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Tattoo
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eBook300 Seiten3 Stunden

Tattoo

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Über dieses E-Book

Das Leben meint es gut mit Lars Benthien. Er ist glücklich verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Eines Tages entdeckt Lars auf seinem Arm eine Tätowierung, die er sich nie stechen ließ. Er kann sich das nicht erklären. Erst als die Tätowierung sich zu verändern beginnt, begreift er, dass das Leben seiner Familie auf dem Spiel steht.
Um das Schlimmste zu verhindern, muss Lars sich den dunklen Schatten seiner Vergangenheit stellen. Ihm bleibt nicht viel Zeit ... .
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Apr. 2015
ISBN9783738025811
Tattoo
Autor

Andreas Richter

Andreas Richter wurde 1966 in Hamburg geboren. Heute lebt und arbeitet er als freier Autor und Texter in Ahrensburg vor den Toren Hamburgs.

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    Buchvorschau

    Tattoo - Andreas Richter

    1.

    Andreas Richter

    Tattoo

    Mystery-Thriller

    Copyright © Andreas Richter, Ahrensburg. Erstveröffentlichung 2014.

    Alle Rechte liegen beim Autor. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.

    Cover: edition.noack, Hemmoor

    Über den Autor:

    Andreas Richter wurde 1966 in Hamburg geboren. Er lebt und arbeitet als Autor und Texter in Ahrensburg bei Hamburg.

    Informationen zu Richters weiteren Romanen finden Sie am Ende dieses Buches.

    www.andreasrichter.info

    Alle Personen, Orte und Begebenheiten dieser Geschichte könnten frei erfunden sein – doch wer weiß das schon mit Sicherheit.

    Tattoo ist A., T. und L. gewidmet.

    Der Mann mit dem kurzen blonden Haar schrie auf. Er stolperte einen Schritt rückwärts und schlug die Hände vor das Gesicht.

    »Oh Gott!«, stieß er hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Frau vor seinen Füßen. »Ist sie tot? Mein Gott, sie rührt sich nicht. Nein, bitte nicht! «

    »Vielleicht ist sie bloß bewusstlos«, murmelte der andere Mann, ohne selbst daran zu glauben. Er trug eine schwarze Lederjacke. Unter dem Baseball-Cap fielen dunkle Locken auf seine Schultern.

    »Meinst du wirklich? Nur bewusstlos?« In der Stimme des Blonden klang leise Hoffnung durch.

    Der Lockenkopf hockte sich neben die Frau. Er bemerkte, dass er am ganzen Körper zitterte. Einen Moment lang zauderte er, dann gab er sich einen Ruck und beugte den Kopf tief über ihr Gesicht.

    »Und?«, fragte der Blonde mit dünner Stimme.

    »Scheiße, Mann. Ich glaube, sie atmet nicht mehr.«

    »Was? Puls, hat sie Puls?«

    Der Lockenkopf legte die Fingerspitzen seiner Hände an ihren Hals, dort, wo er die Schlagader vermutete.

    »Spürst du was?«, fragte der Blonde bangend. »Ist da was?«

    »Nein, Mann. Aber ich weiß nicht, ob es die richtige Stelle ist. Ich kenn' mich damit nicht aus, bin ja kein Arzt.«

    »Fühl' mal, ob ihr Herz noch schlägt!«

    »Mann, sie hat eine dicke Jacke an und darunter garantiert auch noch was. Wie soll ich denn da ihren Herzschlag spüren? Etwa ihre Titten fühlen, oder was?«

    »Vergiss' ihre Titten und schieb' deine Hand unter ihre Klamotten. Nun mach schon!«

    Der Lockenkopf kniff den Mund zusammen. Er war im Begriff, den Blonden anzufahren, er solle es gefälligst selbst erledigen, doch ein dämlicher Streit zwischen ihnen machte das Ganze nicht einfacher – im Gegenteil. Außerdem hatte der andere Recht, sie mussten sicherstellen, was mit ihr war. Es nützte nichts. Er holte Luft, zog den Reißverschlug ihrer Steppjacke auf, schob die Hand unter ihren Pullover und zog das T-Shirt aus der Hose. Dann schob er die Hand auf ihrer Haut nach oben, bis er gegen den Bügel ihres BHs stieß. Er legte die Hand zwischen ihre Brüste und konzentrierte sich einen Moment lang auf seine Handfläche.

