Hundestaffel: Roman
Von Stefan Abermann
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Über dieses E-Book
Stefan Abermann rekonstruiert in seinem Debütroman die Geschehnisse einer Woche im fatalen Beziehungskonstrukt dreier junger Männer. Seite für Seite verstrickt der Autor den Leser in Spannung und Unbehagen - und zeigt eindrucksvoll, dass seine Sprache das Leben gleichermaßen kennt wie das Geschichtenerzählen.
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Buchvorschau
Hundestaffel - Stefan Abermann
Temper
Davor
Im Nachhinein ist es vollkommen klar. Diese kaum wahrnehmbare Bewegung. Immer wieder taucht sie nun im Kopf auf, im Nachhinein hätte ich sie blind ausführen können. Dieses Zucken in der Hand. Ich sehe es aus allen Perspektiven. Es flammt auf unter dem Blitz aus dem Strobo, zeigt auf, entlädt sich und geht wieder unter. Jedes Mal verschwindet das Bild im Dunkeln. Denn es ist die Eigenschaft dieser kleinen Bewegung, dass sie unterdrückt und nicht wahrgenommen wurde.
Heute will ich diese Bewegung sehen. Ich will sie verstehen. Doch damals sah ich nichts mehr. Und nicht nur ich. Niemand sah mehr hin. Denn eigentlich interessierte es uns nicht mehr. Eigentlich zog alles nur wahllos vorbei. Eigentlich bekamst du das meiste sowieso nicht mehr mit. Es gingen Lichter an und aus, es gingen Sonnen auf und unter. Es war eigentlich nichts Besonderes; without you, nothing falls apart, nichts mehr einzigartig, alles eher eintönig. Und dann fingst du an dir einzubilden, alles würde immer weiterlaufen, sich ständig gleichförmig wiederholen. Du ergabst dich dem Strom. Und so pumpte es, klopfte es, gärte. Die Welt war zeitverzögert, Ereignisse erreichten das Hirn nur mit Verspätung, ein ewiges Déjà-vu in Endlosschleife. Es war ein Wettrennen: Wahrnehmung gegen Realität, die Wahrnehmung stets einen Schritt hinterher.
Doch was soll’s. Everything falls apart und es pumpt, es pumpt, es pum-pumpt, wie in einem Club, bei lauter Musik. Schlägt sich einem um die Ohren wie die Nacht, die Musik. Denn wahrscheinlich hast du nur zu viel getrunken – you, the perfect drug –, suchst kurz Halt an der Wand, während eine bunte Masse an dir vorbeischwimmt – you disappear – in der Masse, die nur noch aus farbigen Flecken besteht – lose control – in der Masse aus Musik, die dich stützt, die dir Halt gibt, dich trägt. Sie hält dich zusammen, hält dich am Laufen – your body’s moving, on its own. Und würdest du jetzt die Hand ausstrecken, um nach den Leuten zu greifen, würde sich unter deinen Fingern noch immer etwas regen. Aber es interessiert dich nicht mehr. Deine Hand pendelt weiter an deiner Seite, im Takt mit dem Beat. Und alles ignorierst du, alles Einbahnstraße – You corruptor! Everytimer! – alles Durchfahrtsmodus, alle Bewegungen unwichtig, außer deinen eigenen. Weil es pumpt, pumpt, pumpt, noch stärker, und alles sich verwischt hinter der Pastellkreide: Vollgas.
Wen interessieren stille Töne. Zum Teufel mit der kleinen Regung! – CHANGE MY PICTURE, FIRESTARTER! – nur die große Geste bleibt noch hängen. Was zu klein ist, um sich einzuprägen, geht unter. In dieser Zeit ist es die Eigenschaft von kleinen Bewegungen, dass man sie nicht aufnehmen kann. Man blendet sie aus. Sie sind nur dunkle Flecken in der Masse. Soll doch alles außer Reichweite rutschen! – Cause we can do, with some more poison.
