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Ruhet.Sanft.
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eBook323 Seiten4 Stunden

Ruhet.Sanft.

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Über dieses E-Book

Starkoch Stefan Timmers droht der Ruin. In seinem neu eröffneten Restaurant, einem reetgedeckten Haus aus dem 18. Jahrhundert, sterben Gäste auf mysteriöse Weise. Stefan und seine Frau Mirja sind verzweifelt.
Als ihnen ein kleines Mädchen wortlos eine Sanduhr überreicht, dämmert es Stefan und Mirja: Etwas stimmt nicht mit dem alten Haus und den Menschen, die einst darin lebten – und es ist ihre Bestimmung, das düstere Kapitel der Vergangenheit zu Ende zu schreiben ... .

"Erinnerungen an "The Sixth Sense" und "The Others"." (Bild am Sonntag)
"Ein Thriller, der unaufhaltsam in den Bann zieht." (Freie Presse)
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Mai 2015
ISBN9783738028973
Ruhet.Sanft.
Autor

Andreas Richter

Andreas Richter wurde 1966 in Hamburg geboren. Heute lebt und arbeitet er als freier Autor und Texter in Ahrensburg vor den Toren Hamburgs.

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    Buchvorschau

    Ruhet.Sanft. - Andreas Richter

    Ruhet.Sanft.

    Thriller

    Andreas Richter

    Copyright © Andreas Richter, Ahrensburg.

    Vollständig überarbeitete Ausgabe 2013.

    Die ursprüngliche Fassung des Romans

    erschien in 2004 unter dem Titel

    Friede ihren Seelen bei Droemersche

    Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München.

    Alle Rechte liegen beim Autor.

    Das Werk darf – auch teilweise – nur

    mit schriftlicher Genehmigung des

    Autors wiedergegeben werden.

    Gestaltung Cover: edition.noack, Hemmoor.

    Über den Autor:

    Andreas Richter wurde 1966 in Hamburg geboren. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und war einige Jahre lang Geschäftsführer eines Unternehmens in Berlin, bis er sich ganz dem Schreiben und Texten zuwendete. Heute lebt und arbeitet Richter als freier Autor und Texter in Ahrensburg vor den Toren Hamburgs.

    www.andreasrichter.info

    www.facebookcom/RichterAutor

    Alle Personen, Orte und Begebenheiten dieser Geschichte könnten frei erfunden sein – doch wer weiß das schon mit Sicherheit.

    Das kleine Mädchen lag unter der dünnen Bettdecke, starrte in die Dunkelheit und lauschte dem leisen Schnarchen seines älteren Bruders, der neben ihm schlief. Nachdem beide ins Bett gegangen waren und von der Mutter einen Gute-Nacht-Kuss bekommen hatten, war er sofort eingeschlafen, und das lag bereits eine lange Zeit zurück. Auch das Mädchen war müde und wünschte sich, endlich einzuschlafen, doch seine schweren Gedanken ließen es nicht zur Ruhe kommen. Das Mädchen seufzte.

    Draußen heulte der Wind und ließ die Bäume ächzen und knarren. Und dann war da noch der Regen. Dieser seltsame Regen, der bereits seit vier Tagen und vier Nächten ununterbrochen und gleichbleibend kräftig vom Himmel fiel. Niemals zuvor hatte das Mädchen solch einen Regen erlebt, und auch die Eltern und die anderen sprachen kaum noch über etwas anderes. Der Pastor behauptete gar, der Herr selbst habe diesen Regen geschickt, um die Gottlosen zu mahnen, sich Seiner zu erinnern. Doch das Mädchen glaubte das nicht. Es glaubte, dass dieser Regen gar kein Regen war, sondern Tränen, doch weil es der Himmel war, der die Tränen vergoss, sah es aus wie Regen. Auch der Himmel war traurig, genauso traurig wie das Mädchen selbst, doch während es keine Tränen mehr zu vergießen hatte, konnte der Himmel unendlich weinen – der Himmel konnte alles.

