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Verfluchte Städte
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eBook421 Seiten5 Stunden

Verfluchte Städte

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Über dieses E-Book

Verfluchte Städte. Verlassen liegen sie da. Niemand hat sie seit Jahren betreten. Viele Gebäude sind bereits verfallen. Dicke Staub- oder Schmutzschichten überziehen alles. In den Häusern findet man zum Teil aber noch alles so vor, wie es verlassen wurde.
Warum? Was ist dort geschehen?
Die Wahrheit, die Geschichten, die sich hinter diesen Geisterstädten verbergen, haben wir in dieser Anthologie für Sie zusammengetragen und so geordnet, dass sich der Gruselfaktor von Geschichte zu Geschichte steigert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Okt. 2016
ISBN9783946381136
Verfluchte Städte

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    Buchvorschau

    Verfluchte Städte - Anett Arnold

    Anett Arnold: Stadt der Bilder

    Ich wohne allein in meiner Stadt. Keiner klopft an meine Tür – an eine meiner vielen Türen. Niemand begegnet mir auf den Straßen. Nur der schneidende Wind fegt um meine Beine.

    Ein Rabe krächzt mir zu. Er begrüßt mich und die Ratten, die mich aus den Ecken mit ihren glänzenden, kleinen Augen beobachten. Sie warten darauf, dass auch ich die Stadt verlasse, damit sie sie übernehmen können.

    Ein Königreich für Ratten!

    Ich streife durch die Straßen. Häuser zerfallen vor meinen Augen. Ich schrecke nicht mehr zurück. Ich bin daran gewöhnt.

    Schaufenster, an denen sich einst Kindergesichter platt drückten, sind längst undurchsichtig vom Dreck und Alter.

    Vielleicht war dies einmal ein Süßigkeitenladen gewesen, vielleicht ein Bordell. Wer weiß es schon. Es interessiert niemand mehr.

    In den Gassen, den kleinen verwinkelten, fliegt Asche durch die Luft. An den Wänden hängen unzählige Porträts von fremden Menschen – Frauen, Männer, Kinder. Das Papier flattert im Wind, die zerrissenen Ecken wehen, als würden sie auf mich zeigen, als würden sie mir etwas sagen wollen. Aber ich spreche ihre Sprache nicht.

    Mehrere hundert Augen starren mich ständig an. Sie starren auf mich kleine Person, und ich komme mir unbedeutend vor. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin und woher ich komme. Ich bin einfach hier und lebe damit.

    Viele Bilder sind alt. Sie sind manchmal kaum noch zu deuten. Ich gehe näher ran, um die Seele in den Augen der Menschen zu finden. Wenn ich fast meine Nase auf die fahlen Blätter presse, kann ich sie erahnen. Aber das Erahnen, das Nichtwissen oder auch das Wissen, dass ich sie nie genau erkennen werde, macht mich traurig.

    Ich weine nicht mehr. Tränen werden in meiner Stadt zu Staubkörnern, die sich mit dem Nebel vermischen und den Himmel grau werden lassen. Hier müssen schon ziemlich viele Menschen geweint haben. Wahrscheinlich ist es deshalb immer grau.

    Irgendwann werden die Bilder verblassen, diese ungezählten, unbeweinten Bilder.

    Unter jedem einzelnen Gesicht darauf steht nur ein Wort. Und das viele hundertmal.

    VERMISST.

    Tagsüber besuche ich die leeren Häuser. Staub und Spinnen haben es sich darin gemütlich gemacht. Hier und da fällt ein Ziegel herunter, bricht ein Balken ein. Lose Tapeten hängen von den Wänden. Ich besteige morsche Treppen und sehe fahle Kinderbettchen. Nur die Spieluhren darüber funktionieren noch. Die Melodien klingen aber langsam und verzerrt. Ich lasse sie nicht mehr spielen. Sie machen mir Angst, bin ich doch stets alleine mit mir und meinen leisen Schritten. Die Einsamkeit klebt mir wie Staub im Mund. Sie schmeckt bitter.

    Ich wünsche mir, ein Kind würde in einem dieser zernagten Betten liegen. Ein Baby, hilflos und schutzbedürftig, das ich hüten und halten kann, das mir das Gefühl gibt, nicht der Einzige zu sein.

    Was sage ich! Selbst ein zahmes Eichhörnchen würde mir als Gesellschaft genügen.

    Zu Beginn hatte ich noch Angst, eine Urangst vor dem Unbekannten, vor den dunklen Ecken. Nun fühle ich mich in ihnen fast am wohlsten. Die Zeit macht komische Dinge mit einem. Sie macht komische Dinge mit mir.