    »Nichts«, murmelte er schließlich. »Ich denke, das war's mit ihr.« Er seufzte und zog die Hand zurück. »Verfluchte Scheiße!«

    »Gott, bitte lass' es nicht zu«, wimmerte der Blonde.

    Der Lockenkopf erhob sich. Er kaute an seinen Fingern und dachte angestrengt nach.

    »Was haben wir bloß gemacht?« Der Blonde begann zu schluchzen. »Das hätte nie passieren dürfen, Nein, nie!«

    Der Lockenkopf sah ihn an. »Nein, das hätte es nicht. Aber es ist nun mal passiert und wir können es nicht mehr ändern. Wir müssen jetzt einen klaren Kopf behalten, verstehst du? Das Wichtigste ist, dass wir die Sache unter Kontrolle behalten. Wir müssen das hier in den Griff bekommen.«

    »In den Griff bekommen? Was redest du denn da?« Der Blonde wischte sich über die Augen. »Sie ist tot wegen … uns. Da gibt es nichts mehr in den Griff zu bekommen. Wir sind voll am Arsch, verdammt!«

    Der Lockenkopf blickte zum Himmel. Der fast volle Mond schimmerte durch die löcherige Wolkenwand, doch sein Licht reichte nicht aus. Um mehr zu erkennen, mussten sie die Tote in das direkte Licht ziehen.

    Der Lockenkopf war im Begriff, sie an den Unterschenkeln zu packen, als er abrupt innehielt. Vor seinem geistigen Auge hielt er in jeder Hand eines ihrer Beine, und vor ihm lag nur noch ein Oberkörper mit Armen und einem Kopf, aus dem ihn zwei blutende Augen ansahen und ihn zu fragen schienen, weshalb denn bloß er ihr die Beine wegnahm.

    Er atmete durch, packte die Tote und zog sie in das Licht. Ihr Hinterkopf hinterließ eine Blutspur. Es fehlte nicht viel und der Lockenkopf hätte sich erbrochen. Behutsam legte er ihre Beine ab. Er warf dem Blonden einen Blick zu, sah, dass dieser das Gesicht in den Händen vergraben hatte und nicht hinschauen mochte. Dann wandte er sich wieder der Toten zu. Einen Moment lang betrachtete er sie mit einem flauen Gefühl im Magen, dann schüttelte er den Kopf – denn was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht.

    Sie war vermutlich sechszehn oder siebzehn Jahre alt. Fast noch ein Kind. Die vollen Lippen waren leicht gespitzt, ganz so, als setzte sie zu einem sanften Kuss an. Die langen Haare waren zu einem Zopf gebunden. In beiden Ohrläppchen steckten kleine Goldringe.

    »Verflucht, Mädchen«, murmelte der Lockenkopf. »Was in aller Teufels Namen hattest du ausgerechnet hier verloren? Du hättest überall auf der Welt sein können, wieso musste es unbedingt hier sein?«

    Er tastete die Taschen ihrer engsitzenden Jeans ab, doch darin steckte nichts. Anschließend zog er die Reißverschlüsse der äußeren Taschen ihrer Jacke auf und griff hinein. Aus einer Tasche zog er ein angebrochenes Päckchen Kaugummi war, und schob es zurück. Aus der anderen Tasche fischte er einen Schlüsselbund heraus.

    »Drei Schlüssel«, sagte er vor sich hin. »Alle stabil, vermutlich für Eingangstüren. Als Anhänger ein kleines Hufeisen. Das sollte ihr wohl Glück bringen, hat es aber leider nicht.« Er seufzte leicht. »Tut mir echt leid, Mädchen.«

    Er ließ den Schlüsselbund in der Brusttasche seiner Lederjacke verschwinden. Dann tastete er ihre Jacke nach Innentaschen ab, doch es gab keine. Schließlich zog er den Reißverschluss der Jacke wieder zu und dachte im gleichen Moment bei sich, dass es völlig unnütz sei, da das Mädchen sich ohnehin keine Er-kältung mehr holen würde.

