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Fayum und andere Erzählungen
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eBook161 Seiten2 Stunden

Fayum und andere Erzählungen

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Über dieses E-Book

Hans Augustin schildert in seinen Prosastücken "Fayum und andere Erzählungen" eine Welt, in der die Menschen den Boden unter den Füßen verlieren, die an unerwarteten Stellen aufbricht und wo vertraute Strukturen plötzlich zerbrechen. Geschichten über einen Vater, der seinen Sohn, den Bombenattentäter von Oklahoma, vor seiner Hinrichtung besucht; über eine Familie, die im Park ihr Sonntagspicknick einnimmt und Zeuge wird, wie die Welt auseinander bricht; über den Traum von Fayum; oder von einem Bauern, über dessen Hofidylle BSE hereinbricht. Dem Autor gelingt es wie schon in "Grosnyj", die LeserInnen in jene Welten zu entführen, in denen die Geschichten spielen: das Zen-Kloster in China, die nordafrikanische Wüste, die amerikanische Großstadt oder den Tiroler Bauernhof. "Verschenkte Geschichten" nennt Hans Augustin seine elf Prosatexte: Geschichten, denen man eigentlich einen Roman wünschen müsste. Aber er begnügt sich mit einer knappen, zurückhaltenden Schilderung, verzichtet auf ausladende Schilderungen und Charakterisierungen und überlässt es den Leserinnen und Lesern, sich weit über die Geschichten hinaus zu denken, einen "Roman" entstehen zu lassen.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum12. Mai 2014
ISBN9783709973486
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    Buchvorschau

    Fayum und andere Erzählungen - Hans Augustin

    Glossar

    Die Schwarze Witwe

    Ein paar von der Hitze verzehrte Blätter liegen am Platz, wo sonst die Busse stehen. Es ist nur eine Erinnerung. Im voraus. Ich überlege nur, was ich nachher wahrscheinlich nicht mehr zu denken imstande bin, denn dann werde ich tot sein. Jedenfalls in einem anderen Zustand.

    Nichts wird darauf hindeuten, daß ich hier war.

    Ein Glas Wasser wäre jetzt gut. Aber Wasser bläht den Magen auf. Und zerreißt ihn beim Einschuß in Fetzen.

    Aber warum sollte er zerreißen?

    Und wenn er zerreißt, man spürt es nicht.

    Woher aber wissen die Lebenden davon?

    Nein, jetzt nicht. Es geht nicht.

    Acht Uhr vierundzwanzig Minuten. Der Bus ist verspätet. Man kann immer so tun, als ob man in Eile wäre, als sei man zu spät, als ob man jemanden abholen wollte, als hätte man sich an der Haltestelle geirrt, auf die Verkehrsmittel sei eben längst kein Verlaß mehr. Er ist voll besetzt mit Schülern, mit Pendlern, das Leben geht unter allen Umständen weiter. Es muß weitergehen.

    Normalität unter Kriegsrecht. Bis das Kriegsrecht normal ist?

    Mit Soldaten. Vor allem Soldaten und Angestellte der provisorischen Verwaltung. Obwohl es provisorisch nichts zu verwalten gibt. Nie gegeben hat.

    Ich frage mich, was diese Leute verwalten. Ihren Schreibtisch? Einen durchlöcherten Korridor? Die Lebensmittelmarken? Unsere Toten?

    Wenn die Türen aufgehen, quillt auch der Mief feuchter Kleider und ungewaschener Körper heraus. Es gibt keinen Strom und kein Wasser. Wie lange schon nicht mehr. Seife ist Luxus, wie Kaffee. Unsere Wasserleitung ist seit Monaten, eigentlich seit Jahren tot. Wir gehen zu einem Hydranten an der Ecke unseres Hauses, aus dem erstaunlicherweise immer noch ein Rinnsal von Wasser kommt. Da stillen wir erst unseren Durst, dann füllen wir Kanister und Krüge, und wenn die Miliz kommt, verziehen wir uns in die nächstliegenden Eingänge.

