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Unter der Uniform geht's weiter
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eBook341 Seiten5 Stunden

Unter der Uniform geht's weiter

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Über dieses E-Book

Christian L., Streifenpolizist aus Leidenschaft, tummelt sich zwischen Diensten und Privatleben. Seine jahrelang Diensterfahrung vermittelt ihm fast alles schon gesehen zu haben. Dass dennoch jeden Tag, jede Minute etwas Neues hinzukommen kann, integriert er wunderbar in sein Berufs- und Privatleben. Im Privatleben treten schließlich Veränderungen ein: die Kinder werden größer, die Liebe anders, Christian älter. Mit dem Alltag wandelt sich auch der Dienst mit seinen vielen Geschichten mit und um die Menschen. Die Perspektive wird anders, manchmal verschwimmt sie bei der Suche. Schließlich passiert etwas, das so nicht hätte kommen dürfen...
Die Geschichte von Christian L. stellt auf Grundlage teils realer Erlebnisse den Berufsalltag eines Polizisten authentisch dar. Unverblümt, zwischen Freude und Schmerz, wird mit ihr deutlich, dass Polizistsein mehr bedeutet, als in Uniform zu stecken. Denn unter der Uniform geht's weiter.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Aug. 2020
ISBN9783347119116
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    Buchvorschau

    Unter der Uniform geht's weiter - Helen Behn

    EIN TAG

    EINS

    Eine x-beliebige Nacht von Sonntag auf Montag. Ein warmes, arbeitsreiches Wochenende im Ausklang. Die ersehnte Ruhe kehrt langsam ein. Das Wenige, was wir sehen, kennen wir schon. Wilfried, den Zeitungsausträger, seit Jahren ohne Licht mit seinem schwer beladenen Fahrrad durch die Straßen gondelnd, von Zeitungsröhre zu Briefkasten zu Zeitungsröhre. Das, was wir sehen, ist normal. Hans ist im Begriff eher Schluss zu machen. Er schleppt seinen Aktenordner zum Schrank. Er sieht müde aus, fünfzehn Minuten hinter seinem Zeitplan.

    Zwei Stunden noch. Zwei Kollegen schieben sich im Büro unüberhörbar Stühle zusammen. Der eine schnarcht bald, der andere ruht. Vier Beine hoch. Ein anderer sitzt am Computer und das Klackern seiner Finger auf der Tastatur ist monoton. Klick, klick, klick, klack. Thilo arbeitet, schreibt einen Bericht zu einem Diebstahl aus Spind Nr. 119 im Freibad zu Dienstbeginn.

    Ich plumpse auf den alten Drehstuhl direkt neben dem Funkpult. Andreas sitzt am Arbeitsplatz mir gegenüber und guckt in eine der Zeitungen, die Wilfried gerade eben mit seinem ,Moin, Jungs‘ wie jeden Tag seit zwanzig Jahren zielsicher vor die Tür warf. Sein Salut ist bedenklich dicht an den dunklen Seiten der deutschen Geschichte. Andreas fällt ständig der Kopf auf die Brust. Was machte ich eigentlich? Ich erinnere mich an mühsames Öffnen schwerer Panzerglasfenster früher in der Nacht. Aber genau in jenem Moment? Die Tageszeitung. Der Stadtkurier. Stille beim Lesen. Eine herrliche Ruhe, die ich während der Streifenfahrt zutiefst genoss. Diese Ruhe, die Wohligkeit des baldigen Schichtendes. Die erlaubte Träumerei vom Bett, vom Schlafen, vom Liegen.

    Der Knall. Das Geräusch ruft sich heute problemlos, schnipp, in Erinnerung. Unsicherheit lässt mich erstarren. Die aktuelle Zeitung liegt auf meinen müden Oberschenkeln. Beklemmungen, die weggehen müssen. Sich ruckartig bewegende Striche in Reihen und Kreisen angeordnet, wie Stäbchenbakterien unter dem Mikroskop, in Hellrot. Die umspringenden digitalen Zahlen: 05: 01, 05: 02. Ich muss damals zur Uhr gesehen haben. Das werde ich wohl gemacht haben: zur Uhr gesehen.

    Hallend höre ich Gegenstände auf Böden fallen. Ich höre ein Rieseln, ich höre Nachgeräusche. Wir rätseln, bis zwanzig Sekunden später ein Notruf aus der Gemeinde Heuhausen meine, unsere Spekulationen klärt. Zum Teil jedenfalls.