    Auf manchen Tischen stehen noch Teller und Gläser. Alle Messer und Gabeln überzieht eine dicke Schmutzschicht. Kein Windhauch wehte den Staub jemals davon, und nun ist er zu schwer geworden. So weit dringt die Außenwelt nicht in diese Mauern ein. Der Wind, der durch die größtenteils zerstörten Fenster dringt, zerrt lediglich an den von Motten zerfressenen Vorhängen. Ich habe diese Scheiben schon vor langer Zeit mit Steinen eingeworfen, nur um ein anderes Geräusch, außer dem Scharren der Nagerfüße auf den Dielen und meinen flachen Atem, zu hören.

    Ich kann mich an Sonnenschein erinnern, an Strahlen, die aus dem Himmel kamen. Früher. Sie wärmten mich und die Menschen, die ich liebte. Seit einer gefühlten Unendlichkeit hängt aber nun eine Wolke über meiner Stadt, die kein Licht hineinlässt. Ich lebe in ständiger Dämmerung. Zumindest fühlt es sich so an.

    Bin ich vielleicht die Dämmerung? Ich verschmelze reibungslos mit den dunklen Hauseingängen, den leeren Straßen. Bin ich aus Asche und Staub gemacht?

    Manchmal ist mein Gesicht in den alten Spiegeln der Häuser kaum zu erkennen, und ich habe furchtbare Angst zu vergessen, wie ich aussehe.

    Wer bin ich? Wer bin ich nur?

    Mit mir hausen die Ratten, die Spinnen und Motten in den Räumen. Jede Nacht schlafe ich in einem anderen Haus, in einem anderen, modrigen Bett. Überall riecht es nach Alter und vergangener Zeit. Jederzeit könnte das jeweilige Dach auf mich stürzen, mich begraben, und nie würde jemand versuchen können, mich zu befreien.

    Ich weiß nicht, ob ich sterben kann. Bisher ist es mir nicht gelungen. Vielleicht würde ich ewig unter dem faulenden Holz liegen und nur noch hören können, weil die Welt endgültig kein Licht mehr für mich hat.

    Ich bin schon mehr als einmal nachts aufgewacht durch das laute Krawumm eines einstürzenden Hauses. Am nächsten Tag suche ich es stets und lege eine getrocknete Blume darauf.

    Ich habe schon viele Blumen verteilt.

    Unser Rathaus hatte mal eine wunderschöne Uhr. Heute zeigt sie keine Zeit mehr an. Der Stundenzeiger liegt auf dem Weg davor. Der Minutenzeiger ruckt ab und zu einsam einen Schritt nach vorn – manchmal auch zurück. Aber nie, wenn man hinsieht. Es ist, als ob er sein Geheimnis für sich bewahren möchte. Als gäbe es in dieser Stadt noch nicht genug Geheimnisse!

    Auf dem Platz vor dem Rathaus fanden einst Jahrmärkte statt, Feste, Hochzeiten und Trauerreden. Nur die Trauerreden sind geblieben. Die Raben schreien sie in die Nacht.

    Ich suche mir ein neues Haus. Ein anderes Haus. Mein Haus. Jedermanns Haus. Niemandes Haus. Ich gehe an den Plakaten mit den vermissten Gesichtern darauf vorbei und merke, dass ich keins davon vermisse. Ich weiß nicht, ob das schlimm ist.

    Ein neues Haus! Da ist es. Ein großes, besonders schönes steht vor mir. Der Eingang ist aus edlem Marmor, eine Treppe erhebt sich vor mir – wie in einem Märchen.

    Vor meinem inneren Auge sehe ich schmale Frauenfüße in feinen Schuhen über die Stufen huschen, hinein zum Liebsten, hinein zum Feuer, um sich zu wärmen – an beidem. Ich kann ihr kokettes Kichern hören, ihren Augenaufschlag sehen, ihren Herzschlag spüren, der wie ein aufgeregter Welpe springt, und habe den Geschmack von erster Liebe im Mund. Neid zerfrisst mich, weil ich all das nicht fühle. Ich bin mir jedoch sicher, dass sie einmal hier lebte. Bevor ich einen Schritt auf das Haus zugehen kann, berührt ihr Bild meinen Fuß. Zwar kann ich nicht ihre feinen Schuhe sehen, aber ich bin mir fast sicher, die Seele in ihren Augen zu erkennen.

