, seine Hände zitterten sogar. Lexa weidete sich an seiner Unsicherheit, doch da trat ein entschlossener Ausdruck in seine Augen. Er schob das Erstlingsmützchen nach hinten und drehte sich zu ihr. Das Baby schlief mit offenem Mündchen, an seine Brust gekuschelt.

    Sie sah den dunklen Haarflaum auf dem Köpfchen des Kindes und erkannte ihr Gegenüber in den zarten Gesichtszügen. Joel trug ein jüngeres Selbst an seiner Brust – das Baby war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.

    »Das ist Ole«, hörte Lexa seine Stimme wie durch Watte. Er lächelte, als könne er es selbst kaum glauben. »Er ist mein Sohn.«

    Heiße Eifersucht pumpte wie Arsen durch Lexas Adern. Wie ferngesteuert fuhr sie dem Kleinen mit dem Finger über die weiche Wange.

    Das Kind erschrak durch die plötzliche Berührung und öffnete kurz die Augen.

    Joels Miene versteinerte. »Nicht.« Er trat zurück.

    Lexa hatte genug gesehen. Oles Kulleraugen schimmerten in dem tiefen Blau, das sie unbedingt für ihre eigenen Kinder gewollt hatte.

    »Ich muss gehen«, raunzte Joel schroff. »Er kann ziemlich ungemütlich werden, wenn er nicht rechtzeitig an die Milchbar kommt.« Ohne einen Gruß wandte er sich ab. »Ruby? Wo steckst du?« Er befreite das Elfchen, das sich in den Vorhang einer Umkleidekabine gewickelt hatte. »Lass den Scheiß und komm jetzt. Wir sind spät dran.«

    Lexa sah ihm nach und kämpfte den Schmerz nieder, der sich in ihrer Brust ausbreitete. Joel war immer noch Joel. Zuerst riss er ihr mit seinem Grübchenlächeln das Herz aus dem Leib, um es dann genüsslich über dem Feuer zu rösten. Zwei Kinder. War das zu fassen? Joel war dazu bestimmt, die Modewelt in Begeisterungsstürme zu versetzen – Paris, Mailand, New York. Dumm und dusselig könnte er sich verdienen, stattdessen stolzierte er durch dieses Provinznest Wrestlington und machte mit Anfang zwanzig einen auf Happy Family. Ihr war nicht entgangen, dass seine Augen violett umschattet waren vor Müdigkeit. Er zahlte den Preis für das Baby. Lexa keuchte. Auch die fünf Jahre Abschottung hatten das Feuer ihrer Sucht nach ihm nicht löschen können. Sie hatte gedacht, sie käme klar, aber ihre überquellenden Gefühle lehrten sie eines Besseren. Sie würde niemals von ihm loskommen.

    Niemals.

    NACHDEM ER DIE K INDER IN IHREN S ITZEN FESTGESCHNALLT HAT- te, setzte sich Joel ins Auto und warf einen Blick nach hinten.

    Ruby knisterte mit der Chipstüte, die er ihr vorsorglich in die Hand gedrückt hatte, um ihr Plappermäulchen zum Schweigen zu bringen. Dass sie seinen Wagen vollkrümelte, nahm er billigend in Kauf.