    „Das Dorfhotel ist in die Luft geflogen!" spricht er ruhig mit Blick aus dem Schlafzimmerfenster. „Mein Schlafzimmer hat dunkelblaue Vorhänge … Heinrich Heine…". Ein konfuser Wortschwall.

    Heuhausen also. Später maß ich nach. Für die Einordnung der Sinne, für die Überprüfung einer Wahrnehmung, für eine Verarbeitung. Eine der Karten aus dem Internet sagt, zwischen unserer Wache und dem Dorfhotel über Fleete, Wiesen, Ackerland sind fünf Kilometer Luftlinie. Von diesem Fleck Erde ist die Explosion eines Hotels dermaßen geräuschvoll, klingt so intensiv und gewaltig, als würde auf der Hauptstraße vor der Wache ein gewöhnlicher Fahrradreifen explodieren.

    „Das Dorfhotel, habe ich richtig verstanden?"

    „Mögen Sie Heine? Hören Sie das Schreien?"

    Andreas soll sich Thilo schnappen und losfahren. Andreas zögert. Er zögert für die Situation unglaublich lange. Er will nicht alleine zu einem gerade eben explodierten Hotel fahren. Damit hat er keine Erfahrung. Haben wir alle nicht. Ich reiße ihn mit barschen Worten aus seiner Trance. Ich werde fast beleidigend. Während ich mantraähnlich sage und sage und sage ,Du bist nicht allein‘, reißt Thilo ihm die Schlüssel aus der Hand, zerrt ihn wie einen Delinquenten am Oberarm mit sich. Hans rennt durch die Wache, sein Diensthemd halb aus der Hose.

    „Was ist das denn jetzt für eine Scheiße?! und direkt zu mir: „Du bleibst drin!

    Ich bleibe und registriere im Stillen die Einsamkeit auf der Wache. Alle andren sind draußen. Ich spüre mein Gesäß auf dem Drehstuhl. Nichts dreht sich. Draußen in Heuhausen läuft alles nach Plan. In der Wache geht nichts nach Plan, zumindest nicht nach meinem. Ich bin immer noch alleine. Von null auf hundert, von Träumerei zur Realität strömt die Belastung über mich. Telefon um Telefon klingelt, pausenlos, lärmend, wie ein penetranter Wecker, der sich nicht ausstellen lässt. Lärm, der mich stresst. Eins nach dem anderen, wie sonst auch.

    In Heuhausen gucken Andreas und Thilo, Hans und die anderen Kollegen auf ein gespenstisches Bild bei Nacht. Flammenschein und Wärme. Die gesamte rechte Hälfte des alten Hotels, eine Dreißig-Zimmer-Prachtvilla, ist wie ein Kartenhaus aus Kreuzbube und Herzdame, aus Pikass und Karoneun als Spitze, in sich zusammengefallen.

    Feuer, Rauch und Staub, freigesetzt aus altem, geschichtsträchtigem Gemäuer. Junge, schlanke Beine unter den Trümmern. Zudem ein Paar alte Beine des ortsansässigen Arztes. Er krabbelt, um zu helfen, unter Trümmerteile. Wenn die ein Stückchen nachrutschen, wird Herr Lampe auch Opfer, seine Knochen zertrümmert. Es wird weiteres Unheil entstehen.

    Die erste Zwischenbilanz ist nach einer knappen Stunde traurige Gewissheit. Das Fernsehen ist vor Ort. Vier Menschen geborgen, tot. Drei weitere Menschen Polytraumen. Herrn Lampes schreiender Patient ist einer davon. Herr Lampe überlebt.

    Die Ermittlungen formen sich zu einem Bild menschlicher Abgründe. Geisterartige Porträtbilder bei Tag. Es ist ein zierlicher Neunzehnjähriger, der die Verantwortung für den Tod von Menschen übernimmt. Welch Auftrag? Welche Befolgung!? Welche kleine Handbewegung, welch minimale Manipulation an der Gasleitung unten im Keller einer Villa?

    Der Hotelbetreiber reist für die Tatzeit, für ein besseres Alibi, nach Asien. Es geht kaum weiter weg. Er manipuliert nicht an Gasleitung, sondern an einem Menschen. Er schraubt an ihm, bis er das tut, was er selber nicht macht. Sollten ihn tatsächlich nur die von der Versicherung erwarteten Gelder motiviert haben? Eine Versicherungssumme, schwindelerregend, für die nicht nur die Polytraumen und Leichen aus dem Hotel nach Asien hätten fliegen können – First-Class und all inclusive. Der geplant überlebende Mensch handelt berechnend, dass er ein Hotel für ausgebucht erklärt, damit wenigstens nicht allzu viele Seinesgleichen ihre Leben lassen. Was geht in solch einem Kopf vor?