    Über den teuren Boden im Eingangsbereich fegen Laub und alte Zeitungen. Ein leises Trippeln verfolgt mich. Es kommt aus den Ecken. Meine treuen Begleiter lassen mich nie allein.

    Ein Klavier von beachtlicher Größe steht in einem Nebenraum. Seit Jahren wurde es nicht berührt. Kein Ton erklingt.

    Ich glaube nicht, dass ich spielen kann. Und selbst wenn, ich wüsste nicht für wen. Die Ratten sind es nicht wert.

    Ich bin schrecklich müde, immer so schrecklich müde, und doch treibe ich nicht auf schönen Träumen in farbige, warme Welten davon. Selbst dort ist mir Licht nicht vergönnt. Aber ich bin so fürchterlich müde. Also suche ich mir ein Bett. Nicht ihres, ein anderes.

    Ich werde schnell fündig in den vielen Räumen, die ich wie ein Dieb durchstreife. Dieses Gefühl kommt nie abhanden, obwohl in dieser Stadt alles den Raben und den Ratten gehört. Die haben sich jedoch noch nie bei mir beschwert. Manchmal glaube ich, sie sehen mich als einen der Ihren an.

    Ein Bett! Es ist weich und riesengroß, doch so alt und staubig wie jedes davor.

    Ich erwache aus einem Traum – grau in grau in grau. Töne erklingen. Sanft, sacht, zart. Sie schweben zu mir. Sie klingen so lebendig.

    »Für Elise« dringt in meinen Kopf ein, füllt ihn aus und lässt in meinem Inneren einen Orkan toben.

    Träume ich noch immer?

    Dichte Wolken durchziehen meinen schlaftrunkenen Kopf und doch pumpt mein Herz Adrenalin in jede Ader. Ich stehe binnen Sekunden unter Strom.

    Die Schwere fällt von meinen Gliedern ab, ich rapple mich auf und renne die anthrazitfarbenen Stufen hinunter.

    Keine Musik mehr. Kein einziger Ton. Nur ein Klavier ohne Spieler.

    Ich trete näher heran, und was ich sehe, lässt mich innerlich erzittern. Der Deckel wurde bewegt, der Staub beiseitegeschoben. Finger auf uralte Tasten gelegt. Die Töne waren tatsächlich erklungen.

    Suchend gehe ich durch den Raum. Meine Augen sind wie kleine Tiere, die ziellos jeden Winkel sondieren, aber nicht wissen, wonach sie suchen. Sie achten daher auf jede Bewegung, jede noch so kleine Regung.

    Und hinter einer Standuhr, dicht an die Wand gepresst, sitzt sie – ein Mädchen, vielleicht vierzehn Jahre alt. Sie trägt ein Nachtgewand, einstmals weiß und nun vergilbt. Sie drückt eine Stoffpuppe an sich. Ganz fest, als sei dies ihr Anker. Sie wirkt jünger, als es ihr Körper vermuten lässt. Sie zittert und sieht mich mit Augen, groß wie Teller, an. Ihr Bild hängt nirgends. Und ich kenne sie alle.

    Meine Hand streckt sich ihr entgegen und ich sage: »Spiel noch einmal. Bitte!«

    Sie blickt auf die fremde Hand, ist scheu und doch will sie Vertrauen fassen. Das kann ich in ihrem Blick sehen. Sie umfasst meine Finger, lässt sich zum Klavier führen, setzt die Puppe darauf ab und beginnt zu spielen.

    Mein Herz öffnet sich, in meinem Kopf sehe ich die Sonne.

    »Ich dachte, ich bin allein«, flüstert sie plötzlich. »Ich dachte, niemand sei mehr hier. Ich dachte, ich wäre jetzt vielleicht sogar für immer allein.«

    »Das dachte ich auch«, antworte ich. »Aber dem ist nicht so, wie du siehst. Was meinst du, ist passiert?«

    »Ich weiß, was passiert ist. Ich bin schon so lange hier, dass ich vieles gehört und gesehen habe. Eine Zeit lang waren viele andere hier. Dann waren sie weg. Aber es werden wieder Menschen kommen. Sie kommen und bleiben eine Weile, bis sie verschwinden.«

    Ich sehe sie verständnislos an. Nie kam jemand zu mir. Keiner Seele bin ich hier je begegnet. Niemals traf ich einen Menschen auf den öden, leeren Straßen. Ich war doch immer allein gewesen.