    Vor dem geistigen Auge des Mädchens tauchte das Gesicht der Großmutter auf. Die Großmutter lachte, ihr Mund bewegte sich, die Reste ihrer Zähne waren zu sehen und sie wischte sich über die wässerigen Augen. Dann war das Gesicht auch schon wieder verschwunden.

    Vier Tage war die Großmutter nun schon tot. Sie war gestorben, nachdem sie am Abend zuvor gesagt hatte, sie spüre bereits die warme Umarmung des Todes, der sie vom Verfall des Alters befreien würde. Dann hatte sie sich das Nachthemd angezogen, sich frisiert und hingelegt. Niemand hatte zu ihr herein gedurft, nur ihr Sohn, der Vater des Mädchens, hatte ab und zu nach ihr gesehen. Der Tod hatte die Großmutter nicht lange warten lassen. Er war während der Morgenstunden gekommen, und niemand hatte es mitbekommen. Als sie die Großmutter gefunden hatten, hatte die Dämmerung wie Nebel vor den Fenstern gelegen und der Bruder des Mädchens hatte jedem erzählt, das sei der Atem des Todes. Die Nachricht vom Tod hatte sich rasch herumgesprochen und viele aus dem Dorf waren gekommen, um sich von der Großmutter zu verabschieden.

    Das Mädchen drehte sich auf die Seite. Ob der Regen vielleicht doch keine Tränen war, sondern tatsächlich bloß Regen? Das Mädchen überlegte, wer ihm auf diese Frage eine Antwort geben könnte. Sein Bruder? Vielleicht sollte es ihn wecken und ihn fragen, denn wer älter war und noch dazu ein Junge, der wusste immer mehr. Die Eltern konnte es auf keinen Fall fragen, sie würden es ohne eine Antwort ins Bett zurück schicken.

    Das Mädchen hatte eine Idee. Die Großmutter! Natürlich, die Großmutter wusste mit Sicherheit, ob der Himmel um sie weinte oder ob es doch bloß Regen war, und obwohl die Großmutter nicht mehr sprechen konnte, würde sie es mitteilen. Irgendwie.

    Es war nicht weit zum Friedhof. Das Mädchen kannte den Weg, sie würde auch im Dunkeln dorthin finden. Sie würde auch das Grab der Großmutter finden, denn sie hatte sich die Stelle gut eingeprägt. Es würde ein unheimliches Gefühl sein, in der Nacht allein zwischen den Toten zu sein, ohne Tageslicht und ohne einen Erwachsenen, der es vor den umherfliegenden Seelen der Verstorbenen beschützte, doch dem Mädchen blieb keine andere Wahl – es musste die Großmutter fragen, und es konnte damit nicht länger warten.

    Das Mädchen kletterte vorsichtig über seinen Bruder hinweg und glitt aus dem Bett hinaus. In dem kleinen Raum war es stockfinster, nur durch den Türspalt fiel ein Streifen dünnen Lichts, der verriet, dass die Eltern noch wach waren. Doch das Mädchen wusste auch in der Dunkelheit, wo was stand. Es trat an das Fenster, öffnete es und blickte in die Dunkelheit. Der pfeifende Wind schlug ihm Regentropfen ins Gesicht. Dem Mädchen kamen Zweifel. Sollte es wirklich hinausklettern? Morgen konnte es den Bruder fragen. Oder die Mutter oder den Vater, oder sie konnte dann zur Großmutter gehen, bei Tageslicht taten die Seelen der Verstorbenen den Kindern nichts. Nein, sagte sich das Mädchen schließlich, sie musste es so schnell wie möglich erfahren, noch in dieser Nacht – und das Fenster war die einzige Möglichkeit, das Haus unbemerkt zu verlassen.