    Den sieben Gästen, jene, die früh gebucht hatten, vermochte er nicht abzusagen. Zu verdächtig wäre es gewesen. Durchaus. Verdächtig skrupellos gegenüber Leben anderer Menschen. Eine Entscheidung über Leben und Tod. Für Geld oder keines. Lebensbeendend für vier Menschen auf Urlaubsreise in Heuhausen. Aus einem Traumurlaub in Asien geht’s in die deutsche U-Haft.

    Heute ist das Gelände des ehemaligen Dorfhotels ein asphaltierter Parkplatz. Der wird später einmal eine Rolle spielen. Vielleicht ist der Fleck Erde einer gewissen Bestimmung unterlegen und ich weiß davon nichts. „Warum bist du wieder so spät, Idiot?" überschlägt sich die Stimme meiner Tochter, als ich zu Hause eintreffe. Meine Schuhspitze ragt gerade mal ein kleines Stück über die Schwelle hinweg. Das Schlüsselbund baumelt in der Haustür, von außen wohl bemerkt. Immer langsamer das Pendel. Eigentlich bin ich noch gar nicht zu Hause angekommen.

    „Ich kann nichts dafür!", schreie ich. Dabei hatte ich mir vorgenommen, nicht immer sofort loszubrüllen. Nächstes Mal bekomme ich es hin.

    „Ich hasse dich, Papa", legt sie auf dem Weg ins Zimmer nach. In der Lautstärke hat sie mich erheblich übertroffen. Wie eine Furie tobt sie davon.

    Dann knallt die Zimmertür. Ein stürmischer Windzug folgt. Ich ahne, dass ich dieses pubertierende, dreizehnjährige Wesen bis heute Abend nicht mehr sehen werde. Hätte mir jemand vorher gesagt, dass Kinder so werden können, ich hätte es gelassen. Sie sind nicht nur süß, schnuckelig, lachend, drollig und lebensfüllend. Meine Tochter ist ein Albtraum meiner schlaflosen Nächte. Und weiß Gott nicht nur das. Sie bringt mich eines Tages um den Verstand. Wenn nicht sie, dann ihr kleiner Bruder.

    Brüllen finde ich nicht toll. Im Prinzip verachte ich es. Es ist für mein Lebensalter unreif und dadurch inakzeptabel. Wie überall gibt es jedoch Ausnahmen. Meine Toleranzschwelle hat sich in den letzten Jahren aus verschiedensten Gründen immer wieder um ein bisschen nach unten bewegt. Manchmal erkenne ich mich selbst nicht wieder. Ist es Frust? Ist es Erschöpfung? Ist es das Alter? Ich bin ratlos. Es gibt Ursachen. Das ist mir klar. So wie sie kommen, werden sie wieder verschwinden.

    Der Rucksack gleitet von den Schultern. Mit einem Plumps fällt er auf die seit Monaten nicht gewischten Fliesen. Der Kram meiner beiden Kinder, der sich kreuz und quer stapelt, beläuft sich auf benutzte Taschentücher, Brotdosen, Zeitschriften, Schokolade und einiges mehr. Die gewienerten Einsatzstiefel feuere ich zu den Fußballschuhen. Der eine fliegt bis zum Bad. Der andere bleibt an Uromas hässlichem Schirmständer hängen. Zu den ganzen Dingen gesellen sich Rasenreste. Grashalme, die der Kleine jedes Mal nach dem Training mit nach Hause bringt. Es ist grün bei uns in der Butze, wenigstens nicht steril. Es ist ein durchschnittlicher Tag und er ist nicht zu Ende.

    Heute ist es später geworden, weil Herr Kulle mit seiner Piper-Alpha eine Sicherheitsaußenlandung auf dem Feld neben der Stadtautobahn hingelegt hat. Den Begriff hatte ich bis zu Herrn Kulles Aktion nie zuvor gehört. Eines der Bonbons in unserem Job, die permanente Wissenserweiterung in sämtlichen Fachrichtungen. Seine Landung war absolut außerplanmäßig. Irgendwie fielen die Instrumente des Flugzeuges aus und er verschwand samt seiner Piper-Alpha vom Radar des nahegelegenen Flughafens.

    Herr Kulle hat seinen Namen in dieser Geschichte aufgrund seines Aussehens. Er ist etwa ein Meter und fünfundsiebzig groß und untersetzt. Er trägt keinen Bart und keine Brille. Er ist Mitte sechzig und gilt als erfahrener Pilot. Er trägt Trekkingschuhe, Jeans und ein blaues, langärmeliges Hemd.

