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NACHGEREICHT: Roman
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eBook396 Seiten5 Stunden

NACHGEREICHT: Roman

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Über dieses E-Book

Nachgereicht - eine biographische Collage. Im Zentrum ein junges Paar, Rita und Roland, das just während der Unruhejahre 1966 bis 1968 in ein gemeinsames Leben stolpert. In der nordbadischen Provinz abseits der Brennpunkte des Protests sind sie auf der Suche nach beruflicher und familiärer Identität, nach ihrem Platz in der Gesellschaft.
Die Handlung entwickelt sich entlang der Widersprüche aus ihren unterschiedlichen sozialen Milieus, zwischen bürgerlicher Anpassung und Aufbruch.
Der Zeitrahmen reicht bis in die Gegenwart. Die nächste Generation ist längst erwachsen und konfrontiert ihre Eltern mit neuen Widersprüchen. Der Wandel zu einer vernetzten Welt paust sich bis in den Alltag durch. Das alles verunsichert nun auch Rita und Roland in Beruf und Familie. Wie sollen, können sie darauf reagieren?

Der Roman überzeugt durch anschauliche Erzählsequenzen, durchaus mit Humor, und nimmt den Leser mit in Rolands geliebte Landschaft der Rheinebene.

Nachgereicht - auch in zeitgeschichtlichen Bezügen ein Beitrag, als Elterngeneration nicht sprachlos zu bleiben, Einblicke zu geben. Nach wie vor aktuell!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Aug. 2020
ISBN9783347097469
NACHGEREICHT: Roman
Autor

Roland E. Ruf

Der Autor, geb. 1939, ist in Karlsruhe aufgewachsen, lebt in Freiburg und schreibt seit 2010 unter dem Pseudonym Roland E. Ruf. Als Lehrer in Baden-Württemberg war er an verschiedenen Orten tätig, u.a. im Raum Bruchsal, im Rhein-Neckar-Gebiet und in Südwürttemberg. Der geografische Bezug in seinen Texten ist nicht zu übersehen (Kurzgeschichten, Erzählungen und ein Roman), ebenso wenig sein zeitgeschichtliches Interesse - beides bildet den Rahmen seines Erzählens, in dessen Mittelpunkt die Entfaltung von Persönlichkeit steht. Was er wahrnimmt, gibt er als Autor im Fluss erzählender Handlungen an den Leser weiter – verdichtet im Erleben seiner Protagonisten, ob in Ich-Form oder aus der Distanz des Beobachters. Präzise und einfühlsam, oft ironisch-kritisch mit einer Prise Humor. Dabei gilt sein Augenmerk dem wenig Spektakulären, dem scheinbar Alltäglichen. Die Protagonisten sind insoweit real, als ihre Lebensumstände, Wesenszüge und Erlebnisse collageartig der Wirklichkeit entnommen sind. Das gilt auch für den Erzähler Roland.

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    Buchvorschau

    NACHGEREICHT - Roland E. Ruf

    I

    Montag, 1. August 1966

    Halbzwölf - Stau vor der Neckarbrücke. Meter für Meter aufrücken im Gestank der Abgase. Schweißfeucht haften die Hände an den Griffen. Unter der alten Lederjacke klebt das Hemd am Körper. Trotz allem, ich bin in der Zeit.

    Nie wieder auf einen Motorroller! Das hatte ich mir vor Jahren geschworen, nach einem Unfall auf der Augusta-Anlage in Mannheim. Ein Pkw, aus einer Nebenstraße kommend, versuchte sich einzufädeln, stoppte plötzlich auf meiner Fahrbahnseite. Trotz Vollbremsung war der Aufprall nicht zu vermeiden. Ich flog über die Motorhaube, schlitterte auf Straßenstaub, bis es mich zur Seite schlug … und hatte unbeschreibliches Glück: nur Prellungen und Schürfwunden! Mein Zündapp-Roller war allerdings Schrott.

    Vier Jahre hat der Schwur gehalten, dann erwähnte Paul den Heinkel-Tourist, auf dem ich sitze - nach einem Todesfall abgestellt in einer Scheune. Das sechs Jahre alte Fahrzeug bot man mir zum Schrottpreis an. Schwur hin, Schwur her! Ich bin mit Motorrädern aufgewachsen und konnte nicht widerstehen.

    Paul handelt mit alten Möbeln aus Nachlässen. Dabei fällt immer wieder an, was ich brauche. Und ich brauchte praktisch alles für meine neue Wohnung. Versetzt nach Bruchsal, bin ich vergangenes Jahr im April mit Koffer und zwei gefüllten Bananenkartons eingezogen. Frau Bechtle, die Vermieterin, sah den Bedarf und erwähnte einen Altwarenhandel in der Stadt. So lernte ich Paul kennen.

    Noch immer scheue ich Fahrten in größere Städte, aber heute blieb mir keine Wahl. Die Chance wäre vertan, zur Fortbildung im Herbst zugelassen zu werden. Vor zwölf muss ich auf dem Sekretariat der Pädagogischen Hochschule sein und meinen Brief abgeben in der Hoffnung, dass er Professor L trotz der Semesterferien noch erreicht.