    Ole war eingenickt, sein Köpfchen mit den dunklen Babylocken lehnte verschwitzt am Kopfpolster des Maxi-Cosis. Sein Schnuller war halb herausgerutscht und zwei runde, feuchte Saugpunkte zierten seine Oberlippe. Aufgewühlt wandte Joel den Kopf und starrte blicklos auf die reflektierende Motorhaube, dann sank seine Stirn gegen seine Hände, die auf dem erhitzten Lenkrad ruhten. Wirre Gedanken blitzten unter seinen geschlossenen Lidern auf, vermengt mit Lichtpunkten. Nervöse Energie jagte durch seine Adern. Lexa war also wieder da. Dieses Mädchen, das ihn in seiner Schulzeit täglich gescannt hatte, egal was er tat. Das ihn buchstäblich gestalkt und ihre Lust auf ihn nicht hatte zügeln können. Weder das Geld ihres Vaters, noch ihre tussenhaft anbiedernde Aufmachung hatten ihn beeindruckt. Im Gegenteil, abgestoßen hatte sie ihn. Und genau das war ihn teuer zu stehen gekommen. Ein Schauder durchlief ihn und er schluckte hart. Nur ein Blick in ihre kalten Augen hatte genügt, um die Vergewaltigung wieder lebendig werden zu lassen. Mit roher Hand umschloss die Erinnerung seine Kehle. Mit ihrer Freundin Kaya hatte Lexa ihm eine Droge verabreicht und seinen Willen manipuliert. Gefügig hatte er ihrem Begehren nachgegeben, ohne wirklich zu checken, was ablief. Mit den Folgen hatte er leben müssen. Mit zitternder Hand wischte er über seine Stirn und tastete nach einem Taschentuch. Er klappte die Sonnenblende herunter und tupfte sich ab. Für einen Moment begegnete er seinem Spiegelbild und starrte sich in die strahlend blauen Augen. Dieses Vermächtnis seines Vaters, den er nie gekannt hatte, war die Wurzel allen Übels. Oder allen Glücks. Joel straffte die Schultern, atmete tief durch und startete den Motor. Seine Attraktivität lenkte sein Schicksal wie die zwei Seiten derselben Medaille, die sich fortlaufend um sich selbst drehte. Kopf oder Zahl, Fluch oder Segen. Es hatte Vorteile, dass er Frauen jeden Alters den Kopf verdrehen konnte. In Lexas Fall war es jedoch ein mieser Hinterhalt gewesen, dessen Bitterkeit er zu spüren bekommen hatte, als Lin sich nach der ausschweifenden Partynacht von ihm getrennt hatte.

    Im Rückspiegel streifte sein Blick Ruby, das genaue Abbild seiner großen Liebe. Ihre kleinen Füße traten ungeduldig gegen den Fahrersitz.

    »Lass das, du Frechdachs«, ermahnte er sie. »Ich fahre ja schon los.«

    Seine Tochter widmete sich wieder ihren Chips, während Joel den Wagen durch die Straßen des Vorortes von Boston lenkte. Das verschlungene Wegenetz formte sich in seinen Gedanken wie von selbst zu einer Straßenkarte. Dieser überschaubare Ort mit dem Brunnen in der Dorfmitte war sein Zuhause geworden, nachdem er bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr heimatlos gewesen war. Wurzellos, haltlos. Mietnomaden hatten die Leute ihn und seine Mutter Teresa hinter vorgehaltener Hand genannt. Und es stimmte, immer wieder hatten sie ihre Zelte abgebrochen und waren klammheimlich, im Schutze der Dunkelheit vor ihren Gläubigern geflohen. Stolz war Teresa nicht auf ihre gemeinsame Vergangenheit und er hatte als Kind sowieso nichts dran ändern können.

    Jetzt rollte er die letzten Meter bis zum Kapitänshaus und parkte um die Ecke. Sein Halbbruder Tim saß auf dem Zaun mit dem weißen Lack und schleckte an einem Eis. Mit einem Satz sprang er herunter, als Joel Ruby die Tür öffnete.

    »Wieso hast du Chips?«, fragte Tim seine gleichaltrige Nichte und versuchte, einen Blick in die halbleere Tüte zu erhaschen.

    »Wir können ja tauschen«, schlug Ruby vor und Joel sah breit grinsend zu, wie die begehrten Leckereien außer Reichweite gehalten wurden, bevor die Konditionen ausgehandelt waren. Mit Ole auf dem Arm leerte er den Briefkasten und sah die Post durch, als ein entrüsteter Aufschrei ihn aufsehen ließ. Die Naschereien hatten ihren Besitzer getauscht, doch Tim hatte die Gelegenheit genutzt, Ruby seine schmelzende Eistüte auf die Nase zu stupsen.