    Die Leitstelle hatte den Rettungshubschrauber losgeschickt, um nach Herrn Kulle, von dem alle glaubten, er sei längst mit seinem Flieger in Flammen aufgegangen und bis zur Unendlichkeit verkohlt, zu suchen. Als Herr Kulle zur Notlandung ansetzte, waren es über dreißig Grad und das trockene Gras an den Ackerrainen hätte locker anfangen können zu brennen. Doch weder von Feuer dort noch in der Maschine war etwas zu sehen und Herr Kulle bis auf leichte Schocksymptome wohlauf.

    Er wollte am liebsten alleine bleiben. Das ging nicht, weil ihn nahezu alle anwesenden Menschen umlagerten und Fragen stellen mussten und wollten. Wir mussten, die Presse wollte. Herr Kulle war verschwitzt und trotz der Hitze blass im Gesicht. Meine Kollegin und ich knallrot. Die Sonne ballerte gnadenlos vom Himmel. Weit und breit kein Schatten, nur unter den Tragflächen von Herrn Kulles Flieger. Da konnte keiner von uns stehen. Ich bin nicht sonderlich groß, aber so klein bin ich wiederum nicht.

    Bei den heißen Temperaturen dieses Sommers ist es ein ausgesuchtes Geschenk, vergnüglich in dunkelblauer Uniform und Schutzweste vor sich hin zu schwitzen. Literweise alkoholfreies Flüssiges in sich hineinzuschütten und trotzdem nicht pinkeln zu müssen. Kleine bewaffnete, durch die Revierwelt tingelnde, anatomische Wunder in Uniform.

    Die Piper-Alpha startete Herr Kulle zusammen mit seinem Fliegerkumpel, der ihn später auf dem Revier abholte, am selben Tag nach Einholung einer Sonderstarterlaubnis von dort, wo er gelandet war. Den holprigen Start auf dem unwegsamen Acker hätte ich gerne gesehen. Zu dem Zeitpunkt war ich im Feierabend und zu Hause.

    Weder diese Geschichte noch das mit dem unangenehmen Schwitzen brauche ich den Kindern zu erklären. Sie sehen die Dienstberichte meistens als Ausreden. All das, was ich mit dem Dienst verbinde, Unannehmlichkeiten und Freude, ist für sie kein Thema. Es interessiert sie kaum. Für sie habe ich einen Job wie jeder andere. Wenn sie bei ihren Freunden Eindruck schinden wollen, prahlen sie allerdings mit meinem Polizistendasein und den spannenden Geschichten.

    Im Grunde genommen ist es nicht wahnsinnig verkehrt, wie sie es machen. Es ist tatsächlich ein Job wie jeder andere, nur irgendwie anders mit ein paar Eigenheiten. Wie die Jobs der Notärzte, der Bestatter oder Feuerwehrmenschen und so weiter. Soziale Berufe tendieren generell zu menschlichen Unglaublichkeiten.

    Bestatter würde ich zwar nicht unbedingt als sozialen Beruf sehen. Sie kommen jedoch ebenfalls mit menschlichem Elend in Berührung. Mehr als viele andere. Sie tragen es durch die Gegend. Bahren es auf, waschen es und mehr. Sie packen es an. Sie packen den Tod an, schleppen ihn in Säcken und Kisten. Sie sind hautnah am Tod und am Menschen. Sie sehen nackte Körper und erblicken Dinge, die vergessen werden müssen. Damit haben sie etwas mit Polizisten gemein.

    „Wir müssen los!"

    Das stimmt. Binnen der nächsten Minuten müssen wir zum Training. Ich wünschte, der Rasen wäre dichter an unserem Zuhause. Ich wünschte, er könnte wie zu alten Zeiten mit seinem Freund Felix mit dem Rad fahren. Jonas’ Freunde, die ihm nach dem Umzug zum großen Teil erhalten geblieben sind, sind jetzt keine Nachbarskinder mehr. Mit dem Umzug ist ein Stück Bequemlichkeit verloren gegangen. Dass das so kommen würde, wusste ich vorher. Wie sehr es mich irgendwann nerven würde, ahnte ich. Ich glaubte, ich würde mich daran gewöhnen können.

    Soll ich meinen Sohn von seiner Leidenschaft abmelden? Ihm die Freude nehmen, weil es mir gegen den Strich geht und ich lieber auf dem Sofa abhängen würde? Dösend mit einem Halben und guter Mucke. Am liebsten ja. Fair wäre es nicht.