    Hin und wieder wird der Hydrant zur Zielscheibe. Und die Projektile fliegen jaulend in irgendwelche Richtungen.

    Die Frauen mit halbvollen Säcken am Rücken. Sie gehen auf den provisorischen Markt, um ihr Gemüse zu verkaufen.

    Außerdem habe ich den Zünder nicht scharf gemacht. Ich habe Angst, daß ich sterben könnte. Aber auch, daß ich überleben könnte. Ich werde sterben, in jedem Fall.

    Zuerst legen sie mir einen Ausweis hin. Der Mann, der auf dem Foto zu sehen ist, ist mein Mann. Ich brauche nur zu nicken. Das genügt ihnen schon. Wenn ich will, kann ich ihn in der Beschauhalle ansehen.

    Ansehen. Was von ihm übrig geblieben ist.

    Es ist ein Behälter aus Blech, in der Form einer länglichen Kiste. Mein Atem stockt. Der Mann, den sie beauftragt haben, mit mir zu gehen, trägt einen blauen Arbeitsanzug aus grobem Leinen. Er könnte Maurer sein, Installateur. Hafenarbeiter.

    Die Toten sind für sie bloßes Material.

    Ich halte den Atem an beim Betreten des Raumes. Wie viele vor mir sind hier schon gestanden, um das anzusehen, was nicht anzusehen ist. Als ob hier noch bestätigt werden müßte, was ohnehin vollkommen klar ist: der Tote ist tot. Unkenntlich. Wenn man Glück hat, weiß man von einer Besonderheit am Fuß, an der Wade, am Rücken, am Arm.

    Ich berühre mit der Hand meinen Hals. Atemnot. Der Mann öffnet eine mit Drehriegel versehene Eisentür eines Kühlraumes. Dann geht er zu einem Regal mit Blechkisten, auf denen Nummern zu lesen sind. Sie bedeuten nichts und sind nur zur Verwaltung gut.

    7934. Das ist alles. Aber dieses Alles war mein Mann. Vor meinem Mund wird die Atemluft sichtbar. Es riecht nach Gestorbenem. Vermischt mit altem Mauerwerk, nach dem Inhalt lecker Abflußrohre.

    Ich schließe die Augen und halte den Atem an, als er die Blechkiste herauszieht. Ich verberge mein Gesicht bis zu den Augen in der Armbeuge meines Mantels.

    Der Mann hat kein Alter. Er kann dreißig sein, er kann mein Sohn sein, oder sechzig. Seine Augen haben viel gesehen. Um seinen Mund ist eine seltsame Trauer, die nicht ihm gehört, sondern jenen, die hier herkommen, wie ich, um den Rest zu sehen.

    Nein, nicht jetzt.

    Die Menschen kommen in Wellen und drängen an mir vorbei. Schnell und rücksichtslos. Es ist wie eine Flucht vor etwas, das man nicht greifen, aber spüren kann. Es riecht nach Vernichtung. Eigentlich müßten sie das Harte an meinem Leib spüren.

    Die letzten, die aus dem Bus herausklettern, sind Kinder eines Kindergartens mit zwei Tanten. Ich kann Kinder nicht mit hineinziehen. Ich mache kehrt.

    Plötzlich spüre ich in meinem Bauch eine feine, sanfte Bewegung. Ich halte mir vor Schrecken mit der Hand den Mund zu: Es wird doch nicht …? Es kann nicht sein! Ich habe meine Tage aufgeschrieben.

    Ich werde es nicht tun. Heute nicht. Morgen nicht. Vielleicht nie.

    Oder vielleicht in der nächsten halben Stunde.

    Eines der Kinder weint. Es macht mich nervös. Ich denke an meine Kinder.

    Ich könnte hier den Mechanismus betätigen. Es würde sich auszahlen.

    Aber heute nicht. Zumindest jetzt nicht.