    Auch im konservativen Südwesten der Republik ist seit einiger Zeit die Reform des Bildungswesens im Gang. Die Volksschule, an der ich unterrichte, wird künftig Realschule im Aufbau sein. Für diese neue Schulart fehlen weitgehend ausgebildete Lehrkräfte. Deshalb können sich Volksschullehrer in drei Fächern nachqualifizieren. „Wenn nicht Sie, wer dann? Mit Ihrer Wahlfachprüfung in Geschichte erfüllen Sie doch bereits eine Voraussetzung!", hat mich die Schulleiterin schon vor Wochen nachdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen. Und nun verlangt die Schulbehörde eine inhaltliche Präzisierung meines Studiengangs Geschichte zur Anerkennung als drittes Fach.

    Als weitere Fächer habe ich Geographie und Chemie angegeben. Chemie habe ich zwar auf meinem gestückelten Bildungsweg nie gehabt, Frau Basler riet mir dennoch zu. „Naturwissenschaftlicher Unterricht liegt Ihnen doch! Keine Sorge, die Grundlagen in Theorie und Praxis vermittelt das Seminar, und bis bei uns Fachunterricht einsetzt, dauert es noch drei Jahre, ausreichend Zeit sich vorzubereiten. Also starten Sie!"

    So viel Zuspruch ermutigt, möchte man meinen. Erst am Wochenende habe ich mich entschlossen, die paar Zeilen zu tippen. Heute Morgen war es zu spät für Post und Bahn!

    Nach der Neckarbrücke fließt im Stadtteil Neuenheim der Verkehr noch immer zäh. Für mich nur auf einer kurzen Strecke, dann biege ich in die lange Blumenthalstraße ein, bin nach Minuten auf dem Hof der Hochschule.

    Zwanzig vor zwölf! Über dem verlassenen Gelände flimmert in Schlieren die Hitze. Im Schatten der Kastanien stelle ich den Roller ab und eile zum Hintereingang des Gebäudes. Menschenleere kühle Flure, nur aus der Aula tönt das Kofferradio der Putzkolonne. Weiter zum Verwaltungsbereich. Die Türen stehen weit offen. Als ich das Kuvert über den Tresen schiebe, komme ich mir vor wie ein ungebetener Besucher. Es ist noch dieselbe wortkarge Sekretärin wie zur Studienzeit. Die verzieht auch heute keine Miene, als ich mein Anliegen erkläre und wirft meinen Brief wortlos in einen Korb. Wann ich denn mit einer Antwort rechnen dürfe, erkundige ich mich vorsichtig. „Sie sind heute nicht der Einzige, aber vermutlich der Letzte!, sagt sie knapp, grinst nun doch und ergänzt: „Professor L will morgen vorbeischauen. Die Verlagspost, Sie kennen ihn ja! Sie greift nochmals nach dem Umschlag, stempelt rot EILT! über eine Ecke - und ich atme auf.

    Zurück auf dem Hof! - Nur das Tschilpen der Spatzen durchbricht die Stille. Während ich mich für die Rückfahrt richte, knirschen Autoreifen auf dem lockeren Belag. Ein blauer VW-Käfer parkt direkt neben meinem Roller ein, am Steuer eine junge Frau. Bevor ich das schwere Ding vom Ständer bringe, öffnet sich die Autotür und schlägt prompt an meinen Lenker. Für einen Moment blickt eine üppige Sonnenbrille zu mir herüber. Das dazugehörende weibliche Wesen schwingt die Beine aus dem Auto und zwängt sich - mit dem Rücken zu mir - durch die Enge zwischen unseren Fahrzeugen. Hätte die Lady nicht eine Minute warten können?

    Bei jedem ihrer zögerlichen Seitwärtsschritte schwingt zum Zopf gebundenes dunkles Haar, wie damals im Hörsaal in der Reihe vor mir. Unwillkürlich sehe ich genauer hin: Kopfhaltung, Figur und Bewegung, das alles kommt mir bekannt vor…. Kann das Rita sein? - Unsinn! Was sollte sie hier auch zu tun haben, zwei Jahre nach dem Examen? Und dann auch noch in Kostüm und Stöckelschuhen!

    Ende Dezember habe ich Verena, eine ehemalige Kommilitonin aus unserer Praxisgruppe, auf dem Bahnhof in Mannheim getroffen. Ungefragt berichtete sie, Rita seit dem Examen nicht mehr gesehen zu haben. Den Gerüchten nach sei sie verlobt und lebe jetzt irgendwo in Hessen. Verena war knapp in der Zeit, wandte sich aber nochmals um. „Am besten, du vergisst sie!" rief sie mir zu und verschwand in der Unterführung.

    Während ich den Motor anlasse, nimmt die junge Frau die Sonnenbrille ab, steckt den Brillenbügel in den Mund, geht ums Auto und angelt nach der Handtasche auf der Rückbank.

