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Und ICH bin die Rache
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eBook309 Seiten3 Stunden

Und ICH bin die Rache

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Über dieses E-Book

Vor ein paar Jahren hat Hauptkommissar Thomas Bader einen schwerwiegenden Fehler begangen. Entgegen der Empfehlungen des Polizeipsychologen hat er eine Bank stürmen lassen, in der ein psychisch labiler Bankräuber mehrere Geiseln gefangen hielt. Im folgenden Schussgefecht blieb der Geiselnehmer leider nicht das einzige Opfer. Acht Jahre später hat Bader die schrecklichen Erinnerungen hinter sich gelassen, bis auf dem Polizeirevier ein Mann auftaucht und behauptet, jemanden umgebracht zu haben. Nach eigenen Aussagen kann er sich an nichts erinnern, seine Kleidung ist jedoch blutverschmiert. Bevor Bader begreift, was ihn mit diesem heruntergekommenen Mann verbindet, sieht er sich mit einer tödlichen Schnitzeljagd konfrontiert, bei der nicht weniger als sein Leben und das Leben unschuldiger Menschen auf dem Spiel stehen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Dez. 2013
ISBN9783847620440
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    Buchvorschau

    Und ICH bin die Rache - Kai Kistenbrügger

    Prolog

    „Ich habe gesagt, ihr sollt ruhig liegen bleiben! Liegen bleiben!"

    Seine Stimme hallte unangenehm schrill von den Wänden des kleinen Vorraums wieder, während er wild und ziellos mit seiner Waffe vor den verschreckten Bankkunden hin und her fuchtelte. Doch auch ohne seine Anweisungen hätte es keine der Geiseln gewagt, auch nur einen Ton von sich zu geben, oder sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Der Mann wirkte wie eine tickende Zeitbombe, unberechenbar und unkontrolliert, die bei der kleinsten Bewegung hochzugehen drohte. Er brauchte seine Gefährlichkeit nicht zu betonen; jeder im Raum fürchtete bereits um sein Leben.

    Lea schluchzte leise auf. Christina legte ihr in einer verzweifelten Geste die Hand über den Mund. Sie weinte ebenfalls, als sie das heftige Schluchzen ihrer Tochter zu unterdrücken versuchte. Dabei war Lea nicht das einzige Kind, das leise weinte. Mindestens drei weitere Kinder hatte Christina gesehen, bevor der Mann in die Bank gestürmt gekommen war und den beschaulichen Tag in einen entsetzlichen Alptraum verwandelt hatte. Die anderen Kinder versteckten sich irgendwo außerhalb ihres Sichtfeldes zwischen den Erwachsenen. Christina konnte sie leise jammern hören. In der letzten Reihe erklang das dumpfe, unterdrückte Wimmern eines kleinen Jungen. „Zu laut, dachte sie panisch, „viel zu laut! Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Verrückte auf das laute Weinen der Kinder aufmerksam werden würde. Doch was sollten sie tun? Christina war noch nicht einmal in der Lage, ihre eigene Angst zu verbergen. Wie konnte sie von Lea verlangen, sich nicht vor diesem Mann zu fürchten? Sie verstanden vielleicht noch nicht, warum der Mann die Dinge tat, die er tat, aber trotzdem erkannten auch sie die Gefahr, die von diesem Fremden ausging.

    Dabei wirkte er keinesfalls wie ein erfahrener Bankräuber, der die Situation und seine eigenen Gefühle unter Kontrolle hatte. Ganz im Gegenteil. Der Mann war, deutlich sichtbar für die verängstigten Geiseln, ein körperliches wie seelisches Wrack. Seine Haare standen ihm wild zu Berge, sein Gesicht wurde von einem ungepflegten Dreitagebart gesäumt und sein irritierend buntes Hawaiihemd hing an einer Ecke lose aus der Hose. Niemand hätte dieses nervöse Häufchen Elend ernst genommen, wenn er in diesem Moment keine Pistole in der Hand gehalten und permanent damit gedroht hätte, die Waffe auch zu benutzen. Niemand in der Bank zweifelte daran; dieser Überfall war kein sorgsam geplanter Bankraub, sondern eher eine Kurzschlussreaktion, oder eine Verzweiflungstat, die völlig außer Kontrolle geraten war. Und jederzeit in einem Blutvergießen enden konnte.

    „Ein Mucks und ihr seid alle tot!", kreischte der Bankräuber zum wiederholten Male völlig überdreht, obwohl der Widerstand seiner Geiseln längst erloschen war.

