ungeheuer: Erzählungen
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Über dieses E-Book
Erzählungen, die süchtig machen, die nicht mehr loslassen, die sich einbrennen und für immer weiterwachsen
Hitler und Churchill liegen sich reumütig und weinend in den Armen. Ein Mann beteuert beim ersten Date, sie nicht vergewaltigen zu wollen – und tut es unter dem Schauer der Perseiden dann doch. Da ist ein Kind, das versucht, die gekappte Mutter-Beziehung zu reparieren, indem es den Knopf, der einst die Verbindung darstellte, malträtiert: den Nabel. Lena Johanna Hödl gießt das Ungeheure, das Bedrohliche, aber auch das Alltägliche, die Gefühle im Menschen in literarische Kurzgeschichten und erzeugt ein berauschendes Kondensat.
Über den Wahnsinn unserer Welt, den Wahnsinn in uns – über eine Konfrontation mit voller Härte
Im experimentellen Formenspiel und mit untergründigem, treffsicherem Humor spürt die Autorin einer Uremotion des Menschen nach: der Angst. Wir alle kennen sie, tragen sie in uns. Meist im Plural. Aber wie viel davon können wir aushalten? Was kann sie auslösen, wo ist sie notwendig, wo blockiert sie uns? Eine Annäherung an die vielen Facetten der Angst, die laut kreischend sein kann oder sich stumm einnistend. Dafür findet Hödl Worte, die glasklar sind und sich zugleich anfühlen wie Beton, der keinen Millimeter abrückt.
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Buchvorschau
ungeheuer - Lena Johanna Hödl
Teil 1: Das Innere
„Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheuerer als der Mensch."
Sophokles, Antigone
Als ich in Flammen stand
eines tages
also es ist mir unangenehm darüber zu reden aber wie soll ich sagen nun ja
also
eines tages
da stand ich in flammen
also so richtig gell
so richtig lichterloh
mit ganz viel schwarzem rauch und so
und ich musste daran denken
wie schöner wird’s nicht von david sedaris
auf englisch heißt when you are engulfed in flames
und an den grinsenden totenkopf mit der zigarette im fleischlosen maul am cover
und dass ich das schon sehr fühle lol
tag urself
und meine freunde sahen mich
wie ich lächelnd am offenen fenster stand
und einfach nur brannte
und sie riefen zu mir auf den balkon
lena komm wir löschen dich
und sie holten so eine trampolindecke
auf die ich springen sollte aus dem zweiten stock
und ich rief zurück
alles gut leute leute kein stress
alles gut
alles gut wirklich
und sie schrieben mir auf whatsapp und signal und instagram und twitter
und ich ignorierte die nachrichten
legte mich ins bett das natürlich sofort
feuer fing
und sie riefen die feuerwehr
die brachen die tür ein mit einem rammbock
und ich krallte mich ans bett
während ich einen deppaten witz über das wort rammbock machte
alles gut leute
die feuerwehr sagte
sagte frau hödl sie müssen mitkommen
jetzt sofort
und ich sagte nein danke
machen sie sich keine umstände
möchte jemand einen kaffee oder einen tee
und als sie meinen verkohlten
mit löschschaum bedeckten körper
und meine von rauch vergiftete lunge
und meine widerwillig strampelnden beine aus dem haus trugen
sagte ich
das wäre doch nicht nötig gewesen
ich stehe nicht in flammen
du stehst in flammen
deine mutter steht in flammen hahaha
alles in ordnung wirklich
und ich saß in eine decke gehüllt
in der offenen tür eines vor meinem haus geparkten krankenwagens
und sagte was ist euer lieblingskuchen ich backe euch einen
oder möchte jemand geld
oder einen blowjob
kümmert euch um meinen hund falls ich mal verbrenne
dann setzte ich meine herzförmige sonnenbrille auf
weinte dahinter und sagte
alles gut
ich brenne nicht
nein ich brenne nicht
niemand soll mich löschen
wenn dann lösche ich euch
Landleben
Mein Gott, wissen Sie, ich liebe das Landleben ja so. Ach, diese Stille! Diese herrliche Stille. Da wacht man doch tatsächlich morgens auf, von irgendeinem Hahn oder Traktor oder wasweißichwas geweckt, und danach ist es aber SOWAS VON STILL! Also, am Land, das ist ja eine Stille, wie der degenerierte Stadtmensch von heute sie sich kaum noch vorstellen kann. Pssst. Schweigen Sie? Hören Sie das? Ja, genau das. Aaaaah.
Sie wissen es. Alle wissen es. Was, das weiß ich leider nicht. Es. Sie wissen ES. Ich habe etwas getan, etwas dermaßen Widerwärtiges und Verachtenswertes, da würden Josef Fritzl noch die Augen herausfallen, wenn er davon wüsste. Aber nicht einmal ich weiß davon. Nur alle anderen. Und die Berge. Und sie lassen mich wissen, dass sie es wissen. Sie sehen mich an mit einem Blick, der sagt: Ich sag gar nichts. Das ist nicht nötig.