    Ich habe den Atem angehalten, als jemand vor einem Monat nachts Steinchen ans Fenster warf. Das Zeichen, daß etwas passiert war. Ich stand auf, blieb eine Ewigkeit am Bett stehen, ich wollte es nicht wahrhaben, ich dachte, daß es nur geträumt war, dann hörte ich wieder etwas an die Scheibe prasseln, ich ging ans Fenster und bewegte den Vorhang.

    Unten leuchtete schwach konturlos ein Gesicht aus der Dunkelheit, darin nahm ich so etwas wie einen Mund wahr. Der unbekannte Mund sagte etwas, wie um sich zu entschuldigen, daß es Menem erwischt hatte. Wo, war gleichgültig. Es war vorbei. Ich hatte verstanden.

    Es gibt keinen Zweifel. Das Komitee würde eine Entschädigung veranlassen. Aber eine Entschädigung für den Gang der Gefühle durch die Hölle ist lächerlich.

    Ich habe meinen Mann vier oder sechs oder mehr Wochen nicht mehr gesehen. Nur telefoniert. Er klang wie immer etwas heiser. Wahrscheinlich rauchte er zuviel. Sie alle rauchen zuviel. In seine Stimme färbte sich Aussichtslosigkeit.

    Wie es mir gehe? Ich lüge an der Wahrheit vorbei. Ein wenig Sehnsucht, aber ich muß entscheiden, was zu tun ist. Wenn du nicht da bist. Was wir essen werden. Wie ich die Kinder zur Schule bringe.

    Und ich sage ihm, daß es nicht auszuhalten sei. Ich spüre plötzlich so etwas wie Wut auf ihn, auf sein Kommando, auf die Regierung, sie hatten es in zehn Jahren nicht geschafft, den Krieg zu beenden, die Verschleppungen, die Folterungen, die Vergewaltigungen.

    Ich schreie in den Hörer, wie viele Frauen sollen noch zu Witwen werden, wie viele Schwestern ihre Brüder, wie viele Mütter ihre Männer und Söhne verlieren.

    Was soll aus unseren Kindern werden?

    Das überraschte ihn. Ich wäre seine Frau, Tschetschenin, Beschützerin der Kinder, er verlange Solidarität und ich solle mich nicht zur Jeanne d’Arc entwickeln.

    Das wüßte ich. Das hatte er noch nie gesagt. Und wenn es etwas nützte, würde ich es tun. Schon seinetwegen.

    Es war kein schönes Telefonat. Es war so etwas wie eine Grenzziehung. Das Wetterleuchten eines Konfliktes innerhalb unserer Beziehung.

    Ein Artillerieduell anderer Art.

    Wenn er geht, sagt er nie wohin und wann er wieder kommt. Ich habe kein Recht, das zu erfahren. Aber jetzt bin ich auf mich alleine gestellt. Ich verantworte meine Handlungen selbst. Ich habe ihm nicht gesagt, daß ich die Kinder zu meiner Schwester geschickt habe.

    Ich will ab heute wissen, wohin er geht. Und ob es vielleicht kein Wiedersehen gibt.

    Was macht dieses Milchgesicht in Uniform hier? Die Pickel im Gesicht.

    Seine Mama geht vielleicht täglich in die Basilika Peter und Paul und zündet eine Kerze an. Damit er heil zurückkommt. Damit den Terroristen hier ein Ende bereitet werde, damit der Krieg aufhört. Ich bin keine Terroristin.

    Ich weiß nicht, ob er heil nach Hause kommt.

    Du bist hier, obwohl dich niemand eingeladen hat. Du bist kein Tourist. Es gäbe auch nichts mehr zu besichtigen.

    Auch wenn dich die Armee einen Hundedreck interessiert, du bist Soldat. Und du wirst das tun, was man dir befiehlt. Deinesgleichen haben alles hier in Schutt und Asche gelegt.

    Ich bemitleide dich, aber ich hasse dich auch.