    Als der offensichtlich verzweifelte Mann am späten Nachmittag in den Vorraum gestürzt war, die Waffe drohend erhoben, war das Kreditinstitut gut besucht gewesen. Die junge Angestellte war sofort hinter der kugelsicheren Scheibe in Deckung gegangen, während die fassungslosen Kunden dem Mann schutzlos ausgeliefert blieben. Überrascht von so viel Dreistigkeit hatte der Mann noch versucht, durch den engen Schlitz zwischen Schalter und Scheibe ein paar Euro zu ergattern, hatte aber bereits kurz darauf sein sinnloses Unterfangen aufgeben müssen. Als er frustriert das Weite suchen wollte, fuhren längst die ersten Streifenwagen vor der Filiale vor. Seitdem hatte sich seine Verfassung zusehends verschlechtert. Er würde dem emotionalen Druck nicht mehr lange standhalten können, so viel konnte selbst das ungeschulte Auge feststellen.

    „Geben Sie auf! Die Bank ist umstellt. Kommen Sie mit erhobenen Händen raus!, forderte eine durch ein Megaphon stark verzerrte Stimme vor dem Gebäude, als hätte jemals ein Verbrecher auf diese Aufforderung mit etwas anderem als einer Gegendrohung reagiert. Auf die emotionale Stabilität des Mannes wirkte diese Forderung, als würde die Polizei absichtlich Öl ins Feuer gießen. „Lasst mich in Ruhe!, schrie er durch ein halb geöffnetes Fenster mit sich überschlagender Stimme. „Ich habe Geiseln! Ich werde sie alle umbringen!"

    Durch die zugezogenen Jalousien war kaum zu erkennen, was sich vor dem Bankgebäude abspielte. Lediglich das Licht von ein paar Scheinwerfern drang durch die Ritzen der Vorhänge und tauchte den Vorraum in ein gespenstisches Licht.

    „Scheiße! Scheiße! Scheiße!, nuschelte der Geiselnehmer panisch und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. „Scheiße! Scheiße! Scheiße! Die Waffe in seiner Hand zitterte unkontrolliert. Wenn nicht absichtlich, dann würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit unabsichtlich jemanden erschießen. Alex sah keinen anderen Ausweg mehr, als persönlich einzugreifen.

    „Was tust du?", flüsterte Christina entsetzt, als Alex sich leicht aufrichtete. Sie hielt Lea die Ohren zu. Christinas Augen waren gerötet und ihre Wangen feucht von ihren Tränen.

    „Der Kerl bricht gleich zusammen, presste Alex als Antwort leise zwischen den Zähnen hervor. „Wenn wir nichts unternehmen, wird er noch jemanden von uns erschießen.

    „Nein, bleib hier! Christina nahm die Hand von Leas linkem Ohr und klammerte sich an Alex Arm fest. Ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in seine Haut. „Lass die Polizei das machen. Bitte!, flehte sie verzweifelt. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. „Bitte!"

    „Christina, beschwichtigte Alex und versuchte, trotz der Situation möglichst ruhig und gefasst zu klingen. „Ich weiß, was ich tue. Wir haben keine andere Wahl. Er nickte unauffällig in Richtung ihres Peinigers. „Schau ihn dir doch an!"

    Christinas Blick wanderte kurz zum Bankräuber. Er lief ruhelos vor der geschlossenen Jalousie auf und ab, leise mit sich selbst streitend. Wenn er seinen Verstand nicht schon längst verloren hatte, dann stand er kurz davor.

    „Ich bin vorsichtig, versprochen."

    Christina nickte, auch wenn sie nicht gerade überzeugt wirkte. Sie hatte sichtlich damit zu kämpfen, nicht wieder in Tränen auszubrechen. Alex blinzelte ihr ein letztes Mal aufmunternd zu und stand langsam auf, die Hände in einer defensiven Geste erhoben.

    „Was ist hier los?, keifte der Geiselnehmer nervös und rannte auf Alex zu, als er seine Bewegung bemerkte. Seine Waffe hielt er weit von sich gestreckt, als hätte er selbst Angst davor. „Ich habe gesagt, ihr sollt ruhig sitzen bleiben.

    „Es tut mir leid, erwiderte Alex ruhig. „Meine kleine Tochter müsste mal auf die Toilette. Er versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. Er war nicht sicher, ob es ihm gelang.

    „Nicht jetzt! Sie wird es sich verkneifen müssen."

    Die Pistole schwenkte kurz zu Christina und Lea, dann wieder zurück auf Alex.