    Rita!

    Ich kann’s nicht fassen, schalte die Zündung aus, zerre den Roller wieder auf den Ständer. Meine Hände zittern, während ich den Kinnriemen am Helm löse. Brille und Helm rutschen mir übers Gesicht - von drüben Lachen. Dann ein Aufschrei: „Roland, du?" Mit ausgebreiteten Armen eilt Rita auf mich zu.

    „Was für ein Zufall! Mit dir hätte ich am wenigsten gerechnet! Verschwitzt wie ich bin, traue ich mich kaum in ihre Umarmung; so nahe sind wir uns auch noch nie gewesen. „Kurz vor zwölf! Gleich schließt das Sekretariat, sagt sie und fasst mich am Arm. „Komm bitte mit! Ja? Wir haben uns doch so lange nicht gesehen."

    Während wir über den Hof hasten, drängen sich Szenen aus der Studienzeit vor mein inneres Auge:

    Ende Sommersemester 63 - in ihrer Clique wartet Rita vor dem Hörsaal, entdeckt mich im Pausengetümmel, kommt auf mich zu und fragt nach einem Unterrichtsentwurf aus der Praktikumszeit. Ein Vorwand? Das weiß ich bis heute nicht.

    Wintersemester - Rita fehlt in der Vorlesung. Von Verena erfahre ich, sie liege im Krankenhaus, am Blinddarm operiert. Während der Dozent am streikenden Overhead-Projektor hantiert, schiebt sie mir einen Zettel zu: Anschrift und Zimmernummer.

    Mit Blumenstrauß stehe ich am nächsten Nachmittag an Ritas Bett, fasele von einem Zufall, der mir den Weg gewiesen habe. Sie schmunzelt: „Hat der Zufall einen Mädchennamen? Dann verschwindet der schelmische Zug um ihren Mund, und ihre Augen ziehen Wasser. „Roland, der Blinddarm war mit einem Eierstock verwachsen, beides musste entfernt werden! Ich kann wohl nicht mehr Mutter werden!, schluchzt sie. Der verbliebene würde die Aufgabe gewiss übernehmen, behaupte ich kühn. Das habe auch der Arzt angedeutet, sagt sie und faltet penibel das Blumenpapier.

    In der Woche darauf reichte Verena ein Kuvert mit Blumenmuster im Hörsaal nach hinten. Für Roland! Rita teilte mit, dass sie nun wieder zu Hause sei. Ob ich nach Schwetzingen kommen könne, um mit ihr zu lernen? Die Prüfung stehe doch an.

    So saß ich an den folgenden Samstagnachmittagen an einem Tischchen in der Ecke des Wohnzimmers eines großzügigen Einfamilienhauses und arbeitete mit ihr meine Mitschriebe auf. Ein einziges Mal sah ich den Vater. Mit energischem Schritt querte er von der Terrassentür aus den Raum, nickte uns zu - ein großer, hagerer Mann mit Bürstenhaarschnitt und angegrauten Schläfen – und verschwand durch die aufstehende Tür im Flur. Die Mutter, eine freundliche Frau, bot Kaffee an. Ich blieb bei Mineralwasser.

    Danach traf ich Rita nur noch flüchtig auf Fluren. Ich empfand mich benutzt.

    Zwei Minuten vor zwölf. - Als Rita nach der zugesagten Zweitschrift ihres Abschlusszeugnisses fragt, schaut die Sekretärin demonstrativ auf die Uhr, zieht eine Postmappe unter dem Tresen hervor und entnimmt ihr das Dokument. Rita rollt es, steckt es in die Handtasche und kramt nach der Geldbörse, murmelt vor sich hin: „Am besten gleich zum Schulamt damit! - „Sofern Sie dort noch jemanden antreffen!, meint die Sekretärin trocken und quittiert.

    Zurück über den Hof. - Wir haben fast die Kastanien erreicht, da hält Rita unvermittelt an. „Begleitest du mich eventuell auch zum Schulamt?, fragt sie unsicher. „Dann wäre ich nicht so alleine, falls es mit einer Stelle nichts wird. Du hast hoffentlich Zeit, sind ja Ferien.

    Zeit wozu? Zum Plaudern? Für einen Kaffee? Für einen Abschied mit der Beteuerung, sich bald einmal wiederzusehen? Ich bin noch in Gedanken, ob ich mir das antue, da hat sie bereits entschieden: „Also, dann komm! Wir nehmen die Tram, wie damals, als wir zur gleichen Zeit diese Sandsteinburg verlassen haben. Erinnerst du dich?"

    Na klar weiß ich das noch! Zum Bahnhof mussten wir beide. Ich erinnere mich aber auch daran, dass ich oft eine spätere Bahn nehmen musste, weil ich vergeblich auf sie gewartet hatte. Am besten du vergisst sie! schießt mir durch den Kopf. Ich schiele nach Ritas linker Hand. Trägt sie einen Verlobungsring? Ein schmaler, hellschimmernder, mit kleinem, blauem Stein fällt mir auf. Saphir in Weißgold? Den Diamanten in Rotgold gibt’s zur Hochzeit! Und nun braucht sie eine Stelle, weil der Auserwählte in Heidelberg promoviert - und ich bin mal wieder der nützliche Idiot. Zu spät, um mit einer Ausrede abzuspringen! So trotte ich neben ihr her, meinen diffusen Gedanken ausgeliefert.