    Dein Befehl wird sein, Verdächtige zu verhaften. Und du hast nichts anderes gelernt, als zu gehorchen. Denn niemand kommt freiwillig hierher.

    Deine Zukunft beginnt in der Hölle. Aber das weißt du noch nicht. Drei Jahre für einen Schandlohn. Welche Pläne hast du für dein Leben? Ein Diplom in Nachrichtentechnik oder Kunststoffverarbeitung an der Militärschule. Und irgendwann heiraten und Kinder. Was wirst du deinen Kindern einmal erzählen? Von uns? Von deinem Einsatz in Tschetschenien? Von den „Kaukasiern"? Wirst du überhaupt etwas erzählen?

    Aber mit der Zeit machen sie aus dir hier ein Schwein. Sie nehmen dir die gute Erziehung, wie man jemandem Bonbons wegnimmt, das Ersparte, die Zukunft. Daraus wird nichts. Auf Ermordete baut man keine Zukunft.

    Wenn du von hier nach Hause kommst, hast du keine Zukunft mehr. Denn das, was du hier zu sehen bekommst, erträgst du nicht. Weil es nicht zu ertragen ist. Von niemandem.

    Am wenigsten von jenen, die das befehlen, was zu tun ist.

    Ich halte den Atem an. Der Mann öffnet die Blechkiste und ich sehe zuerst nichts als Menems Hemd, mit ein paar Löchern. Ich weiß nicht, ob es Einschüsse sind. Und daran den Gürtel seiner Hose. Aber die Hose ist oben leer. Nur ab den Knien beginnt er wieder. Die Schuhe sind weg. Seine Beine und Zehen wären noch ganz in Ordnung. Und der rechte große Zehennagel ist blau unterlaufen. Das ist die Gewißheit.

    Wir trugen ein Sofa und er stellte sich das eine Bein auf seine rechte große Zehe. Ich weiß noch, daß es ihn schmerzte und er humpelte in die Küche und goß sich Whiskey darauf. Whiskey? Woher hatten wir den? Es war ein Geschenk. Für einen Freundschaftsdienst. So heißt das, wenn eine Rechnung beglichen wird.

    Oben, am Hemdkragen, liegt noch ein Stück Hinterkopf.

    Alles andere ist Erinnerung. Keine Arme, keine Brust, keinen Mund mehr, der meinen Namen aussprechen könnte. Oder der den Kindern eine Geschichte erzählt. Ein Kuß, das wäre jetzt geschmacklos.

    Jetzt nicht.

    Ein Offizier mit Koffer. Zurück vom Heimaturlaub. Die schönen Stunden hinter sich. Vielleicht auch mit Frau und Kindern. Über Zukunft geredet. Mit Angst. Über Angst spricht man nicht. Angst riecht man. Angst ist wie Mundgeruch.

    Du könntest es einrichten, daß du ihn unbeabsichtigt anstößt und anlächelst. Das wäre hier nicht üblich. Eine Kaukasierin lächelt keinen Russen an. Auch wenn er ihr gefällt.

    Du könntest ihn mit einem Lächeln ködern. Er geht dir in die Falle. Heute vielleicht nicht, aber übermorgen. In zwei, drei Wochen. Wenn der Abstand des Gefühls nach Hause groß genug ist.

    Du triffst ihn einmal, zweimal in einem Café, im Kasino, auf der Straße, abends natürlich. Wenn er dir zu nahe kommt, und er versucht ganz sicher, dir so nahe wie möglich zu kommen, schnappt die Falle zu. Wie du ihn erledigst, ist deine Sache.

    Bis man realisiert, was passiert ist, bist du weg und er ist tot.

    Ich nicke.

    Der Mann klappt den Deckel zu und schiebt die Blechkiste wieder an ihren Platz in der Stellage. Ich solle mir einen Sarg besorgen. Und ein Begräbnis arrangieren.

    Bei dieser Gelegenheit würden natürlich die Freunde und Verwandten kommen und der Geheimdienst ein paar Fotos machen. Man kann ja nie wissen. Aber

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