    TERESA WEHTE SO SCHWUNGVOLL INS B ADEZIMMER, DASS DIE AUF -gestickten Vögel auf ihrem roten Kimono flatterten. Joel lächelte ihr über seine Schulter zu. Er war bereits angezogen und hatte Ole auf dem Wickeltisch.

    »Guten Morgen, Darling«, säuselte sie und drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange. »Ist mein Göttergatte schon weg?«

    »Ja. Fred ist vor zwanzig Minuten gefahren.«

    Sie beugte sich über ihren Enkelsohn. »Na, mein Kleiner! Papa hat dich ja schon fein gemacht!« Sie kitzelte ihn am Bauch, das Baby gluckste und produzierte Spuckebläschen. Vor dem Spiegel löste Teresa ihre Haare aus dem improvisierten Dutt. Ein Wasserfall aus dunklen Locken rauschte über ihren Rücken. »Wie war die Nacht?«, fragte sie und bürstete ihre Haarpracht.

    Joel stützte beide Hände neben seinem Sohn ab. »Laut«, antwortete er, dann löste er zum vierten Mal die Schleifchen von Oles Wickelbody. Die Dinger machten ihn wahnsinnig.

    »Kann man wohl sagen«, gab Teresa mit einer Spur Provokation in der Stimme zurück.

    Joels Wangen wurden warm. Er sah nicht auf und versuchte stattdessen noch einmal, Ole richtig anzuziehen. Dann antwortete er ruhig: »Non é colpa mia se questa casa e construita di carta.«

    Teresa strich mit der Hand über seinen Rücken. »Ich verstehe ja, dass ihr einander braucht. Aber ihr habt die Kinder geweckt.« Sie sah, wie er sich abmühte. »Komm, ich zeig dir das nochmal.« Mit wenigen Handgriffen schloss sie den Wickelbody und reichte ihm den Kleinen. »Du brauchst ihm nicht noch mehr anzuziehen. Es wird furchtbar warm heute. Schläft Lin?«

    »Ja. Gott sei Dank. Ole hat um halb sechs das letzte Mal getrunken. Danach wollte er nicht mehr schlafen. Ich bin dann mit ihm aufgestanden.« Joel nahm seinen Sohn mit in die Küche und setzte ihn in die Babywippe.

    Ole lutschte an seinen Händchen und beobachtete, wie sein Dad Frühstück für Tim und Ruby vorbereitete und die Kindergartentaschen packte.

    Joel bereitete Kaffee für sich und seine Mutter, setzte sich an den Tisch und nahm sein kleines Herzblatt auf den Schoß. Er knuddelte das Baby und Ole antwortete ihm mit lustigen Tönen und lachenden Augen.

    Dankbar griff Teresa nach der Tasse, die ihr Sohn auf den Tresen gestellt hatte.

    »Ich kann Ruby und Tim zum Kindergarten bringen, ich hab erst um neun Vorlesung«, bot Joel an.

    Seine Mutter schlug die langen Beine übereinander, die unter ihrem Seidenmorgenmantel hervorlugten. »Brauchst du nicht«, antwortete sie und nippte einen Schluck Kaffee. »Ich muss erst um zehn Uhr im Friseursalon sein. Das schaffe ich ganz entspannt vorher. Ich habe sie extra schlafen lassen. Sie sind beide heute Nacht zu mir und Fred gekommen und liegen immer noch bei uns.«

    Ole wand sich quengelnd in Joels Armen. »Willst du einen Schluck Wasser?«, fragte der junge Vater, doch das Baby schlug die Flasche weg. Er wechselte in den Fliegergriff. »Sie schlafen ja fast nie in ihren Betten. Entweder sind sie bei euch, bei uns, oder liegen zusammen in Tims Bett. Weißt du noch, wie sie sich einmal nachts eine Höhle im Wohnzimmer gebaut haben und ihre nackten Füße guckten unter der Decke heraus? Fred wäre beinahe über sie gestolpert.«