    „Wohin hat es dich verschlagen?", durchbricht sie mein Schweigen im Plauderton.

    „Verschlagen? Zwar bin ich nicht im hinteren Odenwald gelandet, doch Dorf bleibt Dorf, antworte ich in gespielter Leichtigkeit. „Der Herr Rektor sitzt im Gemeinderat, ortsansässige Kollegen singen im Kirchenchor. Einer spielt die Orgel, ein anderer trainiert die Fußballjugend. So ist das in einer dörflichen Gemeinde, auch wenn sie bei Bruchsal an der Autobahn liegt.

    Rita lacht. „Deine Dorfschule ist offenbar nur mit trockenem Humor zu ertragen."

    „Manchmal ja! Als ich zum Beispiel am ersten Tag ins Klassenzimmer kam, sprangen die Kinder auf – eine dritte Klasse - und empfingen mich mit einem im Chor geleierten Guten Morgen, Herr Lehrer! Dann bedrückende Stille, bis ein Mädchen schüchtern fragte: Beten wir heute nicht?"

    „Und? Hast du mit ihnen gebetet?"

    Was betet ihr? habe ich gefragt und bekam zur Antwort: Das hat unsere Lehrerin aus einem Buch gemacht, und wir haben dann nur ‚Amen’ gesagt. Also habe ich mir kurzentschlossen ein Morgengebet ausgedacht, die Hände gefaltet und wohl in überzeugender Weise vorgetragen: Lieber Gott, bleib uns auch heute nah. Der Tag ist lang, und wir nicht nur zum Lernen da! Die Kinder klatschten in die Hände und riefen fröhlich durcheinander ‚Amen, Amen’. Ich war angenommen.

    „Und wie hat das Kollegium reagiert?"

    Bei Ihnen ging’s hoch her, Kollege Ruf! empfing man mich im Lehrerzimmer. Das dürfen Sie nicht dulden! Lassen Sie die Kleinen aufstehen und Kopfrechnen üben. Das hilft allemal! Der Rektor, im Kollegium ein Despot, gegenüber dem Rathaus ein Abnicker, der außer Kreide nur mittlerweile verschlissene Schulbücher ersetzen ließ, schüttelte missbilligend den Kopf. Ab diesem Moment wusste ich - sagtest du nicht verschlagen? -, wo ich gelandet bin."

    Rita kichert und rempelt mich mit der Schulter an: „Du, das ist pädagogische Wirklichkeit im 20. Jahrhundert! Hattest du in einer Dorfschule anderes erwartet?"

    „Mir war nicht zum Lachen! Hatte auch bald den unangekündigten Besuch des Schulrats zu überstehen. Gott sei Dank stand fest, dass die Kollegin, die ich zu vertreten hatte, nach der Geburt ihrer Tochter planmäßig zurückkehren wird. Ich beantragte die Versetzung; dem Rektor war’s nur recht."

    „Und wohin hat man dich versetzt?"

    „Nach Bruchsal an eine größere Schule, eine künftige Realschule. Vielleicht sogar vom Schulrat lanciert! Der hatte mich nicht abgebügelt. Im Gegenteil! Er war - von Kleinigkeiten abgesehen - einverstanden mit meinem Unterricht."

    „Scheint ja eine rühmliche Ausnahme zu sein, dieser Schulrat!" Oh je, ich würde ihr nicht wünschen, ihn kennenzulernen, diesen ehemaligen Offizier mit grauem Dienstkäfer.

    „Jedenfalls habe ich in Bruchsal eine vernünftige Chefin angetroffen, übergehe ich ihre Bemerkung, „und der Ton im Kollegium ist grundsätzlich auch ein anderer. Ich würde ja gerne bleiben, das ist aber von einer Weiterbildung abhängig. Deshalb bin ich heute nach Heidelberg gekommen, Rita. Ich brauche eine Bestätigung meines Wahlfachstudiums, um zur Fortbildung zugelassen zu werden. Als Volksschullehrer droht mir sonst die nächste Versetzung!

    „Ob Volks- oder Realschullehrer, die Bezeichnung hängt doch nur von der Schulart ab, an der man unterrichtet."

    „In Hessen vielleicht, rutscht mir heraus. „Bei uns brauchst du eine zusätzliche Ausbildung in drei Fächern mit Prüfung … und eine habe ich ja bereits.

    „Und du wohnst auch in Bruchsal?"

    Rita lässt sich nicht auf Hessen ein. Dagegen habe ich nichts zu verbergen und beschreibe meine Wohnsituation: zwei ineinander übergehende Zimmer in einer großen Etagenwohnung, Küche, Bad mit WC, sowie einen mit der Drogerie im Haus geteilten dritten Raum – mein ‚Schrankzimmer’.