    Trotz Stress und meinetwegen gelegentlicher Überforderung ist es unbegreiflich, wie Eltern Kinder misshandeln, sie hungern lassen, ihnen Verbrennungen zufügen, sie einsperren können. Unbegreiflich ist vielleicht das falsche Wort. Ich kapiere durchaus, wie man so handeln kann. Das Alter, die Reife, der freie Wille, die eigene Kraft und Liebe verbieten es, auf kleine Geschöpfe einzuprügeln, sie zu Tode zu schütteln, sie verwahrlosen zu lassen oder ihnen kein Essen mehr zu geben.

    Ich gehe davon aus, dass sein Leben mit meinem Samen begann. Er ist durch meinen Akt entstanden, aus meinem Körper, mittels meiner Höhepunkte. Selbst wenn nicht. Er ist zart, jung, wehrlos, unschuldig. Mir gegenüber, dem Leben und der Welt. Seine Begeisterungsfähigkeit ist grenzenlos. Das Leuchten seiner Augen ist eine wahre Freude, die alles andere in den Schatten stellt. Jeder angedachte Schlag, jeder Klaps, jede Ohrfeige wäre ein Angriff auf die Seele. Der erwachsene Verstand hat konsequent die Hand vor jeder Vollendung zu bremsen.

    Ebenso wenig begreife ich den sexuellen Missbrauch an Kindern, egal welchen Geschlechts. Ich kann die Lust von Erwachsenen an Kindern rein gedanklich nachvollziehen. Das geben meine Gehirnwindungen her. Es sind erwachsene Menschen, die nicht in der Lage sind, Impulse zu bremsen und zu steuern. Ich schäme mich nicht dafür, dass ich keinen Ekel empfinde wie Kollegen, wenn sie über Pädophile lesen oder von ihnen sprechen. Immerhin reden wir über Menschen, wie wir welche sind.

    Sind sie deswegen alle gestört? Sind sie wirklich alle gestört? Sind sie schwach, gleichgültig oder egoistisch? Auf der anderen Seite sehe ich die zarte Haut, das zierliche Geschöpf. Münder, die zu klein sind für erigierte Penisse. Auf der anderen Seite sind Hintern und Scheiden, die nie genug Platz bieten, egal, wie wenig ausgestattet Mann ist. Was geht in den Tätern vor, was in den Opfern? Der Spaß, der Trieb, die Lust als Spiel verkauft? Versprochene Belohnungen für Anfassen und Schmusen? Online-Geschenke für ein bisschen Ausziehen?

    Die Augen kann ich vor diesen Taten nicht verschließen. Ich will es nicht. Das, was ich sehen muss, gehört zum Job. Und mein Job gehört zu meinem Leben. Fahndungsbildern widme ich meist flüchtige Blicke. Es gelingt mir selten, in die Augen der Kinder zu sehen, deren Geschlechtsteile verpixelt sind.

    Turnusmäßig ziehen diese Bilder per E-Mail an mir und meinem Dienstrechner vorbei und geben Denkanstöße. Die Gedanken gehen in die verschiedensten Richtungen. Sie hangeln sich von Ängsten um meine Kinder zu Gedanken an den Täter Mensch. Sexuelle Lust an Kindern findet sich in allen Schichten und Altersklassen. Erleichtert Reichtum den Zugang, verbessert er die Qualität?

    Gedanken gehen auch zu speziellen Täterprogrammen. Der Mensch kann sich melden, bevor er wieder zum Täter wird. Melden sollte er sich, wenn der Druck zu groß wird. Eine gute Idee. Die Bereitschaft, den Lüsten nicht nachzugeben, ist Grundvoraussetzung. Eine schwere, eine große Hürde stellt sie dar. Wer gibt schon gerne zu, Hilfe zu benötigen, um etwas widerstehen zu können, was einfach erscheint? Viel leichter erscheint es, vor sich selbst nachzugeben, sich in den Lüsten treiben zu lassen und das zu rechtfertigen. Warum sich nicht dem Genuss der Befriedigung hingeben, anstatt sich ihm krampfhaft zu widersetzen und nach Alternativen zu suchen?