    »Wir sind in der Stadt der Vergessenen. Wir sind hier, weil uns niemand sucht. Also warte ich, bis vielleicht jemand an mich denkt. Bis jemand ein Wort verliert, das zeigt, dass ich geliebt werde und nicht vergessen bin. Ich will gefunden werden, aber langsam glaube ich, dass nie mehr ein Mensch einen Gedanken für mich haben wird.«

    Sie sagt es resignierend. Sie sagt es, als ob sie viel zu viel weiß, obwohl sie noch ein halbes Kind ist.

    »Du meinst, wenn ein anderer an uns denkt, verschwinden wir von hier? Was ist mit uns passiert? Sind wir tot?« Blässe breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ich weiß nicht, wovon dieses Mädchen spricht. Ich war doch schon immer hier – niemals woanders. Ich kenne nur diese Straßen und teile meine Tage mit dem Ungeziefer. Ich müsste mich doch erinnern.

    »Das weiß ich nicht. Es ist möglich. Aber selbst wenn, dann trauert niemand um uns. Keine Träne ist wegen uns geflossen. Wir müssen also einfach warten. Vielleicht werden wir dann auch zu einem Bild, weil wir vermisst wurden.«

    Meine Arme überzieht eine feine Gänsehaut. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Alles ergibt einen Sinn und doch wieder nicht.

    Tot kann ich jedenfalls nicht sein. Wenn mir auch sehr grau und matt zumute ist, so fühle ich mich doch lebendig.

    »Komm, lass uns dieses Gebäude verlassen, Klaviermädchen. Wie heißt du?« Ich habe mehr Wärme in meiner Stimme, als ich mir zugetraut hätte. Das Kind weckt etwas in mir, das verborgen war, und ich tanze innerlich, weil ich es wiederzuentdecken scheine.

    Ihre Stimme ist leise und brüchig, als sie sagt: »Ich weiß es nicht. Niemand konnte mir meinen Namen sagen. Und wenn ich darüber nachdenke, breitet sich eine große, schwarze Decke in meinem Kopf aus. Es ist gruselig.«

    Ich kenne dieses Gefühl. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen. Aber ich habe Angst, dass sie zurückschreckt. Berührungen sind so lange her. Und auch an Berührungslosigkeit kann man sich gewöhnen.

    »Ich möchte dich Elise nennen. Elise, das Klaviermädchen. Ist dir das recht? Nur so lange, bis du wieder weißt, wer du bist.« Ich spreche sacht mit ihr, leise.

    Genauso sacht nickt sie. Ein zartes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Vermutlich gefällt ihr die Vorstellung, wieder einen Namen, einen richtigen Namen, zu haben.

    Sie erhebt sich vom Schemel. Der Saum ihres Nachthemdes wirbelt Staubflocken auf, lässt sie im Dämmerlicht schweben.

    Wir gehen gemeinsam auf die Tür zu und wollen das verlebte Herrenhaus hinter uns lassen. Auch wenn es hier einst Feste gab, Wärme, Tanz- und Teegesellschaften, Liebesschwüre oder Streit, jetzt wirkt es nur noch traurig und transportiert eine trostlose Eleganz, die nicht mehr scheint und schimmert.

    Quietschend öffnet sich die Haustür und erlaubt uns, auf den Platz gegenüber zu sehen.

    Vögel kreisen kreischend über der zerbröckelnden Statue eines ehrenhaften Kriegers. Wie viele Schlachten er auch geschlagen haben mag, heute ist der Name auf der Tafel unleserlich. Er ist ein Namenloser wie ich, wie sie.

    Wir überqueren die Kopfsteinpflasterstraße und bleiben unter seinem in die Höhe gestreckten, abgebrochenen Schwert stehen.

    Die Luft ist kühl, und ich erkenne aus dem Augenwinkel, dass Elise die Arme um sich schlingt. Ich hätte an eine Decke denken müssen!

    Einige Meter weiter sehen wir einen Jungen mit Mütze und Hosenträgern – in Stein gehauen wie der Kämpfer neben uns. Er hockt auf dem Boden, als suche er einen kleinen Schatz. Sein Gesicht beginnt bereits porös zu werden, und mit jedem Windstoß verliert er mehr an Zügen.

    Neben mir atmet das Mädchen scharf ein, und ein Schauder durchfährt mich.

    »Ich verstehe. Ich verstehe endlich.« Sie klingt aufgeregt, spricht zu hoch und zu schnell.

    Mein Blick zeigt ihr, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie redet.