    Das Mädchen drückte sich am Fenstersims hoch und kletterte aus dem Fenster. Langsam ließ es sich herabgleiten, bis es die durchweichte Erde unter seinen nackten Füßen spürte. Eine Hand an der Hauswand, ging es langsam das Haus entlang. Das vorspringende Dach fing viel Regen ab. Aus einem der Fenster drang flatterndes Licht nach draußen, und das Mädchen duckte sich unter dem Fenster hindurch, obgleich es zu klein war, als dass es von drinnen gesehen werden konnte. Als es an der Haustür angekommen war, trat das Mädchen unter dem Dachvorsprung hervor. Sein dünnes Nachthemd war augenblicklich durchnässt. Das Mädchen wollte gerade loslaufen, als es drei Männer auf das Haus zukommen sah. Das Mädchen erschrak, sprang unter den Dachvorsprung zurück und beeilte sich, hinter der nächsten Ecke des Hauses zu verschwinden. Vorsichtig spähte es um die Ecke herum, und auch wenn das Mädchen es bei der Dunkelheit und dem dichten Regen nicht mit Sicherheit sagen konnte, glaubte es, die Männer nicht zu kennen. Was wollten sie hier, mitten in der Nacht?

    Einer der Männer schlug kräftig gegen die Haustür, die beiden anderen sahen sich um. Das bedeutete nichts Gutes. Das Mädchen bekam Angst. Die Haustür wurde geöffnet und die Männer traten ein. Die Angst des Mädchens stieg weiter. Ihr Bruder. Ihre Mutter. Ihr Vater. Von den drei Männern ging große Gefahr aus, das spürte das Mädchen.

    Die Großmutter und der Friedhof waren vergessen. Nur das, was im Haus geschah, war jetzt wichtig. Das Mädchen überlegte. Sollte es sich hier draußen verstecken und so tun, als gäbe es sie nicht? Oder sollte es zu den Nachbarn laufen und Hilfe holen? Oder sollte es in sein Bett zurück kehren und sich schlafend stellen?

    Das Mädchen tat nichts von alldem. Stattdessen erinnerte es sich an eine Holzkiste, die bereits seit längerem ungenutzt hinter dem Haus stand. Es lief los und holte die Kiste. Sein Atem raste vor Angst und Aufregung. Was geschah im Haus? Das Mädchen stellte die Kiste unter das Fenster, aus dem das Licht drang. Behutsam stellte es einen Fuß auf die Kiste; sie schien sein Gewicht zu halten. Vorsichtig stieg das Mädchen auf die Kiste. Ja, sie hielt. Die Höhe war perfekt. Das Mädchen konnte gerade so eben durch das Fenster gucken, und die Wahrscheinlichkeit, dass es von drinnen gesehen wurde, war entsprechend gering.

    Das Mädchen hatte nie zuvor von draußen durch dieses Fenster geschaut, von hier aus sah die Wohnstube anders aus, und es benötigte einen Moment, um sich zu orientieren. Als Erstes entdeckte es die Mutter, die starr vor Schreck auf einem Stuhl saß, und dann die drei Männer. Einer der Männer hielt von hinten den Vater mit einem Hebelgriff fest, und er war mindestens einen Kopf größer als der Vater und fast doppelt so breit. Der Vater hatte keine Möglichkeit, sich zu lösen.

    Ein zweiter Mann stand vor dem Vater und schlug ihm immer wieder die Faust in den Bauch und zwischendurch auch in das Gesicht. Das Mädchen sah, dass der Vater aus der Nase und dem Mund blutete, und es hörte bis hier draußen seinen Aufschrei, wann immer ihn die Faust im Gesicht traf. Der dritte Mann war gedrungen. Er stand neben der Mutter und starrte sie unentwegt an, und etwas in seinem Blick gefiel dem Mädchen nicht, doch sie wusste nicht, was es war. Schließlich sagte der Gedrungene etwas und der andere Mann hörte auf, zuzuschlagen. Der Vater wurde losgelassen und fiel zu Boden, als sei er tot. Das Mädchen unterdrückte einen Schrei.