    »Nichts«, sagte er dann. »Kein Ausweis, keine Monatskarte für den Verkehrsverbund oder etwas anderes mit ihrem Namen. Sie hat nicht mal ein Portemonnaie dabei.«

    »Also wissen wir nichts über sie?«

    »Nicht das Geringste.«

    Einen schweren Moment lang schwiegen beide, dann sagte der Blonde: »Wir müssen zur Polizei gehen und die Sache melden.«

    Der Lockenkopf erhob sich langsam. Er baute sich vor dem Blonden auf und sagte. »Nein, das werden wir nicht tun. Wir werden gar nichts melden. Weder jetzt, noch später.«

    Der Blonde sah ihn erstaunt an. »Wie meinst du das?«

    »Genauso, wie ich es gesagt habe. Wir werden nicht zu den Bullen gehen. Was hier geschehen ist, darf und wird niemand jemals erfahren.«

    »Was redest du denn da? Scheiße, da liegt ein totes Mädchen. Und sie ist verdammt noch mal tot wegen ... uns. Selbst-verständlich gehen wir zur Polizei.«

    Der Lockenkopf trat dicht an den Blonden heran und zischte: »Jetzt hör' mal genau zu: Für das, was geschehen ist, gibt es keine Entschuldigung. Keine! Nicht ein einziges Gericht in diesem Land wird Nachsicht mit uns haben. Für diese Sache wandern wir direkt in den Bau. Und glaub' bloß nicht, dass es nach den Jahren im Knast vorbei sein wird, von wegen zweite Chance und so. Meinst du ernsthaft, dass es anschließend niemanden mehr interessiert, was wir getan haben? Wie willst du später die Jahre im Knast erklären, Mann? Klar, du kannst sagen, dass du einige Jahre lang hinter Gittern verbracht hast, weil ein Mädchen starb, das zur falschen Zeit deinen Weg gekreuzt hat. Du kannst sagen: Was soll's, Dinge wie diese passieren ständig, weil es einfach zu viele Menschen auf der Erde gibt, für die der große Maestro dort oben im Himmel nun mal keine wirkliche Verwendung hat. Tja, er hatte das Mädchen wohl nicht auf dem Zettel.«

    Der Blonde schluckte. »Wir wollten sie nicht töten. Es war doch keine Absicht gewesen.«

    »Nein, das war es nicht, aber es ändert nichts daran, dass sie tot ist. Hör' zu Mann, wir dürfen uns wegen dieser Sache nicht alles verbauen – und genau das wird geschehen, wenn jemand von der Sache erfährt. Dann können wir einpacken, Mann – und zwar für ewig.«

    Der Blonde knetete seine Hände. Am liebsten wäre er fortgelaufen, so schnell und so weit weg wie er konnte. Das hier war schlimmer als alles, was er sich hatte vorstellen können. Es war das Grauen.

    »Diese Sache hier ist etwas anderes als wegen Betrugs oder Vandalismus einzusitzen«, sagte der Lockenkopf mit fester Stimme. »Weißt du, wo wir in der Knasthackordnung stehen werden, wir, die Mädchenmörder? Ganz unten, Mann. Ich schwöre dir, dass deine Fantasie nicht ausreicht, um dir vor-zustellen, was die anderen Knackis mit dir anstellen. Während sie dir Besenstiele in das Arschloch rammen und dich einen Schwanz nach dem nächsten lutschen lassen, werden die Wärter grinsend weggucken, weil viele von denen nämlich auch Töchter haben und dich allein schon deshalb hassen, weil es ihre Tochter hätte sein können. Und wenn du eines Tages aus dem Bau entlassen wirst, dann wirst du ein dauerarschgeficktes Wrack sein, das ungezählte Male hatte Dinge über sich ergehen lassen müssen, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Willst du das wirklich alles ertragen, Mann, wirst du das aushalten können?«

    Der Blonde schloss die Augen. Nie zuvor hatte er sich schlechter gefühlt als in diesem Moment. Alles war falsch. Egal wie es weiterging – es ging nur noch ums Verlieren.

    »Aber ich will nicht fortlaufen und mich ständig verstecken müssen«, wimmerte er.

    »Das will ich auch nicht, Mann. Scheiße, im Leben nicht! Und deshalb sage ich dir jetzt, was wir machen: Wir werden uns nicht verstecken, sondern ganz normal weiterleben. Alles bleibt wie es ist, nichts ändert sich.«

    Der Blonde sah verwundert auf. »Was sagst du da? Wie soll das denn funktionieren?«

    »Ganz einfach: Das hier ist nicht geschehen.«

    Der Blonde schluckte. »Wie meinst du das?«

    Der Lockenkopf sagte mit fester Stimme: »Wir streichen die vergangenen zehn Minuten. Es hat sie nie gegeben. Wir waren heute Nacht nicht hier, und das Mädchen ist heute Nacht nicht gestorben.«

    Der Blonde bekam kein Wort heraus. Er starrte den Lockenkopf einfach nur an.