    Aufgedreht gestikuliert sie nun, anstatt sich weiter zu umklammern. »Siehst du sie nicht? Überall sind sie, auf dem Ast, auf der Bank, am Brunnen. Sieh dich um in diesem Park. Siehst du sie nicht?«

    Als würde sie einen Schleier von meinen Augen nehmen, nur mit diesen Worten, löst sich mein Unverständnis auf und ich sehe sie plötzlich. Sie alle!

    Ich bin noch nie zuvor hier gewesen. Dieser kleine Park ist mir nie aufgefallen. Es war ganz so, als hätte er sich vor mir versteckt, bis ich so weit wäre. Bis ich bereit wäre.

    Vereinzelt, nie nah beieinander, stehen Menschen jeden Alters, ob Mann oder Frau, ob Kind oder Greis, zu Stein erstarrt. Ein kleines Mädchen sitzt auf einem dicken Eichenast und lässt wohl spielerisch die Beine baumeln. Eine korpulente Dame um die vierzig, sitzt auf der Bank und scheint vertieft in ihre Handarbeit zu sein. Jeder Mensch, steif und stumm, macht etwas anderes. Ein alter Mann wirft Brotkrumen in einen ausgetrockneten See, der rissig und tot vor ihm liegt. Wie Geister aus einer anderen Zeit tauchen sie auf, versteckt zwischen Büschen und Bäumen.

    Ich beginne zu zittern. Nicht der Kälte wegen, sondern weil mir klar wird, was mit ihnen geschehen sein muss.

    Als neben mir feiner Staub in den Himmel schwebt, blicke ich traurig auf Elise.

    »Ich werde eine von ihnen.« Ihre zierlichen Hände sind zu Fäusten geballt, und die Staubtränen rinnen nur so aus ihren Augen. »Ich werde auch so, weil mich niemand vermisst. Irgendwann bin ich dann einfach aus Stein und stehe in diesem verfluchten Park der Steinmenschen. Ich will das aber nicht. Ich will, will, will das nicht.« Aus der erst leisen Stimme wird plötzlich etwas Wütendes, Lautes, und sie wirft sich in meine Arme, als wäre ich ihr letzter Anker.

    Ich umklammere das dünne Kind, und in diesem Moment weiß ich wieder, wer ich bin. Lion! Der starke Löwe. Der mächtige Löwe mit Flausen im Kopf und Abenteuerlust im Herzen. Meine Mutter sagte das oft zu mir, als ich klein war – ein Kind noch. Und ich war stolz darauf gewesen.

    Während der Umarmung fühle ich jedoch nicht sie, das Klaviermädchen, sondern ein anderes, etwas jüngeres Mädchen. Ich rieche ihr Haar und höre ihren Namen. Es ist der Name meiner Schwester. Annabell! Annabell, die ich liebte und beschützen wollte, solange sie lebt.

    Ich sehe uns, meine Schwester und mich, vor einem Haus in einer Kleinstadt stehen. Es war warm, ein wirklich warmer Maitag. Alles blühte und Annabell musste niesen wegen ihres Heuschnupfens. Dann fuhr ich weg zum Studieren in eine große Stadt. Meine Schwester weinte und ich mit ihr, denn ich liebte dieses kleine Monster, dieses Mädchen, das mein Ein und Alles war. Ich versprach wiederzukommen. Bald schon, in den nächsten Ferien, könne ich sie besuchen, und wir würden ins Kino gehen, nur sie und ich. Ich war ihr Beschützer, ihr Behüter. Zum Abschied sah ich ihr tief in die Augen, und ihre Seele war da, klar und frei. Danach fuhr ich in ein anderes, neues, aufregendes Leben.

    Doch plötzlich stand meine Welt in Flammen. Ich brannte lichterloh. Ich verglühte und wurde zu Asche. So zumindest ist das Gefühl, wenn ich an Annabell und meine Reise denke – eine Reise, die mich hierher führte.

    Eine große, schwarze Decke breitet sich über mir aus und nimmt mir die Sicht auf meine Schwester, auf mein vergangenes Leben irgendwo anders, auf alles vor der Stadt der Vergessenen. Irgendetwas Furchtbares musste passiert sein, denn ich erwachte hier.

    Irgendwann sind wir bestimmt zu lange hier, irren zu viele Jahre durch die zerstörten Straßen und schleichen wie Diebe durch verwüstete Häuser auf der Suche nach einem Zuhause.

    Vielleicht werden wir dann auch zu Stein erstarren. Und wenn sich die Blindheit von anderen, die dann hier stehen werden, verzieht, werden sie einen jungen Mann sehen, der mit Bällen jongliert, und ein junges Mädchen, tänzelnd unter dem stetig dämmrig dunklen Himmel.