    Teresa lachte auf und schüttelte ihre Mähne, rote Funken glitzerten in ihren schwarzen Haaren. »Das war wirklich ein Schreck! Diese Racker!«

    Joel grinste in sich hinein. Tim und Ruby hatten ihr Leben ganz schön auf den Kopf gestellt. Wie der Zufall es gewollt hatte, hatte Lin am gleichen Tag entbunden wie seine Mutter. Kurz zuckte dieser verrückte Geburtstag der Kinder in seinen Gedanken auf. Wie unterschiedlich die beiden Frauen ihre Babys zur Welt gebracht hatten! Teresa hatte kein Schmerzmittel akzeptiert und dem Krankenhauspersonal die Hölle heiß gemacht, während Lin ihrer Tochter fast meditativ das Leben geschenkt hatte.

    Ruby und Tim hielten zusammen wie Pech und Schwefel, auch wenn es schonmal Zoff gab, weil sie sich in dem engen Kapitänshaus das ehemalige Gästezimmer teilten. Es war eine wüste Räuberhöhle. Die wahllos im Zimmer verteilten Legosteine bescherten der barfuß laufenden Familie so manchen Autsch-Moment.

    »Papa?«, erschallte Rubys Stimme von der Treppe.

    »Ich bin hier, Ruby.«

    Das Kind flog ihm an den Hals. »Dürfen Tim und ich heute allein zum Kindergarten gehen? Bitteee!«

    Joel suchte Teresas Blick und zog fragend die Augenbrauen hoch.

    »Von mir aus. Ihr seid ja zu zweit«, entschied sie. »Aber es werden keine Lutscher bei Marjam gekauft, ihr geht direkt zum Kindergarten, ohne Umwege.«

    Ruby nickte strahlend und krähte die Treppe hoch: »Tim, wir dürfen! Hab ich doch gesagt!«

    Natürlich hatte Tim seine charmante Nichte vorgeschickt, ihr Niedlichkeitsfaktor funktionierte fast immer.

    Joel schüttelte den Kopf. Wie gewieft die beiden Kleinen waren! Dabei waren sie erst fünf. Sein jüngerer Bruder polterte die Treppe herunter und er bekam ihn am Schlafittchen zu fassen. »Seid nicht so laut, Lin schläft. Ihr putzt jetzt die Zähne und wascht euch. In fünf Minuten sitzt ihr am Frühstückstisch, sonst klappt das nicht mit dem Selbergehen.«

    Teresa hatte ihrer Enkelin das Nachthemd ausgezogen und flocht ihre Zöpfe, bevor sie ihr einen Klaps gab und sie nach oben schickte.

    Keine zehn Sekunden später ertönte Gekreisch aus dem Badezimmer. Tim bespritze Ruby mit Wasser. »Hilfe! Ich krieg den Hahn nicht mehr zu!«

    Joel reichte Ole an Teresa weiter. Er lief nach oben und drehte den Wasserhahn zu. Herrgott, dauernd ging in diesem alten Haus etwas kaputt! Er rubbelte die Kids trocken und trieb sie erneut zur Eile an.

    Als sie gefrühstückt hatten, ließ er einen Kuss auf Teresas Wange zerknallen, herzte Ole ein letztes Mal und steckte Ruby und Tim in einem unbeobachteten Moment zwei Lutscher zu. »Aber erst nach dem Frühstück!«

    Die beiden versprachen es und grinsten sich verschwörerisch zu.

    Als sie weg waren, nahm Joel trotz seiner Müdigkeit das Fahrrad, um die zwanzig Kilometer nach Cestward zu fahren. Er hatte Vorlesung bis drei, also würde er rechtzeitig zurück sein, um Lin mit den Kindern zu helfen.