Doch es kommt der Punkt, an dem deine Sicht wieder klar wird. Durchblick wie springende Scheiben. Momente, in denen du kurz an die Oberfläche gespuckt wirst – breath the pressure! – zum Luftschnappen. Die Musik wird stumm und deine Ohren taub, alles wallt auf in dir, die Augen klirren unter dem Druck. Dein abgestandenes Bier bekommt Angst vor der Musik, und der Bass scheppert durch den Becher, bis du mit ihm zitterst und bebst. Und mittendrin rücken sich die Kleinigkeiten plötzlich wieder ins Bild. Pumpen sich dir in den Kopf.
Es pumpt an der Bühne, auf den Brettern aus verdrecktem Holz, wo dein Blick sich in den Schatten verfängt und hängen bleibt. Der DJ namens Augenblick schickt den Flanger drüber, die Musik spaltet sich auf, die Spuren verschieben sich in der Zeit, nehmen Einbahnstraßen und vereinen sich zu einem Sound wie aus dem Inneren einer Tonne.
Verlagerung der Aufmerksamkeit des Erzählers ins Innere: Das bin ja ich! Hier! Dreh die Lautstärke hoch, in dir drin! Außerhalb von dir selbst hört das nämlich niemand! Meine Damen und Herren: Das ist unberührter Boden hier drin! Du bist der erste Mensch auf dem Mond! Vor dir liegt der endlos unberührte Staub! Doch in der Ferne zeichnen sich Spuren ab. Nur du siehst etwas, niemand sonst, niemand sonst bekommt es mit. Die Scheinwerfer werfen ihr Licht gegen ein Hindernis, ein Schatten schält sich aus ihnen, und ein schmaler Lichtstreifen drückt sich in die Bühnenkante. Du wirst Zeuge, wie sich eine Ameise langsam die Kante entlangarbeitet. Sie versucht ihren Weg zu finden, wagt sich weder an die Kante noch in den Schatten direkt neben ihr. Sie geht nur geradeaus – bereit, alles zu versuchen –, auch wenn sie nicht weiß wohin. Und du starrst sie an, gebannt und überrascht, dass etwas so Kleines so groß in dir widerhallen kann. Und gleichzeitig bist du nicht sicher, ob sich das Hochgefühl bis morgen in dir halten können wird oder ob die Ameise abrutschen wird, über die Kopfkante, runter in die mülligen Reste des Gesamteindrucks. Es wäre überraschend, wenn sich diese kleine Bewegung hier einprägen würde. In deiner Welt prägen sich Spuren höchstens in Vinyl ein. Doch du würdest dir wünschen, dass es diesmal anders sein könnte, dass die Ameise so eine Spur zurücklassen könnte, dort an der Kante, damit du ihr am nächsten Morgen folgen kannst.
Und dann?
Dann gehst du hin und erlöst das Vieh von seinem Leiden. Damage destructor. Crowd disruptor. Everytimer. Du erdrückst das Tier mit der großen Geste eines Fingerzeigs. Und es pumpt. Unter der Fingerkuppe. Alles läuft weiter wie zuvor. Und everything means nothing to you.
Hannes war wie die Ameise: Etwas, das ich weggewischt habe wie ein lästiges Insekt. Das war erst im Nachhinein klar, dass ich da etwas übersehen hatte und dass es da eine kleine Bewegung gegeben hatte, von mir hinuntergedrückt. Das passiert mir jetzt nicht mehr. Jetzt lege ich den Finger an, nicht darüber. Ich verdecke nichts mehr. Ich folge der Spur wie ein Stift einer Linie. Jetzt lassen wir alles nochmal vorbeitanzen und zählen die ganze Saubande ab. Also, haltet euch an den Händen, Kinder.
Let’s dance.
Mit der Erinnerung verhält es sich wie mit Fotos.
Als ich ein Kind war, waren meine Eltern begeisterte Fotografen. Sie dokumentierten die Höhepunkte meines Heranwachsens – die ersten Geburtstage ebenso wie das verquollene Gesicht nach dem ersten ausgeschlagenen Zahn. Sie hielten die Entwicklung der Familie fest – das verstörte Gesicht meiner Cousine, verloren in einem Erstkommunionskleid, das sich aus Angst vor dem Priester braun verfärbt hatte. Auf der nächsten Seite dann die Fotostrecke zum schleichenden Verfall meiner Großeltern, die Serie über das Zergehen und Dahinverfallen von Gesichtern, die wie Ziffernblätter zu sagen schienen, dass es unerwartet spät geworden war.