    »Hör' zu, Mann: Das Wichtigste ist, dass niemand erfährt, was hier geschehen ist. Klar? Schnauzehalten ist das oberste Gebot.«

    »Was ist … mit ihr?« Die Stimme des Blonden war kurz vor dem Versagen. Er ahnte die Antwort bereits. Ihm brach der Schweiß am ganzen Körper aus.

    Der Lockenkopf holte tief Luft und sagte: »Es gibt nur eine Formel, die unsere Ärsche rettet, und die lautet: Keine Leiche plus keine Anklage gleich kein Knast.«

    Der Blonde verstand. Seine Gesichtsmuskeln zuckten.

    »Es ist die einzige Möglichkeit, Mann. Uns bleibt keine andere Wahl.«

    »Das können wir nicht machen, auf gar keinen Fall.« Der Blonde schüttelte hektisch den Kopf und kämpfte mit einer Welle Übelkeit.

    »Nein, das geht nicht!«

    »Wir müssen es machen. Oder hast du etwa einen besseren Vorschlag?«

    Der Blonde war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Wie stellst du dir das denn vor? Das geht nie gut. Wenn ein Mädchen verschwindet, wird alles in Bewegung gesetzt, um es zu finden. Die Polizei verfolgt die kleinsten Spuren, die graben Landstriche um und pumpen ganze Teiche leer. Die hören nicht auf zu suchen, bis sie das Mädchen gefunden haben, und selbst wenn fast die ganze Welt die Sache längst vergessen hat, suchen und jagen sie weiter, die lassen nicht locker. Alter, wenn wir jetzt noch mehr Scheiß bauen, wird alles nur noch schlimmer. Komm, lass' uns vernünftig sein. Wir gehen zur Polizei und erzählen denen die Geschichte. Wir müssen die Verantwortung übernehmen. Wir können uns nicht drücken, das geht nicht.«

    Der Lockenkopf holte tief Luft und sagte: »Hör' zu, Mann: Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass das Mädchen aufsteht, sich an nichts erinnert und uns fragend ansieht und einfach davongeht. Doch das wird sie leider nicht. Weil sie nämlich tot ist. Und daher spielt es für sie nicht mehr die geringste Rolle, was mit dir und mir passiert. Aber für dich und mich, für uns spielt es sehr wohl eine Rolle, wie es mit uns weitergeht. Ja, Scheiße, wir haben sie getötet. Das ist nicht zu verzeihen, aber sollen wir den Rest unseres Lebens dafür zahlen? Für immer geächtet sein?«

    Der Blonde starrte in die Dunkelheit.

    Der Lockenkopf sagte mit betont ruhiger Stimme: »Hör' zu, Mann, ich sag' dir, was wir machen: Wir werden das Mädchen erst mal verstecken. Gleich hier. Dann gehen wir nach Hause und kommen ein wenig zur Ruhe, fahren uns runter und schlafen ein paar Stunden. Okay? Wenn es hell ist, kehre ich zurück und kümmere mich um sie. Du brauchst nicht dabei zu sein, ich mach' das schon. Klingt das soweit okay für dich?«

    »Alleine?«, fragte der Blonde und sah den Lockenkopf staunend an. »Warum du alleine?«

    »Weil wir auf Nummer sicher gehen müssen. Wenn nur einer von uns beiden hier ist, werden weniger Spuren hinterlassen. Und sollte plötzlich jemand auftauchen, kann einer sich schneller und besser verstecken als zwei. Das ist der Grund.«

    Der Blonde glaubte ihm nicht, doch es war ihm lieber, diese durchschaubare Lüge zu hören als die Wahrheit, dass der Lockenkopf ihm nicht viel zutraute.

    »Was wirst du mit ihr ... machen?«, fragte er.