    Wenn es einmal gelingt, gelingt es vielleicht öfter. Wenn die Neigung einen greifbaren Ausdruck bekommt, bekommt sie ein Gesicht. Es sind Gesichter von Menschen, mit denen ich reden würde, um sie besser zu verstehen. Wahrscheinlich müssen sie sich erst einmal selbst verstehen, um zu begreifen. Doch vielleicht tun sie es bereits lange, leben damit, weil sie sich arrangiert haben. Sie haben sich eingerichtet, an Spielplätzen zu stehen oder im Schwimmbad zu gaffen. Die Kinder haben es nicht gewollt. Sie wollten den Lolli, das Spielzeugauto oder den Teddy, aber nicht um diesen Preis.

    Ich weiß zu wenig, um alles zu verstehen. Jeder ist anders. Kein Mensch gleicht dem anderen. Kein Pädophiler gleicht dem anderen. Ich weiß zu viel, um loszulassen. Habe zu viel gesehen, um mir keinerlei Gedanken zu machen.

    „Papa!" rüttelt Jonas mich auf.

    Er klopft auf eine imaginäre Uhr am Handgelenk und drängelt. Er liebt die Pünktlichkeit. Er ist beinah pedantisch in allem, was er macht. Hat er das von mir? Ich müsste mal meine Mutter fragen. Manchmal denke ich, es wäre längst an der Zeit, meine Mutter nach vielem zu fragen, was ich bisher nicht weiß. Über mich, über unsere Familie, über sie. Ich sollte sie fragen, bevor es eines Tages zu spät ist und ich mit unbeantworteten Fragen alt werde.

    Was meine Pünktlichkeit angeht, sehe ich immerhin zu, nicht zu spät zum Dienst zu kommen. Wenigstens nicht allzu oft. Bei Terminen mit meinen Kindern empfinde ich diesen inneren Drang kaum. Es ist einfacher, mich ihnen gegenüber zu rechtfertigen als gegenüber meinem Chef. Die Widerstände bei den Kleinen sind gering. Ich habe das Sagen. Sie sind abhängig. Ihr Ärger verfliegt meist schnell. Ansonsten, ja, ansonsten, es gibt kein ansonsten. Ich habe ansonsten keine Verpflichtungen. Ich spiele nicht im Verein, habe keinen Stammtisch. Ich weiß, dass mir jede andere Verpflichtung spätestens nach einer Woche über den Kopf wachsen würde. Eigentlich will ich meine Ruhe. Will keine anderen Menschen um mich, die mich nerven. Keine Menschen, die mir nach kurzer Zeit derart auf den Keks gehen, dass ich mir wünschte, ich hätte sie nie kennengelernt. Ich bilde mir ein, dass mir auf der Arbeit genug Menschen begegnen. Es sind nicht soziale Kontakte im eigentlichen Sinne. Aber es sind immerhin Kontakte, die mich nicht vereinsamen lassen.

    Jonas nölt und nölt. Die Reizschwelle sinkt. Und das nach dem ohnehin bescheidenen Empfang zu Hause. Er schlingt die allerletzten Nudelkissen herunter, hängt dabei fast waagerecht über dem Teller. Seine Nasenspitze muss noch etwa zehn Zentimeter überbrücken, bis sie den Tellerrand berührt. Zu allem Überfluss wischt er sich mit dem Ärmel die Tomatensoße vom Mund. Es ist typisch. Kindlich, normal, sorglos.

    „Iss langsam!"

    Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, komme ich mir dämlich vor. Nicht nur heute bin ich für die Verspätung verantwortlich – wegen der Umstände, Herrn Kulle, der Arbeit, der Kollegen, der Welt und so weiter. Aber auf keinen Fall sind es Jonas und Hannah.

    ZWEI

    Rolf, einer meiner Brüder, hat es gepackt. Er war Polizist. Als junger, als Frischling, war er im Einsatz bei einer Großdemonstration. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände rumorten lange in ihm. Schließlich hängte er die Uniform an den Nagel und studierte. Entschlossen, wie ich ihn bis dahin nicht kannte, wurschtelte er sich durch das Kündigungsdilemma bei der Polizei, schlug sich von Semester zu Semester durchs Studium. Okay, das Physikum musste er wiederholen. Aber meine Güte, wen interessiert das heute?

    Der Weg, den er gegangen ist, bedeutete Mut, Disziplin und ein Festhalten an einem selbst gesteckten Ziel. Heute hat er zusammen mit seinem alten Schulfreund Bertram eine Gemeinschaftspraxis auf dem Land. Wenn sich bis heute nichts geändert hat, läuft sie gut.