    Alex hob die Handflächen in einer defensiven Geste. „Sie ist zwei Jahre alt. Sie versteht nicht, was hier los ist. Ich bitte Sie, Herr… Alex hielt für eine kurze Zeit inne, als würde er überlegen. „Ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen. Ich bin Alex. Er streckte vorsichtig seine Hand nach vorne aus.

    Für einen kurzen Moment starrte der Mann ihn irritiert an. „Heinz", murmelte er nach einer Weile, allerdings ohne die Hand zu schütteln.

    „Heinz, wiederholte Alex zufrieden. „Haben Sie auch Kinder?

    Der Bankräuber namens Heinz war sichtlich aus dem Konzept geraten. Das erste Mal, seitdem er in das Geldinstitut gestürmt war, schien seine Wachsamkeit etwas nachzulassen. Selbst seine Augen, die permanent nervös an der Eingangstür hängen blieben, verweilten eine Zeitlang auf Lea und kamen etwas zur Ruhe.

    „Ja, auch eine Tochter, sagte er irgendwann gedankenverloren. „Sie ist auch blond. Ein kleiner Engel. So wie du. Seine Stimme klang fast zärtlich. Er versuchte, Lea zu streicheln, aber das verschreckte Kind versteckte ihren Kopf unter dem Arm ihrer Mutter.

    „Wo ist Ihre Tochter jetzt?", versuchte Alex erneut, die Aufmerksamkeit des Geiselnehmers auf sich zu lenken.

    „Bei meiner Ex-Frau. Sie hat mich verlassen."

    Es war nicht schwer, den Bankräuber in ein Gespräch zu verwickeln. Er wirkte fast, als wäre er froh, sich ein wenig von seinem emotionalen Ballast von der Seele reden zu können. Alex hatte sich nicht geirrt. Er war kein eiskalter Verbrecher, sondern einfach jemand, der aus abgrundtiefer Verzweiflung heraus gehandelt hatte, oder zumindest fest davon überzeugt zu sein schien, keine andere Wahl gehabt zu haben.

    „Möchten Sie Ihre Tochter weiterhin sehen?"

    Überrascht starrte Heinz Alex in die Augen. „Natürlich! Was soll diese dämliche Frage?", knurrte er.

    „Und warum machen Sie dann so einen Blödsinn? Alex machte eine Geste, die den ganzen Vorraum umfasste. „Sehen Sie sich um. Sehen Sie in die Augen dieser Menschen. Sie alle haben Familie, so wie Sie. Sie alle wollen nach Hause. Aber sie können nicht. So wenig wie Sie.

    „Wieso?, fragte Heinz mit starrem Blick. Er wirkte unglaublich begriffsstutzig. „Was soll das heißen?

    „Was glauben Sie, wird die Polizei mit Ihnen machen? Bewaffneter Raubüberfall? Sie werden für Jahre in den Knast wandern. Wenn Sie entlassen werden, ist Ihre Tochter fast erwachsen."

    „Aber ich tue das doch nur für sie! Damit wir zusammen sein können, verteidigte sich der Bankräuber schwach. Sein Blick ruhte auf Lea, die leise in Christinas Armbeuge weinte. „Ich brauche doch das Geld, damit wir eine Zukunft zusammen haben!

    Alex schüttelte sanft den Kopf.

    „Das Geld wird Ihnen nicht helfen. Im Gefängnis können Sie kein guter Vater für Ihre Tochter sein."

    „Was soll ich also machen?"

    „Ergeben Sie sich, forderte Alex mit sanfter Stimme. „Stellen Sie sich der Polizei und kooperieren Sie. Machen Sie die Sache nicht noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist.

    Die Lider des Bankräubers flatterten leicht, als er Alex Blick unsicher erwiderte.

    „Ich weiß nicht…", überlegte er leise, senkte aber trotzdem langsam seine Waffe.

    Alex schöpfte Hoffnung. „Sehr gut", murmelte er, doch sein flüchtiges Lächeln erstarb im selben Augenblick auf seinen Lippen. Mit einem lauten Knall zerbarst eine der großen Schaufensterscheiben und schickte einen feinen Regen aus Glas in den Eingangsbereich. Mit einem lauten Poltern flog eine Dose in den Raum, die einen dichten Nebel verströmte. Der Nebel brannte in den Augen; Alex konnte den Geiselnehmer kaum noch erkennen.