Man entwickelte die Fotos und klebte sie in Alben ein. Erinnerungen drängten sich auf den Seiten wie Menschen in einer Menge. Dazwischen Lichtblitze von Zusammenhängen: alles verschoben auf ein matt/glänzendes Abstellgleis. (Bitte gewünschte Oberfläche ankreuzen!) Wenn die Bände in unregelmäßigen Abständen ans Tageslicht geholt wurden, kämpfte sich die aufgestaute Vergangenheit wieder an die Oberfläche und begehrte für einen Moment auf. Aus den Seiten reckten sich unsere Gesichter von den Fotos wie bettelnde Hände durch das Fenster eines fahrenden Autos: „Bitte vergiss mich nicht, sagten die Fotos, „denn du warst einmal das, was du hier vor dir siehst.
Und doch hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass die Figur auf dem Foto nicht mehr ich war. Wenn das ich sein sollte, war ich nicht mehr sicher, ob es mich überhaupt noch gab. Ich saß in Diavorträgen meiner Eltern und bemerkte, dass mir der Mittelfinger in der Hosentasche aufging wie ein Taschenmesser. In stiller Verachtung saß ich solche Abende ab.
Auf den Fotos breitete sich auf Kodak-Moments das Gefühl hinterhältiger Peinlichkeit aus: Ich sah mich kindlich-stupide durch Gärten tollen. Ich sah mich Bällen und Drachen nachjagen, sabbernd wie ein gutgläubiger Schäferhund. „So ein liebes Kind!", hallte es durchs Halbdunkel, während der Projektor anerkennend brummte. Doch was auf den Fotos zu sehen war, wollte ich nicht mehr sein. Auf der Leinwand war ich ein gedankenloser Haufen Nachwuchs. Mit einer Mischung aus Abscheu, Mitleid, Neid und Furcht sah ich mir selbst ins Gesicht. Und schwor mir, aus den Fotos auszubrechen. Ich wollte erwachsen werden. Ich wollte kein Abbild von mir sehen. Sondern mich selbst – in Bewegung.
Wenn eine Kamera auf mich gerichtet wurde, hob ich nun abwehrend die Hand gegen die Linse. Mein Leben bestand nur noch aus einem Verlauf. Nichts blieb mehr hängen. Die Vergangenheit verlief sich. Ich war eine Festplatte in einem Computer. Eine eigenartige Maschine, die sich ständig drehte, um sich ständig neu zu überschreiben. Ständig wurden neue Erinnerungen generiert. Ich gefiel mir in meiner Geschwindigkeit. Ich hetzte dahin, der Wind pfiff mir durchs Haar. Ich vergaß, dass es je ein starres Bild von mir gegeben hatte, denn nun sah ich über seine Ränder hinaus. Ich stürzte mich gierig auf jenen Bereich, in dem das Glitzern des Fotos ruckartig ins Leben übergeht. Wenn man sich auf die Bewegung rund um das Foto konzentriert, wird der Inhalt des Bildes nebensächlich. Die Mitte wird von der Peripherie gefressen, das Zentrum erstickt an seinen Vororten.
Ich gebe zu, das Erinnern hatte so nicht mehr unbedingt den Stellenwert, den es hätte haben sollen. Und wahrscheinlich hätte ich gut weiterleben können, wäre mir nicht diese eine Woche in die Quere gekommen, in der eine kleine Bewegung alles umstürzte. Und jetzt, nach nur sieben Tagen „Leben", wünschte ich mir plötzlich, ich hätte das ein oder andere Foto gemacht. Denn im Moment muss ich mich zwingen, die Bilder wieder scharf zu bekommen, die aus dieser vergessenen Zeit noch übrig sind.