    Hinter der Anmeldung hängen seine alte Polizeimütze und zwei Schulterklappen. Sie passen da nicht hin. Sie wirken fremd zwischen den Gerüchen von Desinfektionsmittel und Sterilität. Sie wirken dreckig zwischen dem ganzen Weiß. Sie sind Fremdkörper wie Fleischreste zwischen Zähnen, wie Fischgräten im Zahnfleisch.

    Er hat mitunter Polizisten als Patienten. Er würde nicht zurückwollen. Er hat eine intakte Familie und die Kohle für ein richtig hübsches Au-Pair. Sie ist nicht meine Altersklasse. Gleichwohl ist sie schneidig und sie ist volljährig. In der Hinsicht stünde nichts zwischen uns. ,‘Ne richtig scharfe Braut‘, würde Thilo sagen. Ich finde sie nicht scharf in diesem gewissen Sinne. Ich finde sie unheimlich weiblich, weich in ihren Formen. Sie hat zauberhaft makellose Haut und einen dunklen Teint.

    Ich wäre nicht abgeneigt, für eine Nacht, einen Augenblick, alles fallen lassen. Bedingungslos geliebt zu werden. Es wäre ein Augenblick des vergessenen Glücks.

    Auch ich bin gelegentlich Rolfs Patient. Mein Bruder fühlt mir auf den Zahn. Er sieht in meinen Mund. Er sieht direkt ins Innere. Er sieht Dinge, die er als Bruder nicht sehen sollte. Sagen tut er nichts. Ich kann zwischen seinen Fingern und den Werkzeugen im Mund ohnehin nicht sprechen. Er neigt dazu, besonders viel zu fragen, wenn ich nicht reden kann. Das muss entspannend sein: fragen, ohne Antworten hören zu müssen.

    Unsere Eltern hätten gerne gesehen, wenn Rolf Polizist geblieben wäre. Sie trauten Rolf das Studium nicht zu. Sie sahen ihn aus der Gesellschaft abrutschen, wollten vermeiden, dass Rolf vom Weg abkommt und das auf sie zurückfällt. Unsere Mutter verliert über ihre Sicht unserer Berufswahlen seit Jahren, eigentlich seitdem Vater tot ist, nicht mehr viele Worte. Sie sagt nur, dass sie stolz auf das ist, was aus uns allen geworden ist. Das und Was bleiben unklar. Das Wort ,nur‘ ist in diesem Zusammenhang eine Herabwürdigung ihrer Liebe, die sie uns schenkt. Sie würde uns lieben, egal welchen Weg wir gewählt hätten. Trotz aller vorherigen Zweifel und Bedenken.

    Und ich? Vielleicht hätte ich den Absprung schaffen sollen. Doch dann hänge ich zwischen Frühdienst und Nachtdienst einen Tag lang ab, genieße, dass die Kinder bei ihrer Mutter sind. Ich aale mich im Dasein des Nichtstuns und wüsste, ich wäre viel zu faul gewesen, das durchzuziehen, was Rolf getan hat. Heute ist der Zug abgefahren. Er ist längst angekommen, wo ich nie sein werde.

    Mein persönlicher Brokdorfeinsatz war einer von drei Atommülltransporten ins Wendland. Am ersten Tag wurden mir mit Flaschen, Holzlatten und Steinen beworfen. Beschottert wurden wir. An meinen Helm prallten mindestens zwei Steine. Der Helm hatte, als ich ihn damals in der Kleiderkammer zugeteilt bekam, neben den vielen Kratzern eine alte Blutspur rechts oben über dem Visier. Ich ahnte zu dem Zeitpunkt nicht, dass der Helm mit meinem Kopf darunter nochmals derart leiden sollte. Diese Zeiten hielt ich in Deutschland, naiv wie ich war, für vorbei.

    Am zweiten Tag regnete es in Strömen. Der Bahndamm war glitschig. Martin und ich mussten, wie die anderen aus unserem Zug, im Zweierteam die Demonstranten von den Gleisen tragen. Von den Gleisen bedeutete zudem den moderigen Bahndamm hoch. Nach dem ersten jungen Menschen, einer, wie wir sie waren, hatte ich die Schnauze schon so was von voll. Der fünfunddreißigste oder wievielte auch immer, wir hatten längst aufgehört zu zählen, war ein Bundestagsabgeordneter der Grünen. Ich schnallte das gar nicht. Mein Hirn hatte ich bei der stupiden Tätigkeit (wir hatten es immerhin mit Menschen zu tun) abgeschaltet. Erst als Martin ihn mit Herr XY anredete, war ich wieder bei dem, was wir taten. Dass Martin noch ein süffisantes ,Sie auch hier?‘ hinterher schob, brachte mir ein Lächeln auf die Lippen.