    „Nein", schrie Alex entsetzt, doch es war zu spät. Er war nicht in der Lage, die Geschehnisse zu verhindern, die unaufhaltsam ihren Lauf nahmen. Durch den dicken Dunst konnte er sehen, wie durch das Loch in der Eingangstür dunkle Gestalten in die Bank stürmten und endgültig das Schicksal der Anwesenden besiegelten.

    5:15 Uhr

    Der Mann, der langsam die steinernen Treppenstufen hoch schlurfte, hatte beinahe nichts Menschliches mehr an sich. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, umrahmt von einem eingefallenen, gräulichen Gesicht. Dunkle Stoppeln auf seinen Wangen deuteten darauf hin, dass er bereits seit Tagen mehrere Rasuren ausgelassen hatte. Seine Haare waren dünn und ungepflegt und glänzten im fahlen Licht des beginnenden Tages leicht fettig. Er schien kaum noch die Kraft zu besitzen, seine Füße zu heben. Mit jedem Schritt scharrten seine Gummisohlen über die Steine der Stufen. Dennoch trieb ihn irgendeine innere, unbarmherzige Kraft voran; Schritt für Schritt auf das Gebäude zu, das am Ende der Stufen auf ihn wartete.

    Seine Kleidung, die mit Sicherheit vor einiger Zeit eine nicht unerhebliche Stange Geld gekostet hatte, hing ungepflegt an seinem ausgemergelten Körper. Der ehemals blaue Anzug war zu einem schmutzigen Ton verblichen und das fleckige, nur noch bedingt weiße Hemd hing über seiner Hose.

    Kaum jemand beachtete den heruntergekommen Mann. Es war noch zu früh am Morgen. Nur die Sonne wagte sich mit der ihr eigenen Gemächlichkeit langsam über den Horizont hervor; die meisten Menschen hingegen hatten sich noch nicht auf die Straße getraut. Die wenigen Passanten, die bereits auf dem Weg zu ihrer Arbeit waren und dem Mann einen flüchtigen Blick schenkten, schauten sofort wieder weg. Er war ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig, befanden sie mit einer Arroganz, die nur Menschen aufbringen konnten, die kein Mitleid für die Nöte und Sorgen ihrer Mitbürger empfanden. Sie hatten alle mit ihren eigenen, kleinlichen Allerweltsproblemen zu kämpfen. In ihrem engstirnigen Denken war kein Platz für Empathie.

    Sie wären vielleicht nicht so leichtfertig an ihm vorübergegangen, wenn sie ihm einen etwas längeren Blick geschenkt hätten. Dann wäre ihnen aufgefallen, dass er, nur halb vom Ärmel seines ausgeleierten Jacketts verdeckt, eine Pistole in der Hand trug. Und die rot-braunen Flecken, die seine Kleidung verunzierten, wiesen eine frappierende Ähnlichkeit mit geronnenem Blut auf.

    Und so erreichte er unbehelligt den Haupteingang des Gebäudes. Auch die Polizeistation dämmerte noch in ihrer frühmorgendlichen Tatenlosigkeit dahin, lange bevor wie an jedem anderen Tag die alltägliche Hektik die Menschen völlig vereinnahmte und ihnen kaum noch Zeit zum Atmen lassen würde.

    Doch an diesem Morgen war es mit der Ankunft des Unbekannten früh mit der beschaulichen Ruhe vorbei. Der Mann hatte gerade die große Eingangstür aufgestoßen, als er in das Blickfeld einer Putzfrau geriet, die oberflächlich eine der Besucherbänke abstaubte, um nicht allzu unbeschäftigt auszusehen. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen war sie froh über ein bisschen Ablenkung und musterte den Neuankömmling neugierig. Doch was sie sah, gefiel ihr gar nicht. Sie fing an zu schreien, schrill und durchdringend, in einer Lautstärke, die den wachhabenden Polizisten hinter der Glasscheibe hochschrecken ließ. Sein heißer, dampfender Kaffee ergoss sich über seine blaue Diensthose.

    „Verflucht!", schrie er auf. Doch als er wütend nach dem Grund für die unerwünschte Störung suchte, vergaß er schlagartig den Schmerz unter dem dünnen Stoff seiner Unterhose. Der Mann stand inmitten des Eingangsbereichs, als wäre er zur Salzsäule erstarrt. Die Waffe baumelte in seiner rechten Hand.