    „Als Mitbenutzer von Küche und Bad?"

    „Eine Wohngemeinschaft wie in Berlin oder München? Nein, das habe sie nicht gemeint. „Rita, die zweieinhalb übrigen Räume auf der Etage nutzt die Drogerie zu Lagerzwecken.

    „Also im Ganzen eine recht große Wohnung!"

    Das mag sie so sehen, ihren Ansprüchen dürfte sie nicht genügen, allenfalls von der Größe her. „Und du, Rita? wechsle ich das Thema „Du bist doch offenbar dabei, dich in der Region beruflich zu orientieren. Mich nerven ihre Fragerei und mein förmliches Geschwätz!

    Ruckartig bleibt sie stehen. Ihr Arm schwenkt durch die Luft, als werfe sie voller Wut eine Tür zu. „Du, ich habe aufgegeben! Bin ausgebrochen, wo ich in der Zwischenzeit war! stößt sie heraus. „Fand mich total vereinnahmt, war nicht mehr ich selbst. Verstehst du?

    Wie sollte ich? Doch derart aufgebracht kenne ich die ‚sanfte Rita’ nicht. Eine ironische Bezeichnung von Verena, die ihrer Zurückhaltung nicht zu trauen schien, wenn es in der Praktikumsgruppe – außer mir alle weiblich - um Beziehungen ging.

    Ruhiger geworden, berichtet Rita, dass sie nun wieder bei den Eltern lebe, in der Vorschulgruppe eines Kindergartens ausgeholfen habe und jetzt Boden unter den Füßen brauche. „Wo auch immer, Roland! Abhängigkeit habe ich bis zum Erbrechen genossen. Auf meine vor Monaten beim Kultusministerium eingereichte Bewerbung um eine Stelle, kam letzte Woche endlich vom hiesigen Schulamt die Aufforderung, möglichst bald das Abschlusszeugnis nachzureichen. Deshalb bin ich heute nach Heidelberg gefahren. Nach wenigen Schritten bleibt sie abermals stehen und sieht mich nachdenklich an: „Roland, ist das nicht seltsam, dass wir uns hier aus schier ähnlichen Gründen wiedersehen? Man könnte fast an Fügung glauben.

    Ich hebe die Schultern und lächle dünn. Den von mir vermuteten Doktoranden gibt es wohl nicht, und die Verbindung in Hessen scheint gelöst zu sein. Ich überlege noch, wie ich möglichst gefühlsneutral nachfrage, da entdeckt sie auf der anderen Straßenseite eine Bäckerei mit Stehtischen. „Kaffee und Butterbrezeln, Roland? Im Schulamt ist entweder jemand da oder es ist geschlossen. Wir werden ja sehen! Auf die halbe Stunde kommt es jetzt auch nicht an."

    Die Kaffeemaschine beginnt zu zischen, Geschirr klappert. Ein Tablett wird mir über den Ladentisch zugeschoben. Vorsorglich nehme ich eine Flasche Wasser mit. Rita hat sich an einem der beiden Stehtische auf die Ellenbogen gestützt. Ich setze das Tablett ab und gieße Wasser in die Gläser.

    Geradezu gierig trinkt sie, starrt dann, das Kinn auf den Fäusten, an mir vorbei zum Schaufenster hinaus. „Als sei die Zeit stehengeblieben, so kommt es mir heute vor … vielleicht auch, als hätte ich gerade das Kino verlassen, Rita zieht den Kaffeebecher zu sich und rührt mechanisch, schüttelt den Kopf, … „nach einem miserablen Film. Das Zuckertütchen liegt ungeöffnet auf dem Tablett. „Und dann stehst du mir hier gegenüber. Sie tastet mit den Fingerspitzen die Salzkörner an der Brezel ab. „Wir haben uns schon einmal gut verstanden, Roland, … sie bricht ein Stück ab, dreht es in der Hand … „und dann war ich nicht mehr da. Ohne abgebissen zu haben, legt sie es zurück und blickt wieder auf die Straße. „So wird das für dich gewesen sein.

    Orakelhaftes Gerede! Schließlich weiß sie am besten, weshalb es so gekommen ist.

    Eine Großmutter mit Enkelin betritt den Laden. Die Kleine beschwatzt die Oma, die größere Tüte Gummibärchen zu wählen. Wir schauen amüsiert zu, wohl beide dankbar für die Unterbrechung.

    „Ja, so war das für mich", setze ich schließlich an und starre meinerseits auf die grüne Kunststoffbeschichtung des Tisches. „In Räumen und auf Fluren habe ich mich nach dir umgesehen. Eine Stimme sagte mir, dir hier zu begegnen, Rita – damals in unserem letzten Jahr in Heidelberg."

    Sie blickt nicht auf, lächelt nicht. Kennt sie den Film nicht? ¹ Das Suchen eines Mannes nach einer Frau, Gegenwart mit Vergangenem verschränkt, auf langen Wegen über Flure und durch barocke Räume.