    Elise weint in meinen Armen ihre lautlosen Staubtränen. Auf einmal sehe ich kleine, graue Wolken aufsteigen. Erst da spüre ich, dass auch ich weine.

    Irgendjemand muss doch an uns denken!

    Meine Stimme ist brüchig und scheint mir nicht zu gehören, als ich sage: »Elise, wir werden nicht zu Statuen. Wir werden nicht so kalt und hart. Hörst du? Wir werden geliebt, und bald schon sind wir hier weg. Ich verspreche es – uns beiden.«

    Ich möchte mir gern selber glauben, aber es fällt mir unsagbar schwer, denn die blinden Augen der Figuren, die einst echte, wahre, vergessene Menschen waren, starren uns an mit ihren sterbenden Gesichtern.

    Zwei große Augen schauen zu mir hoch – voller Zweifel, aber auch voller Hoffnung –, und ich merke, ich muss mir selbst vertrauen.

    »Lass sie uns rufen. Lass uns laufen und schreien und bitten. Sie müssen uns einfach hören. Es kann nicht sein, dass da niemand ist, der uns vermisst.« Ich klinge entschlossen, ehrlich, und unsere Tränen verweht der beständige Wind.

    Wir wenden uns ab von den kalten Gestalten und nehmen uns fest an die Hand. Wir laufen, laufen, so weit wir können, und wir rufen sie alle. Ich schreie den Namen meiner Schwester in den Himmel, gegen die Häuserwände, in die Gassen, und er erfüllt mich ganz. Elise ruft nach Mutter und Vater, Großeltern, nach irgendjemand, dem sie mal ein Lächeln geschenkt hat. Es ist wie ein lauter, trauriger Protest gegen diese erbärmliche Stille.

    Vögel fliegen auf und kreischen laut, als fühlten sie sich angegriffen. Mäuse und Ratten schauen uns verständnislos an und flüchten vor der unbekannten Gefahr, diesem unbekannten Leben.

    Nie hätte ich gedacht, dass meine Füße mich so weit tragen können. Und doch tun sie es, bis ich merke, dass Elise müde wird, dass sie ihre Energie verbraucht hat.

    Wir setzen uns auf den Gehweg und lehnen uns nah beieinander gegen die Wand eines alten Schuhgeschäfts. Ich lege meinen Kopf an den rauen Putz. In mir drin pulsiert alles. Erst als ich das Gewicht von Elises Körper schwer an meinem spüre, öffne ich die Augen und sehe, dass sie eingeschlafen ist. Armes, müdes Klaviermädchen. Leider sind wir immer noch hier. Immer noch vergessen.

    Das Kind ist ganz leicht. Ich spüre durch sein dünnes Hemd, wie mager es ist. Ganz nah des Platzes, auf dem wir standen und unser Schicksal sahen, bringe ich es in ein kleines, einst bestimmt gemütliches, Haus. Dort gibt es ein Zimmer für ein Mädchen – für ein Mädchen wie Elise oder Annabell –, und ich lege sie sacht in das Bett. Als ich sie zudecke, hoffe ich ehrlich und inständig, dass ich sie nie wiedersehe, dass bald ein Bild von ihr an den Wänden, den letzten intakten Fenstern, den Litfaßsäulen dieser Stadt hängen wird, dass irgendjemand sie erlöst.

    Ich gehe über die Straßen dieser Hölle. Es ist kälter geworden, und doch spüre ich diese Hitze in mir. Die Zeit verstreicht hier anders, zumindest kommt es mir so vor, und ich hoffe, dass Elise lange genug schläft, um den grausamen neuen Tag nicht sehen zu müssen. Diese Welt, unsere Welt, will uns Stück für Stück mit seinen scharfen Zähnen zerfleischen. Sie frisst den letzten Rest unseres Selbst. Das Klaviermädchen ist schon fast verschlungen. Sie wirkt durchsichtig, und ein tiefes Bedauern steigt meine Kehle hinauf.

    Wie weit bin ich wohl schon? Lion, der starke Löwe, hat seine Krallen verloren.

    Die Nacht ist vorbei. Wir haben es überhaupt nicht bemerkt.

    Ich möchte nicht schlafen. Ich bin nicht mehr müde und werde es vielleicht nie wieder sein, weil ich Angst habe, nicht mehr zu erwachen und nur noch Lion, die Steinfigur, zu sein.