    Teresa füllte derweil die Waschmaschine und balancierte Ole auf der Hüfte, während sie das Nötigste im Haushalt erledigte. Kopfschüttelnd leerte sie Tims und Joels Hosentaschen. In dieser Hinsicht glichen sich ihre Söhne unheimlich. Ihr Ältester trug seit seiner Kindheit Bindfaden, Taschenmesser, Büroklammern, Bleistifte und Nägel mit sich herum. Bei Tim waren es Gummibänder, Eiscremestiele, ein Stückchen rotes Glas sowie ein handliches Töpfchen Knete. Wenn die beiden draußen zusammen herumstromerten, hatten sie alles dabei, um Schiffchen zu bauen, irgendwelche verrückten Experimente zu machen oder was ihnen sonst so im Kopf herumspukte. Es würde nicht mehr lange dauern und Ole würde sie mit ähnlichen Füllungen beglücken. Teresa warf die Sachen in die leeren Marmeladengläser, die Lin mit Joel und Tim beschriftet hatte. Wieder einmal durchströmte tiefer Stolz Teresas Herz. Wer hätte gedacht, dass das Kapitänshaus mal aus allen Nähten platzen würde? Barfuß liefen die Kinder allesamt, sogar Lin war im Winter ohne Socken unterwegs.

    Teresa betrachtete den Wonneproppen auf ihrem Arm. Unruhig moserte er und war drauf und dran, den Volumeregler ordentlich aufzudrehen. Es tat ihr in der Seele weh, aber sie musste seine Mutter wecken. Leise öffnete sie die Tür zur Mansarde.

    Lin lag eingerollt da und wirkte winzig in dem schlabberigenT-Shirt von Joel. Auf dem Nachttisch stand ein Frühstück für sie: Ausgestochene Butterbrotherzchen und mit Zahnstochern zusammengebastelte Blümchen aus Karotten und Gurken. Daneben lag ein zusammengefalteter Zettel, der Teresa ein Schmunzeln entlockte.

    »Wach auf, Liebes«, sie tätschelte Lins schlafwarme Wange.

    Lin öffnete langsam die Augen und nahm Ole entgegen. Das Baby suchte sofort nach der Brust und seine Mutter schob sich das T-Shirt hoch. Gierig saugte der Kleine sich fest und Lin stützte sich auf den Ellenbogen.

    »Hast du noch ein bisschen geschlafen?«

    Lin nickte. »Aber ich fühl mich trotzdem wie ein Zombie.«

    »In drei Monaten kannst du ihn abstillen, dann wird es leichter.«

    »Ich weiß. Ich will mich auch nicht beklagen. Ich wollte ihn ja unbedingt.«

    Teresa legte den Kopf schief. »Du hattest tatsächlich das richtige Gespür, Lin. Ich muss zugeben, ich war nicht allzu begeistert, als ich hörte, dass du wieder schwanger bist. Aber der kleine Racker hat sich so schnell in unsere Herzen gelacht, wir können ja gar nicht anders, als ihn zu vergöttern.«

    »Er ist genauso süß wie Joel!«, platzte Lin hervor und Teresa musste ihr Recht geben. Ole sah seinem Vater so ähnlich, dass er ihn Mini Me nannte. Wenn sie zusammen waren, sah es so aus, als seien sie zusammengewachsen. Sie seufzte. »Ihr habt so ein Glück miteinander. Und ich bin dankbar, daran teilhaben zu dürfen.« Teresa lächelte Lin verschmitzt an. Sie kannte sie, seitdem sie vierzehn war und Joel sie eines Tages angeschleppt hatte. Die junge Frau war wie ihre eigene Tochter. Sie erinnerte sich, dass sich ihr Ältester vom ersten Tag an in sie verknallt hatte. Die beiden hatten alle Widrigkeiten von sich geschoben und sich weitergeliebt, bis zum heutigen Tag.