    Der Polizist reagierte sofort. Er zog seine Dienstpistole und stürmte hinter seinem Empfangsschalter hervor. „Lassen Sie Ihre Waffe fallen!, forderte er, während er sich Schritt für Schritt der unbekannten Bedrohung näherte, seine Pistole direkt auf den Kopf des Fremden gerichtet. Seine Stimme zitterte leicht. Er war noch jung und hatte bisher noch keine brenzligen Situationen meistern müssen. Vor allem nicht alleine. „Legen Sie Ihre Waffe auf den Boden! Vorsichtig!, brüllte er erneut, als der Mann nicht reagierte. „Sofort!"

    Unendlich langsam drehte der Mann seinen Kopf und starrte den jungen Polizisten unbeteiligt an. Sein Blick war merkwürdig leer, als würde er gar nicht den Polizisten, sondern durch ihn hindurch die Putzfrau anstarren, die sich ängstlich zitternd hinter die Holzbank geflüchtet hatte.

    „Ich werde es kein zweites Mal sagen!, schrie der Polizist, inzwischen mit leichter Panik in der Stimme. „Legen Sie Ihre Pistole weg, oder ich werde von der Schusswaffe Gebrauch machen.

    „Waffe?", formten die Lippen des Fremden lautlos. Er starrte auf seine Hand, als würde sie nicht zu ihm gehören. Er ließ die Waffe fallen, indem er einfach die Hand öffnete. Die Pistole fiel mit einem lauten Klappern zu Boden und blieb zwei Schritte vor dem Fremden auf dem Linoleumboden liegen.

    „Ich…", stammelte er und blickte sich um, mit ruckartigen Bewegungen, als würde er überhaupt das erste Mal, seitdem er die Polizeiwache betreten hatte, seine Umgebung bewusst wahrnehmen. Seine Stimme klang heiser und trocken, wie ein betagtes Lied aus altersschwachen Lautsprechern. Es klang, als hätte er sie seit Tagen nicht mehr benutzt.

    Seine rastlos umherschweifenden Augen blieben am Polizisten hängen. Tiefer Schmerz hatte sich in sein Gesicht gegraben.

    „Ich…, versuchte er es erneut. Dieses Mal wirkte seine Stimme fester, auch wenn ein lautes Schluchzen jedes Wort begleitete. „Ich glaube, ich habe jemanden umgebracht. Er sackte auf die Knie, ließ sich zur Seite fallen und hörte auf, sich zu bewegen, zusammengerollt wie ein Fötus in Embryonalhaltung. Selbst als der junge Polizist ihn brutal auf den Bauch drehte und ihm Handschellen anlegte, leistete er keinen Widerstand. Lediglich seine Lippen pfiffen leise eine merkwürdige Melodie.

    7:31 Uhr

    Hauptkommissar Thomas Bader starrte sichtlich angewidert durch die trübe Scheibe auf den Mann, der zusammengesackt inmitten des Raumes an einem Tisch saß. Er zeigte keinerlei Lebenszeichen. Seine Augen blickten starr auf die Tischplatte, die Arme hingen schlaff an seiner Seite.

    „Wer ist der Kerl?, blaffte Bader und nahm einen langen Schluck von der schwarzen Brühe, die seine Kollegen für Kaffee hielten. „Ist der Typ gefährlich?

    Er hasste es, so früh nicht im Bett liegen zu können und vor allem hasste er es, sich mit solchen Verrückten herumzuschlagen, die bevorzugt kurz vor Dienstschluss auf die Idee kamen, Ärger zu machen.

    „Keine Ahnung. Heinrich Petersen zuckte mit den Schultern. Der alte Oberkommissar wirkte ratlos. „Seit seiner Verhaftung hat er nichts mehr gesagt. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob er uns überhaupt wahrnimmt. Er zeigte durch das Fensterglas in den Konferenzraum. Der Fremde hätte die beiden Polizisten zwar sehen können, aber er schenkte ihnen ebenso wenig Beachtung wie allen bisherigen Versuchen, mit ihm zu sprechen. „So sitzt er bereits seit Stunden, ohne sich zu bewegen. Vielleicht ist er tot, schlug Petersen in dem schwachen Versuch vor, etwas Humor aufzubringen. „Oder verrückt. Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe und ließ ein breites Grinsen aufleuchten, doch als Bader darauf nicht reagierte, nahm er sichtlich verstimmt wieder seinen Faden auf: „Kommt wahrscheinlich aus der Klapse, der Kerl. Wir warten noch auf Rückmeldung. Vielleicht ist der Anstalt einer von ihren Irren verloren gegangen."

    Skeptisch zog Bader seine linke Augenbraue hoch. „Ich weiß nicht…, murmelte er, „…der Anzug sieht ziemlich teuer aus, auch wenn er dreckig ist. Ich glaube nicht, dass die Leute in der Irrenanstalt so herumlaufen.

