short stories: Geschichten
Von Petra Labitzke
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Über dieses E-Book
Fremde Länder werden bereist, interessante, skurrile Charaktere bekommen ihre Bühne; es wird missbraucht, gelogen, geliebt und gemordet.
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Buchvorschau
short stories - Petra Labitzke
Die längste Nacht
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Wie ferngesteuert stellte ich meinen Koffer ab und bewegte mich auf den Mann zu, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sein Gesicht glühte rötlich im Schein der Zigarettenspitze, wenn er einen Zug machte. Er sog den Rauch tief in sich hinein, ohne ihn wieder auszuatmen.
Ein sehr alter Mann. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen und war unrasiert. Sein zu großer und schäbiger Mantel verhüllte nur unzureichend die mageren Gliedmaßen, den krummen Rücken. Die Hand, die aus dem Ärmel ragte und die Zigarette hielt, war knochig und zitterte unkontrolliert. Die gelben Fingernägel waren lang und verhornt. Seine fleckigen Wildlederschuhe waren abgetreten, von undefinierbarer Farbe und ohne Schnürsenkel.
Er sah aus wie ein Mensch, der sich von jeglicher Hoffnung verabschiedet, jeden Gedanken an Glück oder Liebe schon lange begraben hatte. Er sah aus wie jemand, der nur noch Zuflucht bei der Bahnhofsmission findet. Für den alle anderen Türen geschlossen bleiben.
Meine Beine bewegten sich ohne mein Zutun. Ich wusste weder, warum ich nicht in den Zug gestiegen war, noch was ich von diesem Mann wollte. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Ich wusste nur, dass ich ihm in die Augen sehen musste. Um sicher zu sein. Sicher, worüber. Ich hatte keine Antwort. Aber dieser Mann hatte sie.
Nebel kroch über die Gleise, waberte gnädig über Unkraut, Kaugummipapierchen und zerdellte Bierdosen. Das einzige Geräusch, das in mein Bewusstsein drang, war das Knacken des großen Zeigers der Bahnhofsuhr beim Überschreiten der Zwölf. Ich hörte es dreimal, dann stand ich hinter ihm. Konnte ihn riechen. Er roch nach Schweiß, Bratfett, Fäkalien und Old Spice.
Er hatte die Zigarette aufs Gleis geworfen und schob die Hände in die Manteltaschen. Zog die Schultern hoch, als ob er fröre. Hustete, spuckte aus, hustete wieder. Dann drehte er sich um, langsam, wie in Zeitlupe. Sah mit blassen grauen Augen an mir vorbei. Machte einen Schritt. Blieb stehen. Ließ den Blick langsam über meine teuren Pumps, die Jeans, und den Seidenblazer bis zu meinem Gesicht wandern, konzentriert, als müsse er jedes Detail für die Ewigkeit speichern. Sah mir direkt in die Augen. Sah weg, rieb sich mit einer müden Bewegung, die ihn unendlich viel Kraft zu kosten schien, über Augen und Mund, sah mich wieder an. Blinzelte, runzelte die Stirn. „Hanna". Mehr sagte er nicht. Nur meinen Namen, Hanna.
Und plötzlich ist es da.
Wie eine Waldlichtung in schwarzer Nacht, vom Blitz für eine Sekunde taghell erleuchtet, alle Konturen messerscharf gezeichnet, gespenstisch unwirklich abgelichtet; gestochen scharf sehe ich die Szene. Mein Kinderzimmer, den Mann. Der Mann, der jetzt, dreißig Jahre später, vor mir steht. Der Mann, der mir wehgetan hatte.
Ich bin klein. Der Mann steht in meinem Kinderzimmer, sieht sich um, horcht, schließt dann sachte die Tür. Beugt sich