    Die Ratten sehen mir spöttisch hinterher, als wüssten sie mehr als ich. Die Raben wünschen mir einen guten Morgen.

    Ich schweige sie an, denn meine Stimme ist heiser und mein Hals brennt. Ich habe zu lange geschwiegen und dann zu laut geschrien. Nun blute ich. Ich bin froh, noch bluten zu können. Es bedeutet, ich habe genug Leben in mir, um verletzt zu werden.

    Es dämmert schon wieder. Diese ewige Dämmerung!

    Ich gehe in eine alte Schule. Es zieht mich hinein. Hier, wo so viel Leben war, prangen so viele Bilder an den Wänden, auf den letzten ganzen Scheiben, auf dem Boden. Ich laufe über fremde Gesichter, und es tut mir ein wenig leid. Es sind neue dazugekommen. Dutzende. Können wir uns einfach nicht sehen? Sind wir blind füreinander? Lebt jeder in seinem eigenen kleinen Teil der Stadt? Waren sie vielleicht bis gerade eben noch hier, bin ich vielleicht nie allein gewesen? Reicht vielleicht mit viel Glück, mit etwas Glauben, wenn das junge Mädchen recht hat, wirklich ein Gedanke aus? Ich hoffe so sehr, dass sie recht hat.

    Wie lange wartet Elise wohl schon? Und wie lange ich?

    Ich gehe in ein Klassenzimmer. Stühle und Tische liegen im Raum verteilt, als sei ein Sturm durch das früher so lebendige Zimmer gefegt und hat in seiner Wut alles mit sich gerissen – auch das Licht. Oh, wie sehne ich mich nach Licht!

    Ich sehe mir die Wände an und plötzlich erscheint vor mir ein Bild. Ganz langsam, als würde eine unsichtbare Hand es malen – so voller Liebe und Geduld, dass es mir fast weh tut.

    Eine zarte Braue, eine kleine Locke, ein blasser Mund. Der ruhige Blick wirkt resignierend und doch ganz tief drin hoffnungsvoll. Der Buchstabe »V« erscheint und dann ein »E«. Langsam und sachte.

    VERMISST.

    Die Augen starren mich an. Ich sehe ihre junge Seele, die mir auf Wiedersehen sagt.

    »Für Elise« klingt in meinen Ohren. Die Melodie wird mich ewig begleiten. Das Klavier ist jetzt aber still.

    Das Mädchen hat einen Gedanken bekommen, und ich weine ein bisschen Staub. Wir haben uns also nicht umsonst die Kehlen wund geschrien. Ich habe nicht umsonst gehofft. Zumindest für sie.

    Sie ist weg, und ich bin wieder allein. Es schmerzt mich, nicht zu wissen, warum niemand mich vermisst, warum niemand an mich denkt. Ich kann doch nicht einfach ausgelöscht worden sein in ihren Köpfen.

    Annabell! Geliebte Annabell!

    Was, wenn sie auch hier ist und allein in einem alten, rostigen Bett liegt. Was, wenn sie Tränen aus Staub weint und sich fragt, ob denn niemand sie liebt.

    Annabell! Ich liebe dich, und ich hoffe, dass du nicht hier bist und darauf wartest, dass ich dich erlöse. Ich kann kaum mich selbst retten. Wie dann dich!

    Ich will sie suchen und weiß doch, dass ich sie nicht finden werde. Sie darf nicht an einem so tristen Ort sein. Allein die Vorstellung zerreißt mir das Herz – mehr noch als der Gedanke, dass niemand mich vermisst. Lieber aus Stein sein als das. Lieber sterben!

    Vielleicht kann ich die Regeln ja ändern.

    Ich schiebe einige Bilder auf der Tafel beiseite, stelle mich davor und beginne mit der Kreide zu malen. Sie fühlt sich angenehm an zwischen meinen Fingern, und sie färbt das Grau in ein Weiß.

    Ein Strich, eine Rundung, eine kleine Narbe am Kinn. Das Haar in der Stirn. Eine Lockenmähne. Das Wort.

    Ich warte, schließe meine Augen und denke einen Namen. Dann sehe ich mich um, ob etwas passiert.

    Ein Gedanke wurde gedacht. Jemand wurde vermisst.

    Zählt denn wirklich, wer den Gedanken hatte?

    Anett Arnold ist Wahl-Norddeutsche, Mutter von Zwillingsmädchen, Poetry-Slammerin und schon lange, bevor sie all das war, mit Herz und Seele Autorin.