    „Verständlich!, kommt leise von ihr, über den Kaffeebecher gebeugt. Wieder greift sie nach dem Brezelstück, kaut versonnen. Ich bin wie gelähmt. Damit etwas gesagt ist, wechsle ich das Thema: „Du, Ende April war ich überraschend im Krankenhaus. Sie sieht aus ihrer Grübelei auf. „Was war? - „Der Blinddarm musste raus. Das zu lange Teil lag unter der Leber. Fast Gleichstand zwischen uns! Nur habe ich keine Eierstöcke.

    Ich lache zwanghaft über meinen dümmlichen Scherz und breche ein Stück von der Brezel ab. Ihre Hand kommt über den Tisch, streicht über meine. „Oh Gott! Dein Blinddarm war vermutlich voller Eiter und hat die Leber angehoben! Das hätte schlimm enden können!"

    Wieder Schweigen. Wir kauen an unseren Brezelstücken.

    Unversehens schiebt Rita den Kaffeebecher zur Mitte, bückt sich nach der Handtasche unter dem Tisch. „Komm, machen wir uns auf den Weg, wir zwei von Blinddärmen und sonstigen Anhängen Befreite! Wir sind nun doch knapp in der Zeit. Es ist spät, aber hoffentlich nicht zu spät, das Schicksal hat demnächst Feierabend!"

    Die angebrochenen Brezeln lassen wir zurück. Auf der Ladenschwelle stolpert Rita. Ich bin einen Schritt voraus und reiche ihr die Hand, eher ein Anlass als notwendige Hilfe. Diese Hand halte ich fest, fühle, wie sie sich in meiner einrichtet. So geht sie neben mir, und mein Schritt ist mit einem Mal leicht.

    Wir erreichen das Schulamt - ein hohes Treppenhaus, wohltuend kühl – und folgen dem Hinweis Sekretariat. Entschieden geht Rita auf die Tür zu, klopft und öffnet, gibt mir Zeichen zu folgen. Vom einzigen Schreibtisch im Raum erhebt sich eine Dame. „Statt anzurufen, bin ich lieber gleich gekommen", beginnt Rita und entnimmt der Handtasche ein Schreiben sowie die Zeugniszweitschrift, reicht beides der Sekretärin. Ein prüfender Blick, ein gedehntes Ahaa! und die Bemerkung: „Da haben Sie aber Glück - an einem Ferientag! Die zuständige Schulrätin ist noch im Haus." Daraufhin verschwindet sie im Nebenraum. Man hört gedämpfte Stimmen, das Rücken eines Stuhls - Vorzimmeratmosphäre.

    Eine hagere Frau im hellgrauen Hosenanzug tritt durch die Verbindungstür, grüßt freundlich. Auf deren auffordernde Geste hin geht Rita voraus. Ich bin auf Warten eingestellt und sehe mich um. Bevor ich in dem sparsam möblierten Raum eine Sitzgelegenheit ausmache, schaut die Schulrätin zu mir. Ich nenne meinen Namen, füge an, dass ich Studienkollege sei und nun Lehrer in Bruchsal. Sie stutzt. „Ich meine Sie zu kennen, Herr Ruf. Aber bitte, treten Sie ein. Als junger Kollege wissen Sie ja, was ansteht."

    Fragend sehe ich Rita an. „Bleib!", flüstert sie.

    Frau Sieber – so hat sich die Dame vorgestellt – lächelt, bietet Plätze an. Eine Frau um die Fünfzig, dunkelblonder Bubikopf, Fältchen unter den Augen, die gemeinsam mit ihrer unaufgeregten Mimik Vertrauen ausstrahlen. Die etwas linkischen Gesten dieser schlaksigen Dame tun ein Übriges; sie wirkt echt und spielt nicht die Vorgesetzte. „Einen Moment bitte, bin gleich soweit! Dann zieht sie gelassen eine dünne, rote Mappe aus dem Aktenstapel auf dem Schreibtisch und eröffnet Rita, dass sie nach den Ferien den Lehrauftrag einer erkrankten Kollegin in Leimen übernehmen könne. „Eine dritte Klasse, Fräulein Pradel, außerdem acht Stunden katholische Religion von Stufe eins bis vier. Die Kollegin war die einzige mit kirchlicher Lehrbefugnis. Ihre Rückkehr ist leider ungewiss. Eine andere Stelle in der Nähe kann ich derzeit nicht anbieten. Sie lehnt sich zurück.

    Eine dritte Klasse, kein schlechter Einstieg! - Kinder, die Schule kennen, bereit sind zu vertrauen, sobald sie merken, dass es um sie geht.

    Rita schaut auf ihre Hände, wirft einen Blick auf mich, richtet sich auf und sagt zu. Frau Sieber entnimmt der Schublade am Schreibtisch ein Formular – den Personalbogen. Rita beginnt ihn auszufüllen. Frau Sieber schaut ihr kurz zu, zeigt auf eine Stelle, widmet sich erneut ihrem Aktenstapel, macht den einen oder anderen Vermerk. Beide Frauen sind beschäftigt.