Ich kann nicht sagen, jemand hätte mich gezwungen, alles zu erzählen. Wem auch? Ich könnte mir einen Zuhörer erfinden. Einen Geheimagenten im Auftrag meiner Erinnerung. Jemanden, der mir hilft, Ordnung in die Gedanken zu bringen. Sind Sie bereit, James? Bleiben Sie an meiner Seite! Seien Sie meine Waffe gegen die Vergesslichkeit.
So schwer sollte es doch eigentlich nicht sein. Schließlich geht es nur um eine Osterwoche. Aber meine Anhaltspunkte für den Verlauf der Geschichte sind spärlich. Meine Stoßrichtung ist ein einziges Bild. Weniger noch. Eine kleine, unbedeutende Geste. Sie ist meine Achse. Und von ihr muss ich ausgehen. Von einer kleinen Handbewegung. Nicht mehr. Wie ein Marterpfahl steht diese Bewegung in meiner Erinnerung, als wäre sie die einzige, die ich aus meinem Leben jemals behalten dürfte. Dabei hatte ich schon geglaubt, sie vergessen zu haben. Wenn mein Hirn ein Meer wäre, wäre diese Erinnerung eine Flaschenpost – niemand weiß, wann und wo sie wieder an Land gespült wird. Es hat wohl einfach eine gewisse Zeit gebraucht, bis mein Kopf den entscheidenden Moment abgeschliffen hatte mit einem langen, gleichbleibenden Strom aus Hirn-Wellen und Gischt.
Erst jetzt bemerke ich, wie viel ich ignoriert habe; was alles in meiner nächsten Umgebung einfach an mir vorbeischwamm, ohne dass es mir zugänglich geworden wäre. Es leuchtete direkt vor meinen Augen auf, doch ich ließ die Schlaglichter passieren. Die rutschten einfach so ab ins Dunkel. Und das gilt nicht nur für den Ablauf dieser Osterwoche (nennen wir es die „Chronologie der Ereignisse"), es gilt auch für die Menschen um mich herum. Können Sie sich noch an die unbekannte Person erinnern, die Sie letzte Woche in einer Bar kennen gelernt haben? Schemenhaft, höchstens? Aber können Sie sich vorstellen, dieselbe Erfahrung mit Ihren engsten Freunden zu machen? Das Gefühl zu haben, Sie hätten sie erst vor einer Woche kennen gelernt? Wie Fremde, mit denen Sie aber doch den Großteil Ihrer Zeit verbrachten?
Meine Freunde sind mir in dieser Woche rätselhaft geworden. Ich weiß nicht, was ich über sie sagen könnte. Ich weiß nichts mehr. Ich weiß nichts über Anna. Ich weiß nichts über Bélisa. Leo ist mir ein Rätsel. Was kann ich noch über meine Freunde sagen? Dass wir nebeneinander Atemluft verbraucht haben. Sonst nichts. Wenn ich heute versuche, ihnen nachzuspüren, dann schiebe ich sie auf dem Feld meiner Erinnerung hin und her wie Spielfiguren. Ich stopfe ein bisschen Inhalt in leere Säcke. Ich kann mir heute nur erträumen, was sie vielleicht geträumt hätten. Die Zeichnungen, mit denen ich die Ränder ihrer Bilder ausfülle, werden ihnen wahrscheinlich nicht gerecht. An manchen Stellen muss ich ihnen erst eine Geschichte geben, um ihre Handlungen nachvollziehen zu können. Sie sind als Personen für mich so lückenhaft wie meine Erinnerung.
Was kann ich also über Hannes sagen? Noch weniger? Oder alles?
Hätte ich Hannes früher schon einmal beschreiben müssen, hätte ich gesagt, dass er wie ein Orden war, den man an die Brust gesteckt bekam. Hannes adelte. Wir verehrten ihn für das gewinnende Lächeln und den Hauch von Grandezza, den wir neben ihm abbekamen. Wir dankten ihm die Freigebigkeit, die großen Lokalrunden, die kleinen Geschenke. Wir schätzten die Konversationen, den Witz in der Stimme und den unermüdlichen Charme, mit dem er sich den