    Ich brachte dem Abgeordneten bei all meinen Mühen etwas Respekt entgegen, ohne es ihm zu sagen. Im Fernsehen, in den Nachrichten, sehe ich die Politiker für gewöhnlich aus den fetten Staatskarossen aussteigen und vom Auto zum Bundestag schlendern. Diese Passage wird gefilmt und gezeigt. Dass dieser hier bei dem schlechten Wetter auf den kalten Schienen saß und demonstrierte, machte ihn beinah sympathisch. Mit dem durchnässten Haar und dem Matsch an den Trekkingschuhen hatte er nichts mit dem Bild aus dem Fernsehen überein. Schwer war er. Nicht schwerer als die anderen, nicht der schwerste, aber schwer.

    In der Nacht danach wurden Martin und Helmut krank. Das Fieber stieg binnen Stunden auf knapp vierzig Grad. Sie hatten sich was eingefangen, von dem wir nicht wussten, was es war. Zunächst vermuteten wir wegen der nasskalten Witterung den Ausbruch einer Grippe. Tage später, als immer mehr erkrankten, zeichnet es sich ab, was es war. Es waren Legionellen, die uns krank machten. Die kamen anscheinend aus der Wasserversorgung der bis dahin seit Jahren nicht genutzten, völlig heruntergekommenen Kaserne.

    Es zog durch die Fenster. Es klapperte an allen Ecken und Enden. Die alten Spinde fielen fast auseinander. Unsere Zimmertür schloss nicht. Die Matratzen, wenn das, auf dem wir schliefen, dieses Wort verdiente, waren ranzig und klamm, dass wir trotz mitgebrachter Laken durchweg im Einsatzanzug schliefen. Ein paar von uns, darunter auch ich, waren mit dem Uraltmodell eingekleidet worden. Das hatte eine Kapuze. In dem Moment waren wir unendlich dankbar dafür.

    Wir stülpten die Kapuzen über den Kopf. In diesem Fall war das der Retter schlechthin. Der Ekel kennt keine Grenzen. Helmut ließ sogar seine Stiefel an. Kann sein, dass er das tat, weil er maßlos erschöpft war. Der Fußboden sah bei unserer Ankunft in Haus C aus, als wäre vor uns ein ganzes Heer durchmarschiert. Während der Zeit, in der wir dort hausten, wurde es, wie man sich unweigerlich vorstellen kann, nicht besser.

    In einem anderen Castoreinsatz waren wir in der eigens errichteten Containerstadt, die auf einer Wiese neben dem Zwischenlager protzte, untergebracht. Dass das dort nicht strahlt, habe ich nie geglaubt. Mit fünf Mann waren wir in einem üblichen Container mit Stockbetten eingelagert. Um Hände zu waschen, mussten wir etwa vierhundert Meter über die durchweichte Wiese gehen. Es regnete seit Tagen. Der Container war für fünfmal Schutzausstattung und zusätzlich Privatklamotten für circa zwei Wochen ziemlich eng. Eine Unterbringung dort ist temporär.

    Uns sollte jedoch keiner vorwerfen, wir wüssten nichts davon, was es bedeutet, auf diese Weise zu leben. Der Vergleich mag vielleicht hinken, doch sehe ich keine große Problematik darin, Flüchtlinge vorübergehend auf ähnliche Weise unterzubringen. Der Unterschied ist, dass sie nicht zu fünft einkaserniert sind und im Verhältnis zu uns andere Freiheiten haben, andre allerdings auch wieder nicht. Wir waren, wenn wir nicht im Einsatz waren, an das eingezäunte Zwischenlager gebunden. Da wir Zwölfstundenschichten schoben und wenn wir nicht arbeiteten, aßen, schliefen oder uns wuschen, war das Bedürfnis nicht besonders groß, Freiheiten auszuleben. Und wir wurden für das Leben dort bezahlt.

    Manchmal hatten wir den Wunsch, in Ruhe die große Notdurft verrichten zu können. Meist waren, wie uns durchnummerierte Container zum Schlafen und Dasein zugewiesen wurden, mobile Toilettenhäuschen zugewiesen. Auch draußen in den Einsatzräumen, auf den Feldern. Dort standen sie allerdings nicht derart zahlreich wie auf dem umzäunten Gelände. Draußen erlaubte sich der eine oder andere Demonstrant, ein Häuschen umzukippen. Ohne Rücksicht darauf, ob sich darin ein Mensch, sei es in Uniform oder nicht, befand. Mit Rücksicht

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