    Ich sehe mich diskret im Raum um: Zwei nach Osten ausgerichtete Fenster, grüne Vorhänge und dunkle Büromöbel, an der Wand hinter dem Schreibtisch ein mächtiges Ölgemälde: Das Heidelberger Schloss im winterlich kalten Morgenlicht und darunter die Altstadt mit Neckarbrücke. Schneepolster auf Dächern, Mauervorsprüngen und kahlen Bäumen. Zum Frösteln dieses Winterbild im Sommer, vermittelten nicht die blassroten Partien der Morgensonne auf Schnee und Mauern einen Schimmer von Wärme.

    Rita reicht der Schulrätin den ausgefüllten Personalbogen. Die überfliegt ihn, erklärt das Einstellungsprozedere, nennt den Termin der Vereidigung - Stühle rücken. Im Grunde alles unkompliziert, ohne moralisches Geschwafel über die Bedeutung des Amtes eines Lehrers, wie ich es in gleicher Situation hinzunehmen hatte.

    Bevor ich nach Rita den Raum verlasse, berührt mich Frau Sieber am Arm: „Soeben ist mir eingefallen, woher ich Sie kenne, Herr Ruf. Nicht wahr, Sie waren einer der Studentenvertreter an unserer PH." Sie erinnert an eine Veranstaltung des AStA mit Lehrerverbänden zum Thema Schulreform und Lehrermangel in der Aula. Mit Dozenten und Vertretern der organisierten Lehrer saß ich auf dem Podium. „Und nun? Sind Sie weiterhin standespolitisch engagiert? Ich erwähne mein Vorhaben. „Na schön, dann machen Sie mal den nächsten Schritt – nun lächelt sie verschmitzt - „und Fräulein Pradel mit Ihrer Unterstützung den ersten in die pädagogische Wirklichkeit."

    Vor der Treppe wartet Rita. „Über dich weiß die Frau ja jetzt Bescheid, empfängt sie mich kühl. „Aber was uns beide hierhergebracht hat, die Frage hat sie nicht gestellt. Wie hätte ich ihr das auch erklären sollen, etwa als nachhaltigen Service eines ehemaligen Studentenvertreters?

    Energisch wirft sie den Kopf zurück, wendet sich der Treppe zu und nimmt die ersten Stufen. Ich taumle eher, als ich gehe, an ihr vorbei und bleibe eine tiefer stehen. „Du, aber ich weiß es jetzt!, würge ich hervor. „Was, Roland?, fragt sie leise. „Ich bin hier, weil ich … ja, weil ich dich nie mehr irgendwohin verschwinden sehen möchte. Zögernd kommt sie die Stufe herab. „Ist das wahr? Meine Hände gleiten an ihren Armen hinauf zu den Schultern. „Ja, Rita, das ist so! Ich hole Luft. „In dem Moment, als du auf der Ladenstufe gestolpert bist, wurde mir mit einem Mal klar, dass ich … , ja, dass ich dich noch immer liebe. Es ist heraus!

    „Roland, sagt sie fast unhörbar, umfasst mich, flüstert an meiner Halsgrube: „Und ich … ich liebe dich auch … noch immer! An Hals und Wange spüre ich ihren Atem, ihr warmes Gesicht. Sie fühlt sich so leicht, so zart an, wie ich mir das in meinen Träumen vorgestellt habe. So stehen wir auf der Treppe, ohne etwas zu sagen. Ihre Finger gleiten an meinem Nacken hinauf, drücken meinen Kopf an ihren. Ich fühle Feuchtes an der Wange. Sie hebt den Kopf, ihre Lippen suchen meine, und mir schwinden Ort und Zeit.

    „Endlich! Rita nimmt mein Gesicht in beide Hände. „Auf diesen Augenblick habe ich heute gewartet, seit du plötzlich wie aus dem Nichts vor mir gestanden bist. Mit einem Mal war alles wieder da, was ich in den vergangenen beiden Jahren verdrängt habe. Sie presst erneut ihr Gesicht an meine Halsgrube und schluchzt, es schüttelt sie regelrecht. Ihre Rührung macht mich völlig hilflos. Ich halte sie fest - sehr fest! -, streichle über ihren Rücken. „Damals im Krankenhaus … wollte ich dir sagen … dass ich … stammle ich. „Ach Rita, du warst so unerreichbar für mich!, bringe ich schließlich heraus.

    „Hast du ein Taschentuch? Ich greife in die Hosentasche. „Hier, gebügelt und ungebraucht. Sie tupft sich die Tränen aus dem Gesicht. „Das ist vorbei, ich will dich auch nicht mehr fortlassen." Das geknüllte Taschentuch drückt sie mir in die Hand.