    »Das weiß ich noch nicht. Ehrlich nicht. Es ist jetzt auch nicht wichtig, Mann. Entscheidend ist, dass das Mädchen niemals gefunden wird.«

    Der Blonde betrachtete die Tote. »Gott, wir machen einen Riesenfehler«, sagte er leise. »Das klappt nicht, am Ende wird es für uns nur noch schlimmer enden.«

    Der Lockenkopf legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich verspreche dir, dass alles gut gehen wird. Ehrlich, Mann. Wichtig ist, dass wir beide dichthalten. Für immer. Also, ich werde gegenüber keiner Menschenseele auch nur ein einziges Wort über diese Nacht verlieren, darauf kannst du dich verlassen. Und was ist mit dir? Schweigst du auch eisern? Kann ich mich auf dich verlassen, mein Freund?«

    Ich bin nicht dein Freund, dachte der Blonde wie betäubt, und nach dieser gottverdammten Horrornacht werde ich es auch niemals sein.

    »Kannst dich auf mich verlassen«, sagte er leise und senkte den Blick. »Zu niemandem ein Wort, niemals.«

    Der Lockenkopf nickte kaum merklich und reichte dem Blonden die Hand, um die Abmachung zu besiegeln.

    Der Blonde schlug ein.

    Und spürte in seinem Innersten, dass er einen unverzeihlichen Fehler beging.

    2.

    Er blickte in den Spiegel und hörte das Lachen. Dieses zynische, spöttische Lachen. Es kam von allen Seiten und drückte wie gewaltige Wassermassen.

    Damals, nachdem er endlich begriffen hatte, was vor sich ging, hatte er es zum ersten Mal gehört. Das lag bereits einige Zeit zurück, aber längst nicht lange genug, um sich nicht daran zu erinnern, dass das Lachen damals genauso geklungen hatte, wie es heute klang. So klirrend kalt und so unumstößlich endgültig.

    Sie betrat das Badezimmer und blieb hinter ihm stehen. Sie betrachtete ihn im Spiegel und las die Wut und Resignation in seinen Augen, sah diesen traurigen Ausdruck, den sie nur zu gut kannte.

    »Wie geht es dir?«, fragte sie.

    »Fantastisch«, knurrte er.

    Sie nahm ihm die Haarbürste ab und legte sie zurück in den Korb aus geflochtenen Wasserhyazinthen, in dem seine wenigen Pflegeutensilien lagen.

    Er betrachtete seine Finger und murmelte: »Schau' nur, wie vertrocknete Zweige, sie sehen so aus wie abgestorbene Holz-zweige. Bin ich etwa ein Scheißbaum?«

    Während sie mit schnellen Griffen ihren Pferdeschwanz richtete, betrachtete sie ihr Spiegelbild und stellte einmal mehr fest, dass sie entsetzlich müde aussah. Es verwunderte sie nicht im Geringsten. Sie hatte einen leichten Schlaf und hörte es jede Nacht, wenn er sich laut stöhnend im Bett umdrehte, vor sich hin murmelte oder in die verschließbare Urinflasche pinkelte, die sie im Sanitätshaus gekauft hatte, damit er Nachts nicht aufstehen musste. Was sie allerdings seit längerem nicht mehr gehört hatte, war Schluchzen. Er weinte nicht mehr. Und ihr war klar, weshalb: Er hatte akzeptiert, was geschah und nahm es hin als etwas, das er nicht verhindern konnte.

    Das niemand verhindern konnte.

    »Ich bin froh, dass wir gestern Abend alles besprochen haben«, sagte er plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken heraus. »Es wird nicht einfach für dich werden, Engel, aber ich erwarte, dass du dich an unsere Absprache hältst. Denn ab dann geht es nur noch um dich und nicht mehr um mich. Ich möchte nicht wissen, was los ist, wenn du dich nicht an die Absprache hältst und die Prozedur ihren üblichen Lauf nimmt.«

    Sie verspürte ein Ziehen im Magen. Es stimmte, es wäre kaum auszudenken. Doch die Vorstellung von dem, was sie zugesagt hatte, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie hoffte, dass ihr bis dahin noch eine Menge Zeit blieb – und gleichzeitig wünschte sie sich, dass es möglichst bald soweit sein würde. Dass der Tag rasch kommen würde.

    »Wir machen es wie besprochen«, sagte sie und lächelte gequält.