Diese Luft. So klar und rein, das gibt es ja heutzutage gar nicht mehr, a so eine Luft. CRISP, wie der Amerikaner sagt. Crisp Air, an einem solchen Wintertag. So ein Tag, so wunderschön wie heute … welch ein Trost, was auch geschehen mag … Alles ruht in unsres Vaters Händen … ich, sein Kind, brauch keine Angst zu haben … Einatmen und ausatmen, einatmen und ausatmen. Nein, nicht so schnell. Herrgott, was tun Sie denn da? Natürlich, ich habe Sie gebeten, ein- und auszuatmen, aber doch nicht so schnell. Jessasna, Kinderl, Sie hyperventilieren mir ja noch! Was ENTSPANNEN Sie sich denn nicht einfach?
Ich atme ein und ziehe an meiner Zigarette, und ob meine Hand vor Kälte oder Angst zittert, ist an diesem Punkt kaum noch eindeutig festzumachen. Als ich meinen Kopf kurz nach rechts drehe, um mich der Anwesenheit des Berges zu vergewissern – er ist immer noch da, er lässt mich nicht gehen, ich bin seine Gefangene –, fällt mein Blick auf eine ältere Frau. Ihr Gesicht ist aufgedunsen wie meines, wir langen beide immer ein bisschen zu heftig zu, es schmeckt halt einfach so gut, darunter bedeckt sie – gut sichtbar zwischen den einzelnen Sprossen des rustikal-bäuerlich designten Balkons, auf dessen Waschbetonfliesen sie nicht zu rutschen droht, denn es ist ihr Balkon und nur ihrer – ein nicht näher definierbares Kleidungsstück aus Fleece. Unter ihren kurzen, weißen Haaren spiegelt ihr altersloses Gesicht Misstrauen. Während sie ebenfalls an ihrer Zigarette zieht – Teilen wir die gleiche Marke? Sind wir Schwestern? Wie würden unsere Lungen nebeneinander aussehen? –, begreife ich, dass sie mich nicht aus den Augen lassen wird. Sie weiß nicht, woher ich komme, sie hat mich noch nie hier gesehen, und sollten meine herabhängenden Finger sich betont unauffällig voneinander lösen und den reifbedeckten Asphalt unter mir mit einem nass gesaugten Filter schänden, so wird sie nicht davor zurückscheuen, es ihnen mitzuteilen. Und die Rache der Berge wird eine entsetzliche sein.
Atmen.
Die Menschen am Land, die sind ja auch viel einfacher. Noch so ehrlich, so her-zens-an-stän-dig! Ma, da hat der Hader aber schon recht g’habt, gö? Na ja, ich mag den ja nicht so, lieber den Niavarani. Aber da is er scho richtigg’leg’n, der Josef, der Pepi, gö? Wir, heutzutage in der Stadt, mit unseren Buchweizencronuts und Falter-Abos und Demonstrationen und Gegendemonstrationen, wir haben ja schon richtig vergessen, worauf es wirklich ankommt im Leben! A bisserl im Dreck wühlen, a bisserl ins Bollwerk, a bisserl Komasaufen, a bisserl viel um unsere gefallenen Helden im Zweiten trauern, die Kameraden, a bisserl nie um alle andern.
Eine ehrliche Arbeit,
eine ehrliche Ehe,
eine ehrliche Haut …
… mit riesigen Poren und geplatzten Äderchen auf den Wangen, wie kleine Landkarten eines Ortes, der begrenzt ist in seinen Fluchtmöglichkeiten.
Angenommen, ein Lynchmob stände morgen vor meiner Tür. Ach was morgen. Heute. In zehn Minuten. In achtundachtzig Sekunden wird ein Lynchmob vor meiner Tür stehen, und er wird mir sagen: „Entschuldigen Sie, aber Sie müssen jetzt leider gehen. Und wollen Sie nicht gehen, so müssen wir Sie leider zwingen." Wohin sollte ich? Die Berge verstellen mir die Fluchtmöglichkeit. Nicht so schnell, sagen sie. Wo willst du denn hin?
Die Schlinge zieht sich enger, ich habe etwas Entsetzliches getan, und die allgemeine Stimmung der Güllener richtet sich zusehends gegen mich. Sie wollen, dass ich gehe, aber die Straßen sind abgesperrt. Die Schäferhunde der Nachbarn laufen offen herum, die Kühe stellen sich mir entgegen, sie haben sich noch rechtzeitig von ihren mit hängender Halshaut verwachsenen Ketten losgerissen, an ihren Beinen klebt noch die eigene Scheiße, in der sie tagtäglich bis zum Euter stehen, nur um den Auftrag der Berge zu erfüllen. Du kommst hier nicht mehr raus, sagen ihre großen Augen. Du kommst hier nicht mehr raus, schreit irgendwo ein langsam von seiner eigenen Mutter zerquetschtes Ferkel, die Sau hat sich aus dem Kastenstand befreit und quietscht es mir laut entgegen, ihre blutunterlaufenen, triefenden Augen quellen langsam aus dem Schädel heraus, ihr Geschrei tut weh, aber es ist besser als diese ekelerregende Nazikitschfilmstille.
Eine Fliege bewegt sich träge flatternd vom Auge der Kuh in das meine, ich erbreche mich.
Die Zeit, als die Berge noch fern waren, das war eine bessere, die ich im Nachhinein betrachtet viel zu wenig geschätzt habe. Als Kind saß ich auf dem Rücksitz im mütterlichen Toyota, frühmorgens, wenn sie mich in den Integrationskindergarten fuhr, und bis heute weiß ich nicht, ob ich