    Der Gedrungene griff unter seinen Mantel und zog etwas hervor. Das Mädchen hielt die Luft an und sah angestrengt hin. Es war eine Papierrolle. Der Gedrungene rollte das Papier auf und legte es auf den Tisch, um es glatt zu streichen. Jetzt sah das Mädchen, dass es zwei Papierbögen waren. Dann sagte der Gedrungene etwas zu dem Vater, und dieser hob den Kopf. Das Mädchen atmete erleichtert auf. Der Mann, der den Vater geschlagen hatte, nahm die beiden Papierbögen von dem Tisch, bückte sich zu dem Vater herab und legte die Bögen vor ihm auf den Boden. Dann griff er in eine Tasche seines Mantels und holte etwas hervor, das er dem Vater in die Hand drückte. Er packte den Vater am Handgelenk und legte dessen Hand auf den ersten Papierbogen. Er ließ das Handgelenk nicht los, als der Vater langsam und träge etwas auf das Papier schrieb. Anschließend führte der Mann die Hand des Vaters auf den zweiten Bogen und das Ganze wiederholte sich. Nachdem der Vater fertig war, nahm der Mann ihm das, womit er geschrieben hatte, aus der Hand und steckte es in die Manteltasche zurück. Dann legte er einen Papierbogen auf den Tisch und rollte den anderen Papierbogen zusammen und reichte ihm dem Gedrungenem. Doch dieser steckte ihn nicht unter seinen Mantel zurück, sondern behielt ihn in der Hand – und sah die Mutter mit einem seltsamen Blick an. Schließlich sagte er etwas zu den beiden Männern, und die Männer grinsten und gingen zu der Mutter. Mit ihren großen Händen umklammerten sie deren Arme, und der Gedrungene trat dicht vor sie. Mit der freien Hand öffnete er geschickt seine Hose, packte die Mutter am Kopf und drückte ihr Gesicht gegen sein Becken. Die beiden anderen Männer lachten, während der Vater den Kopf senkte und ansonsten nichts tat. Das Mädchen verstand nicht, was geschah, hatte keine Ahnung, was die Mutter ertragen musste und wie beschämt hilflos der Vater war. Was es jedoch verstand, war die Brutalität, die dort drinnen herrschte – und dass etwas ihre Familie bedrohte. Etwas, das über diese drei Männer hinausging.

    Es dauerte nicht lange, und der Gedrungene ließ den Kopf der Mutter los, trat einen Schritt zurück und machte seine Hose zu. Die beiden anderen Männer ließen die Mutter los, und sie sprang auf und spuckte hektisch etwas aus. Das Mädchen sah der Mutter mitten in das Gesicht, und in ihren Augen las sie große Abscheu und abgrundtiefen Hass. Einen solch harten und endgültigen Ausdruck hatte es bei der Mutter nie zuvor gesehen, und das schnürte ihr den Hals zu.

    Die drei Männer verließen das Haus. Das Mädchen sprang von der Kiste herunter und machte sich ganz klein. Es schloss die Augen und bat den Himmel, dass die Männer es nicht entdeckt hatten und nicht nach ihm suchten. Nichts geschah. Nach einiger Zeit öffnete das Mädchen die Augen. Niemand war zu sehen. Die Männer waren fort. Das Mädchen stieg wieder auf die Kiste und blickte durch das Fenster. Es sah, dass die Mutter wie versteinert dastand und der Vater es mittlerweile geschafft hatte, aufzustehen. Beide waren in einem Raum, standen nur wenige Schritte voneinander entfernt – und waren auf eine beklemmende Weise für sich allein.

    Das Mädchen ahnte, dass es nicht lange dauern würde, bis die Eltern nach seinem Bruder und ihm sehen würden. Wenn nur der Bruder im Bett lag, würden sie einen furchtbaren Schreck bekommen, und sie hatten bereits genug ertragen müssen. Das Mädchen überlegte nicht weiter, sondern lief um das Haus herum bis zu dem Fenster, aus dem es herausgeklettert war. Doch von außen war das Fenster zu hoch, es schaffte es nicht, sich hochzuziehen und hinein zu klettern. Sein Herz raste. Es dachte kurz nach, dann lief es los und holte die Kiste, stellte sie unter das Fenster und drückte sich mit aller Anstrengung hoch.

    Im Zimmer herrschte Ruhe. Der Bruder schlief oder tat so. Noch waren die Eltern nicht in dem Raum. Das Mädchen sah den Lichtspalt unter der Tür, die sich schon bald öffnen würde, und dann ... dann ... .