    »Gut, so ist es gut. Engel. Weißt du, auch wenn es kitschig klingt, aber ich hätte mir nie vorstellen können, jemals einem Menschen so dankbar zu sein wie dir. Ich könnte das, was du für mich tust, für niemanden tun. Nicht mal für dich. Ist das nicht eine schlimme Aussage, die ich da mache? Du leistest Unmenschliches für mich und musst dir anhören, dass ich dasselbe für dich nicht tun würde.«

    »Das stimmt nicht, du würdest an meiner Stelle ebenso handeln.«

    »Ach ja? Nun, zu deinem Glück werden wir es nie herausfinden.«

    Sie wandte sich ab und sagte: »Ich werde mal losgehen und die Einkäufe erledigen.«

    »Ach ja, deine tägliche Auszeit. Jeden Tag zwischen neun und zehn Uhr für ziemlich genau zwei Stunden, auch am Sonntag. Raus hier und durchatmen. Ja, das kann ich verstehen, Engel, ich verstehe es wirklich.«

    Sie half ihm vom Schemel hoch.

    »Es ist nicht schlechter geworden in den vergangenen Wochen«, sagte er und drückte gequält den Rücken durch. »Wäre ich ein beschissener Arzt, würde ich wohl gleichbleibend sagen, sozusagen stabil. Eigentlich sollte ich darüber froh sein, weil gleichbleibend im Grunde ein gutes Zeichen ist, aber ich bin nicht froh darüber, und mein Engel ist es auch nicht. Ist doch so, Engel, oder? Seien wir ehrlich: Es ist für dich nicht gut, dass es gleichbleibend ist.«

    Mit kleinen Schritten verließ er das Badezimmer. Sie sah ihm hinterher. Es war schlichtweg unfassbar, was mit ihm geschah. Sie hatte etliche Male versucht, etwas darüber herauszufinden. Erst vor wenigen Tagen hatte sie einmal mehr stundenlang am Computer der öffentlichen Stadtbücherei gesessen und die größte Suchmaschine des Internets mit allen für sie infrage kommenden Stichworten gefüttert. Doch sie hatte dazu nichts gefunden, nicht einen einzigen Eintrag. So wie es aussah, war er ein Einzelfall, mit ihm geschah etwas Einmaliges.

    Sie verließ das Badezimmer und folgte ihm über den schmalen Flur in das karge Wohnzimmer. Mit einem leisen Stöhnen setzte er sich in seinen angestammten Drehsessel.

    Sie fragte: »Was möchtest du heute Mittag essen?«

    Er überlegte kurz und sagte dann: »Nudeln, scharf wie ein anständiger Fick. Pasta arabiatta ficki, Engel.«

    Sie hob genervt die Augenbraue.

    Er sagte: »Sorry, sollte bloß ein Witz sein. Das mit dem Ficken ist natürlich reines Wunschdenken, ich schaffe es ja nicht mal mehr, mir einen runter zu holen. Ich kann an meinem Schwanz spielen, so viel ich will, da regt sich nichts. Das Ding ist bloß noch zum Pissen da.«

    Sie verdreht die Augen. »Gut, und was willst du nun zum Mittagessen?«

    »Nudeln mit Käsesauce wäre prima, dazu eine Flasche italienischen Weißen. Ein Pino, vielleicht. Was meinst du?«

    »Ja, warum nicht. Klingt gut.«

    »Das will ich doch wohl meinen. Heute Mittag hocken wir nicht in dieser muffigen Wohnung, sondern sitzen irgendwo in der Toskana auf einer Piazza am Tisch eines Restaurants. Engel, schöne und entspannte Menschen sitzen an den Nebentischen oder flanieren vorbei und fröhliche Kinder stecken uns mit ihrem Lachen an, ab und zu braust eine Vespa vorbei. Dolce vita, Engel.« Er streckte die Arme nach oben, blickte zur Zimmerdecke und rief: »Das Leben ist schön, preiset den Herrn! Halleluja, Hal-le-luja!«

    Ausdruckslos sagte sie: »Ich schaue nach, was wir sonst noch benötigen.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum.

    Kurz darauf fiel die Wohnungstür zu. Er seufzte. Wie an jedem anderen Tag bestand die theoretische Möglichkeit, dass sie nicht zurückkehrte. Doch sie würde ihn nicht im Stich lassen, das hatte sie bisher nicht getan und würde es auch heute nicht tun. Sie war der großartigste Mensch, der jemals geboren worden war. Für jeden Tag, den sie

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