    Christin Schäfer: Spuren im Staub

    Candelaria, 7. November 1918

    »Kate!« Er winkte der Gestalt in der Ferne zu.

    Sofort kam sie auf ihn zugerannt, ein Lächeln lag auf ihren Lippen.

    »Es hat wieder jemand erwischt.«

    Das Lächeln, welches das Herz eines jeden Mannes zum Schmelzen gebracht hätte, gefror in ihrem Gesicht. »Wen?«, fragte sie flüsternd.

    »Michael O’Donnell. Sie haben ihn gerade aus der Mine geholt.«

    »Oh Thomas!« Kate machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, sah sich um und nahm ihn dann kurz in den Arm. Niemand durfte sie so eng umschlungen sehen. Die Leute würden reden und sich über sie das Maul zerreißen. »Versprich mir, dass du nicht wieder dort hinuntergehst.« Kate nahm sein Gesicht in ihre zierlichen Hände. Eindringlich musterten ihn ihre blauen Augen.

    »Das kann ich dir nicht versprechen, das weißt du.« Es tat ihm leid, aber so war es nun einmal. Ohne die Minen würde die Stadt nicht lange bestehen.

    Kate seufzte. »Ich weiß, es ist albern von mir, das zu verlangen, aber ich habe Angst um dich. Angst, dass eines Tages jemand mir zuwinkt und erzählt, es hätte dich erwischt.« Sie hatte Tränen in den Augen.

    Jetzt nahm er sie in den Arm, sah sie liebevoll an und küsste sie. Er hatte dabei das Gefühl, als hätte er Hummeln im Bauch. Das war jedes Mal so, wenn er sie berührte – ihr wunderschönes Gesicht oder ihren grazilen, zarten Körper unter einem dieser atemberaubenden Kleider. Solange sie hier war und ihn haben wollte, würde er bleiben, egal was passierte.

    »Du darfst mich nie verlassen«, flüsterte Kate direkt an seinem Ohr, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Niemals, versprochen?«

    »Versprochen! Aber jetzt muss ich dir etwas zeigen.«

    Gegenwart

    »Wann sind wir endlich da?«

    »Rose, du hörst dich an wie ein Kind. Ich sagte doch, du hättest die letzte Abfahrt nehmen sollen. Jetzt sind wir irgendwo im Nirgendwo.«

    Rose seufzte. »Ich habe sie eben zu spät gesehen. Und ich bin so aufgeregt! Ich meine, wie oft gewinnt man schon …«

    »Ist ja gut, das hast du jetzt schon tausendmal gesagt.«

    Rose war als Journalistin für den besten Artikel des Jahres aus Nevada ausgezeichnet worden. Morgen sollte in Las Vegas die Preisverleihung stattfinden, aber Rose hatte riesige Angst, zu spät zu kommen.

    »Wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig, ich weiß es.«

    Matt verdrehte die Augen. »Rose! Beruhige dich mal! Wir drehen jetzt um, fahren zurück zu der Ausfahrt und sind in Nullkommanichts da.«

    Es war eine gute Entscheidung gewesen, ihn mitzunehmen. Matt war der einzige Mensch, der eine so beruhigende Wirkung auf sie hatte. Also wendete sie und fuhr die Strecke wieder zurück.

    Die Wüste war in orangefarbenes Licht getaucht, die Sonne hing knapp über dem Horizont. In drei, vier Stunden würde sie ganz verschwunden sein.

    Die Gegend hier schien abgeschnitten von jeglicher Zivilisation, wild, frei und ungezähmt. Rose sehnte sich nach einem Block und einem Stift. Sie wollte den Hauch des heißen Sandes einfangen, den Wüstenwind, den unglaublich klaren und weiten Himmel … Alles einfangen in ein paar Sätzen, mit den Wörtern als Gitter.

    »War die Ausfahrt nicht hier irgendwo?«, fragte Matt und riss sie damit aus ihrer Tagträumerei.

    »Ich glaube schon. Was machen wir denn nun?«

    »Vielleicht haben wir uns ja getäuscht und die Ausfahrt liegt noch vor uns?«

    Sie fuhren noch eine Weile weiter, bis Matt plötzlich aufschrie. »Da!«

    Rose zuckte zusammen. »Sag mal, spinnst du? Ich habe mich total erschrocken! Musst du mir so eine Angst einjagen, nur weil du die blöde Ausfahrt siehst?«

    »Ich wollte nur sicherstellen, dass du nicht wieder vorbeifährst«, erwiderte Matt mit einem

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