    Das Mädchen versuchte, sich in das Zimmer zu schwingen, doch kaum war es mit dem Oberkörper im Raum, verlor es das Gleichgewicht und fiel kopfüber herein. Es schlug mit dem Kopf und der Schulter auf, und ein dumpfer Schmerz durchzog seinen Körper. Das Mädchen schaffte es, den Aufschrei zu unterdrücken. Es ignorierte den Schmerz so gut es ging und rappelte sich hoch. Rasch schloss es das Fenster und beeilte sich, zu dem Bett zu kommen, als ihm plötzlich klar wurde, dass es bis auf die Haut nass war. Ohne weiter nachzudenken, zog es das Nachthemd über den Kopf und schob es unter das Bett. Schritte, das Mädchen hörte Schritte. Es sprang ins Bett, kletterte über den Bruder hinweg und schob sich unter die Bettdecke.

    Die Tür öffnete sich mit einem leichten Knarren. Das Mädchen sah es nicht. Es lag auf der Seite, hatte die Bettdecke bis über die Nase gezogen und starrte mit aufgerissenen Augen an die Wand. Es hielt den Atem an.

    Der Vater stand in der halb offen stehenden Tür und blickte in den dunklen Raum. Er drückte ein blutdurchtränktes Tuch gegen sein vor Schmerzen pochendes Gesicht und lauschte einen Moment lang. Als er nichts hörte, schloss er die Tür wieder und ging davon. Das Mädchen wartete noch einen Augenblick, dann drehte es sich zu seinem Bruder um. Es flüsterte seinen Namen, doch er antwortete nicht, und auch als sie ihn leicht anstieß, reagierte er nicht. Der Junge schlief wie ein Stein.

    Das Mädchen zog die Beine an. Es fror und hatte Angst. Was hatte das alles zu bedeuten, was geschah hier? Wer waren die Männer gewesen, was hatten sie hier gewollt und weshalb waren sie in der Dunkelheit gekommen – und weshalb hatte der Vater sie nicht aus dem Haus gejagt, auch wenn sie in der Überzahl und größer und kräftiger gewesen waren?

    Das Mädchen zitterte unter der dünnen Decke, doch es traute sich nicht, aufzustehen und sich etwas Trockenes anzuziehen. Und somit blieb es liegen, nackt und frierend, und versuchte, die schrecklichen Bilder zu vertreiben, die sich in seinem Kopf in wechselnder Reihenfolge immer wieder übereinander legten. Ein Bild war besonders scharf: Der zu Eis gefrorene Gesichtsausdruck der Mutter, nachdem sie – was auch immer es gewesen war – ausgespuckt hatte.

    Das Mädchen beneidete den Bruder. Er hatte von alldem nichts mitbekommen und es beschloss, ihm nicht davon zu erzählen. Das Mädchen kauerte sich noch mehr zusammen, zog die Decke über den Kopf und begann sein Lieblingslied zu summen, damit es die Kälte nicht länger spürte und die Bilder nicht mehr sehen musste.

    Und irgendwann fiel das Mädchen in einen unruhigen Schlaf.

    1

    An diesem Novembermorgen des Jahres 2012 war der Himmel über Hamburg verhangen und es sah nicht danach aus, als würde der Tag richtig hell werden. Die Außentemperatur lag bei unangenehmen vier Grad Celsius und ein leichter Nieselregen und stetiger Wind ließ die gefühlte Temperatur noch kälter erscheinen.

    Mirja stand mit dem Rücken zum Fenster und betrachtete Stefan, der auf einem der Aluminiumstühle saß. Er hatte den Kopf an die Wand gelehnt und blickte gedankenlos auf die gerahmte Aufnahme der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis.

    »Nun sag schon was«, forderte Mirja und knuffte ihn in die Seite.

    Er zuckte mit den Schultern.

    »Du freust dich gar nicht richtig«, sagte sie und tat so, als schmollte sie. »Das musst du aber, weil ich mich sonst nämlich von dir scheiden lasse.«

    »Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?«

    Mirja baute sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften. Sie war zierlich und gerade mal etwas über einen Meter siebzig lang. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit großen blauen Augen und einem vollen Mund, eine schmale Nase. Die schulterlangen brünetten Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war eine selbstbewusste Frau, die wusste, was sie wollte.