    Er platzierte seine Kaffeetasse unauffällig auf den Tisch neben sich. Weder hatte er vor, einen weiteren Schluck von dem Gesöff zu trinken, noch die Tasse ordnungsgemäß in der Küche zu entsorgen. Sein Magen rebellierte jetzt schon und grummelte unwillig wie ein herannahendes Gewitter. Noch nicht einmal Zeit zum Frühstücken hatten sie ihm gelassen. Missmutig rieb er seinen Bauch. Mit jeder Minute sank seine Stimmung auf einen neuen Tiefpunkt. Er hatte Nachtschicht geschoben und war soeben von einem Einsatz zurückgekehrt. Eigentlich hätte er schon längst auf dem Weg zu seiner Familie sein müssen, zu seiner Frau Claudia und den Zwillingen. Aber seine beiden Engel waren wahrscheinlich bereits auf dem Weg zur Schule; selbst wenn er jetzt nach Hause könnte, würde er sie vermutlich nicht mehr erwischen. Verdammt. Er sollte Claudia anrufen, aber auch sie steckte wahrscheinlich bereits in einem Berg Arbeit fest.

    Er seufzte. Ohne einen Kuss von seiner Frau und einer Umarmung von seinen beiden kleinen Mädchen waren die Weichen bereits früh für einen Tag gestellt, der einfach nicht mehr zu retten war. Müde musterte Thomas Bader seinen Kollegen, der gelangweilt Dreck unter seinen Fingernägeln hervor kratzte. Obwohl Heinrich Petersen nur ein paar Jahre älter war als er, hätten die beiden Männer nicht unterschiedlicher sein können. Bader mit seinen 44 Jahren sah mindestens 10 Jahre jünger aus, mit seiner sportlichen Figur und seinen schwarzen Haaren, auch wenn sich inzwischen ein paar graue Strähnen in seiner Mähne finden ließen. Petersen hingegen schob bereits seit Jahren eine mächtige Wampe vor sich her. Auf seiner spiegelnden Glatze bildete sich bereits bei kleinsten Anstrengungen Schweiß. Meistens sah er aus, als würde er gerade aus einem Regenschauer kommen. Das war allerdings auch kein Wunder; bevorzugt ernährte er sich von Currywurst, Pommes und Bier und zeigte auch keinerlei Ambitionen, sich in irgendeiner Form sportlich zu bewegen. Auch bei der Polizeiarbeit hatte er nie sonderlich viel Elan an den Tag gelegt. Seine Karriere war mittlerweile weitestgehend zum Erliegen gekommen; er arbeitete getreu dem Motto, so viel wie nötig, so wenig wie möglich.

    „Was machen wir jetzt mit ihm?", wollte Petersen wissen. Er schwitzte bereits wieder leicht, dabei war es im klimatisierten Polizeigebäude eigentlich zu kühl, zumindest für Baders Geschmack.

    „Was fragst du mich?", grummelte Bader unfreundlicher als beabsichtigt. Der Hunger machte ihm wirklich zu schaffen. Suchend durchkämmten seine Augen das Großraumbüro, auf der Suche nach etwas Essbarem.

    „Was wissen wir denn überhaupt?", fragte er nach einer Weile, während er mit den Augen eine halb gegessene Pizza fixierte, die irgendwer auf seinem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Wie alt mochte die Pizza wohl sein? Einen Tag? Zwei Tage?

    „Nicht viel", unterbrach Petersen Baders inneren Kampf zwischen den Alternativen, zu verhungern, oder wegen einer akuten Lebensmittelvergiftung dahinzuscheiden. Petersen schlurfte bedächtig zu seinem Schreibtisch und Bader folgte ihm brummelnd. Nur äußerst ungern gab er den Gedanken an die Pizza auf.

    „Er hatte keinen Personalausweis bei sich. Noch nicht einmal eine Geldbörse. Eine Waffe, allerdings ohne Munition, ein paar Kaugummis und das hier."

    Er reichte Bader eine etwas größere, durchsichtige Plastiktüte.

    „Was ist das?", meckerte er, als er die Gegenstände durch die Tüte vorsichtig betastete.

    „Eine Videokassette", unkte Petersen und grinste wieder. „So etwas hat man vor einiger Zeit benutzt, um Ton- und Bildaufzeichnungen bei Bedarf auf einem Fernsehbildschirm abspielen zu können. Damals eine tolle

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