    Nachdem sie der Symbiose zwischen Mama und Baby eine Weile zugeschaut hatte, stand sie auf. »Bitte lass den Haushalt liegen«, trug sie Lin auf. »Du sollst dich noch schonen.« Sie öffnete das Bullauge und verließ das Zimmer.

    »Okay«, erwiderte Lin halbherzig und fing mit der Hand Teresas Handkuss auf. »Bye.«

    Als die Tür sich schloss, überkam Lin eine innere Ruhe. Sie beobachtete, wie Ole saugte. Seine geschlossenen Augen waren von langen Wimpern umrahmt. Wie ein Stern umfassten seine kleinen Finger ihre Brust. Liebevoll streichelte sie die runden Wängchen und freute sich, dass auch ihr zweites Kind Joels Markenzeichen geerbt hatte. Oles Grübchen waren winzig, aber sie ahnte, wie sie aussehen würden, wenn er heranwuchs.

    Sie streckte den Arm aus und entfaltete den Zettel, den ihr Liebster auf den Teller gelegt hatte. Lachend warf sie den Kopf in den Nacken, als sie las, was er geschrieben hatte.

    Guten Morgen, Zuckerpuppe. Ich liebe es, wenn du schwitzt. Dein Zucker karamellisiert auf deiner Haut.

    JOEL FAND LIN IM FREIEN, SIE LAG MIT OLE AUF IHRER SELBSTGE nähten Picknickdecke unter dem Sonnensegel, das er im hinteren Teil des Gartens aufgespannt hatte. Ole schlief fest an ihrer Seite.

    »Ist das heiß heute!«, beschwerte sich Joel, ließ das Fahrrad fallen und zog sein T-Shirt aus. Dann kickte er seine Chucks ins Gras und beugte sich über seine kleine Familie. »Na? Euch geht’s ja gut!«

    Lin strahlte ihn an.

    »Wo sind denn Ruby und Tim?«

    »Bei meinem Dad. Sie sie haben nur kurz was gegessen, dann haben sie ihre Wasserpistolen eingepackt und sind zum Campingplatz gerannt.«

    Joel legte sich neben sie auf die Decke. »Dann sind wir ja ganz allein.« Er küsste sie und Lin schmolz. Joel war so anziehend wie immer. Ihn in die Uni gehen zu lassen, fiel ihr schwer. Sie konnte sich gut vorstellen, wie seine Kommilitoninnen ihn anhimmelten, wenn er die Vorlesungen besuchte. »Mann, riechst du gut.« Sie schnupperte.

    »Ich hab heute Morgen Rubys Duschgel genommen. Meins war leer.« Intensiv strömte der Kokosduft aus seiner erhitzten Haut. Joel spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. »Teresa glaubt, wir hätten es letzte Nacht gemacht.«

    »Nicht dein Ernst!«, lachte Lin übermütig. »Wär ein klein wenig früh nach dem Baby.«

    »Wir haben uns doch nur ein bisschen gestreichelt. Wenn ich es machen müsste, würde ich glatt auf dir einpennen.«

    »Ich hab dir gesagt, stöhn leiser!«

    Joel drehte sie auf den Rücken und nagelte sie fest. »Das kann ich doch nicht«, flüsterte er. »Außerdem- es hat mir höllisch gefallen.«

    »Denen werden wir es zeigen«, schlug Lin vor, während Joel kitzelnde Küsse auf ihrem Hals verteilte.

    »Wenn wir den Ernstfall proben, rieselt denen der Putz von der Decke«, raunte Joel und Lin kicherte begeistert.

    »Au ja!«

    »Lass uns doch heute Abend die Dusche aufdrehen, wenn Teresa heimkommt. Dann stöhnen wir ein bisschen für sie.«

    »Das hasst sie wirklich! Und wenn sie total sauer reingestürmt kommt, sind wir angezogen.«

    »Wir könnten etwas mit der Duschtür klappern. Rhythmisch. Du weißt schon.« Er hob eine Augenbraue.

    »Du bist so ein ungezogener Junge.« Lin grub ihre

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