    Über uns fällt eine Tür ins Schloss. Ein älterer Herr mit weißem Bart kommt die Treppe herab, nimmt mit Bedacht Stufe um Stufe. Auf unserer Höhe angelangt, schmunzelt er und geht vorüber. Wir sehen uns an: Für mich ein Déjà-vu, auch aus irgendeinem Film. Nur aus welchem? – Wohl Kinotag heute! schießt mir erbarmungslos unromantisch durch den Kopf. Unten angelangt, hält der Herr die Tür auf, als habe er auf uns gewartet. Sommerhitze schlägt uns entgegen. „Ungewöhnlich heiß heute!, sagt er und mahnt: „Trinken Sie viel, öfters als üblich! Bei solchen Temperaturen trocknen leicht Herz und Hirn aus. Er lächelt verständnisinnig, nickt und geht seiner Wege.

    Unsere Arme um die Hüften gelegt, habe ich Mühe, mich Ritas Rhythmus anzupassen. In Gedanken versunken übersehen wir die Haltestelle der Straßenbahn. In welche Gedanken? – Für Rita kann ich das nicht sagen. Es sind Bilder, die über meine innere Leinwand huschen, wie vorhin auf dem Hof, zufällig in der Abfolge – oder doch nicht? Rita vor meinem Motorroller, Rita in der Bäckerei, Rita im Schulamt - Ich kann Ihnen keine andere Stelle anbieten - und vorhin auf der Treppe. Auch der ältere Herr kommt darin vor, und plötzlich ahne ich, an wen er mich erinnert: An den Professor im Treppenhaus in einer Schlussszene.²

    Bei jedem Schritt berühren sich unsere Körper. Ich muss mich nicht kneifen. Ich spüre sie – und das ist kein Film!

    Nach Minuten kommt verhalten von der Seite: „Roland, erinnerst du dich noch an deine Deutsch-Stunde am letzten Praktikumstag? Aus meiner Tagträumerei geholt, bleibe nun ich überrascht stehen. Wie kommst Du jetzt darauf?

    „Na ja, ich habe gestaunt, wie du es geschafft hast, die quirlige Klasse mit deiner Einführung so zu faszinieren, dass sich die Kinder anschließend auf die Geschichte im Lesebuch geradezu gestürzt haben. Ich kannte ja deinen Entwurf, hätte aber in der realen Situation Probleme gehabt, ihm auch zu folgen."

    „Rita, es war eine Lehrprobe! Das spüren auch die Schüler und erwarten mehr, als den gewöhnlichen Stundenverlauf. Darauf war ich vorbereitet. Außerdem sind zwei Dinge zusammengekommen: eine für Kinder dieses Alters spannende Erzählung vom Kampf um eine Burg und ein Poster von der Wehranlage auf dem Dilsberg - zufällig entdeckt im Aushang des Verkehrsvereins."

    „Ach geh! Deine Art zu unterrichten ist doch nicht planbar. Du bist ein Naturtalent. Daran habe ich mich erinnert, als ich das Abschlusszeugnis in Händen hielt und mich fragte, ob ich es jemals schaffen würde, mit Kindern Stunde um Stunde zurechtzukommen. In Träumen stand ich immer wieder vor dem Portal eines düsteren Dorfschulhauses. Irgendwo lärmte eine Klasse – meine Klasse. Albträume! Was sollte ich tun? Auf Drängen meiner Eltern entschied ich mich schließlich, ein Germanistikstudium anzuschließen. Sie verlangt erneut nach dem Taschentuch, schnäuzt sich umständlich. „Das Studium habe ich im dritten Semester gesteckt, um es gleich zu sagen.

    „Und weshalb? Sie stopft das Tüchlein in die Tiefen ihrer Handtasche. „Roland, es ist so, sagt sie und schmiegt sich an, „dass ich eben - zugegeben etwas plump - nach einem Übergang gesucht habe, um dir meine Geschichte des letzten Jahres zu erzählen. Du liebst mich, da kann ich dich doch nicht im Ungewissen lassen und peu à peu die Wahrheit hervorholen. Auch wenn ich dir viel zumute, hör mir bitte zu!"

    Weshalb dieser konstruierte Einstieg? Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl…. und sie lockert den Halt.

    „Alles nahm seinen Anfang auf dem Stiftungsfest der Verbindung meines Vaters letztes Jahr im Sommersemester", beginnt sie monoton, als lese sie den Text ab und fährt in gleicher Weise fort: „Dort lernte ich einen jungen Mann kennen, hochgewachsen, selbstsicher, charmant und weltläufig gebildet. Wo war der nicht schon überall in Europa und Amerika! Und er konnte mitreißend erzählen, eine absolute Ausnahme in der stupiden Atmosphäre dieser alkoholseligen Männergesellschaft. Als die Bücher mit den Kommersliedern rumgereicht wurden, meinte er, Ännchen von Tharau wird Ihnen nicht fehlen! und forderte mich zu einem Spaziergang auf."

    Sie unterbricht und sieht mich an, als hoffe sie auf …? Ich weiß es nicht! Nur widerwillig habe ich bis jetzt zugehört und schaue auf das Pflaster. Das scheint sich nun unter meinen Schritten zu bewegen.

    „Roland!", verlangt sie meine Aufmerksamkeit. „Ich empfand

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