    »Jetzt bekomme ich aber Angst«, sagte er grinsend.

    »Das solltest du besser auch, Stefan Timmer. Los, ich will es noch einmal hören. Sag' mir, wie sehr du dich freust!«

    Er legte die Hände auf ihre Oberschenkel und sah zu ihr hoch. »Ja, Schatz, ich freue mich. Ja, ich freue mich riesig. Ja, das Haus ist wie gemacht dafür, und ja, ich kann kaum erwarten, dass wir endlich den Kaufvertrag unterschreiben.«

    »Braver Steff«, sagte sie schmunzelnd, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

    Er sagte. »Jetzt ganz ehrlich: Ich bin wirklich mächtig aufgeregt. Seit wir das Haus zum ersten Mal gesehen haben, wusste ich, dass es das perfekte Objekt für mein Restaurant ist.«

    »Perfekt? Es ist ein Schmuckstück! Wir werden etwas ganz Besonderes daraus machen.«

    »Aber der Kaufpreis ist schon ganz schön hoch. Vierhundertfünfzigtausend Euro ist verdammt viel Holz. Plus die Courtage für den Makler.«

    »Natürlich ist das ein Haufen Geld, aber nicht für ein solches Objekt in der Lage und mit dem Grundstück, in der Gegend. Es ist fast schon ein Schnäppchen.«

    Stefan nickte vor sich. »Mein Lebenstraum wird wahr, Mirja, ist das nicht der Wahnsinn? Ich bin neununddreißig Jahre alt und mein Lebenstraum erfüllt sich. Stefan Timmer eröffnet sein eigenes Restaurant. Wow, das ist fantastisch.«

    »Du hast es dir verdient.«

    Er hielt einen Moment inne, dann sagte er: »Nein. Ich habe einfach nur mehr Glück als andere.«

    »Erfolg ist keine Frage des Glücks, es sieht bloß häufig danach aus. Du hast Erfolg, weil du dein Talent nutzt und hart arbeitest. Die Kombination aus Talent und Arbeit macht den Unterschied. Du bist hartnäckig, und deshalb hast du es wirklich verdient.«

    »So meine ich das nicht. Ich meine das Glück, dich bei mir zu haben. Ich möchte jetzt nicht die alte Leier abspielen, Mirja, aber wir werden das Haus mit deinem Geld bezahlen. Von meinem Geld können wir den neuen Gartenzaun und die Außenbeleuchtung bezahlen, aber das war es dann auch schon. Ohne dein Geld würde ich noch in dreißig Jahre in irgendwelchen Hotels arbeiten.«

    »Du arbeitest nicht in irgendwelchen Hotels, aktuell arbeitest du in Hamburgs bestem Hotel. Als Küchenchef. Mach dich nicht kleiner als du bist. Und über die Sache mit dem Geld haben wir mehr als genug geredet, ich will davon nichts mehr hören.«

    »Aber es ist ja nun mal so. Dein Vater hat dir den Großteil deines Erbes ausgezahlt und du gibst es für das Haus aus, damit ich ein Restaurant eröffnen kann. Unterm Strich ist es dein Haus, nicht meins.«

    Sie beugte sich nach vorne. »Wie oft denn noch, Steff? Was ich mit meinem Geld mache, ist allein meine Sache, ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Wenn ich mich entscheide, von dem Geld ein altes Haus zu kaufen, damit mein Mann sich seinen Traum vom eigenen Restaurant verwirklichen kann, dann tue ich das. Punkt!«

    »Deine Schwester legt ihr Geld mit Sicherheit genauso an wie euer Vater es erwartet. Die beiden werden sich ihren Teil denken, dass du dein Geld in ein Restaurant steckst.«

    »Erstens ist ein Hauskauf eine Geldanlage. Zweitens interessiert es mich nicht im Geringsten, was Britt und mein Vater darüber denken. Britts Mann hat bereits eine eigene Existenz, mein Mann noch nicht – doch das ändert sich jetzt.«

    »Auch wenn ich Oliver nicht ausstehen kann, aber dein dämlicher Schwager hat sich seine Existenz selbst aufgebaut. Sie ist ihm nicht auf dem Silbertablett serviert worden, so wie mir. Das muss man dem Schwachkopf schon zugute halten.«

    Sie schüttelte genervt den Kopf. »Es ist ja wohl etwas anderes, ob ich mir am Anfang ein kleines Büro miete, einen PC kaufe und als Steuerberater loslege oder ob ich mich mit einem Restaurant selbstständig mache. Das kann man doch gar nicht miteinander vergleichen. Schluss jetzt, Steff, ich will davon nichts mehr hören. Wir sind verheiratet und ich weiß, wie sehr du dir dein eigenes Restaurant wünschst. Es ist unser Haus, wir werden gemeinsam im Grundbuch stehen. Du wirst aus der alten Hütte einen Gourmet-Tempel machen, so wie du es dir vorgestellt hast. Damit ist das Thema ein für allemal beendet. Und übrigens: Ich mag es nicht, dass du ständig abfällig über meinen Schwager spricht, das weißt du genau. Mein Fall ist Oliver auch nicht, aber er ist nun mal der Mann meiner Schwester. Also hör auf damit.«

    »Er ist ein herzloses Arschloch. Ich frage mich, weshalb eine so interessante und intelligente Frau wie deine Schwester ausgerechnet diesen eingebildeten Affen heiraten konnte. Ist mir echt ein Rätsel.«

    »Steff, es reicht jetzt.«

    Die Notargehilfin betrat den kleinen Warteraum. Sie gab den beiden die Personalausweise zurück und bat sie, ihr zu folgen. Sie führte sie über den Flur, klopfte an eine geschlossene Tür und öffnete, ohne die Antwort abzuwarten. Dann trat sie einen Schritt zurück und bedeutete Mirja und Stefan, einzutreten. Der Notar, der hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß, blickte auf, erhob sich und begrüßte sie. Ihm gegenüber saßen zwei Männer. Einer von ihnen war der Makler, der gemeinsam mit Mirja und Stefan hergekommen und vorab zu dem Notar hereingebeten worden war. Den anderen Mann hatten sie noch nie zuvor gesehen.

    »Gerald Buchelt, Rechtsanwalt«, stellte er sich vor und reichte Stefan eine Visitenkarte, die er bereits in der Hand gehalten hatte. »Ich handle nicht für mich, sondern gemäß notarieller Vollmacht für Herrn Bernd Schmolke, der Ihnen das Grundstück nebst Objekt verkauft. Ihr Makler sagte mir, er habe Sie bereits davon in Kenntnis gesetzt, dass Herr Schmolke nicht selbst erscheint.«

    Stefan nickte, während Mirja sagte: »Ja, das hat er. Wir hätten ihn natürlich gerne kennen gelernt, aber vielleicht lässt sich das ja nachholen. Wir werden ihn einladen wenn alles fertig ist.«

    Der Notar bot Platz an, dann kam er ohne Umschweife zur Sache. Keine zehn Minuten später unterschrieben Mirja und Stefan sowie Buchelt und der Notar den Kaufvertrag.

    Während Mirja im Verkaufsshop der Tankstelle verschwand, um eine Flasche Sekt zu kaufen, saß Stefan hinter dem Lenkrad seines Jeep Grand Cherokee und blickte aus dem Seitenfenster, ohne etwas von dem wahrzunehmen, was draußen vor sich ging. Er war tief in Gedanken versunken.

    Ein eigenes Restaurant. Sein Restaurant. Timmers. Wieso denn Timmers, hatte Mirja gefragt, als er ihr vor einigen Tagen verraten hatte, welchen Namen das Restaurant erhalten sollte. Weil ich als Koch bereits einen bestimmten Bekanntheitsgrad habe, hatte er entgegnet, viele Köche geben ihrem Restaurant ihren eigenen Namen, das hat was mit Identifikation und Markenbildung zu tun, außerdem ist der Name kurz und knackig. Timmers, hatte Mirja nickend vor sich hingemurmelt, ja, das ist der passende Name.

    Eine ältere Frau kam aus dem Verkaufsshop

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