Am Ende des Ganges
Von Finn Ritter
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Über dieses E-Book
Um diese Fragen kreist der Entwicklungsroman "Am Ende des Ganges". Im Zentrum seines Plots steht der Lehrer Tom Ritter, dessen Leben bereits mit Mitte 30 geronnen zu sein scheint. Ohne Enthusiasmus versieht der alleinstehende Deutsch- und Geschichtspädagoge seinen Schuldienst an einem Hamburger Gymnasium, weit entfernt von seinen Wünschen und noch weiter entfernt von dem, der er ist und immer sein wollte.
In Entsprechung zu den Motiven der Reise und des fließenden Wassers, die notwendig schon zu Anfang des Romans anklingen, macht sich Ritter wie die von ihm betreuten Abiturienten zu Beginn der Sommerferien auf den Weg. Seine Reise, deren Verlauf über mehrere Wochen der Roman abbildet, führt ihn dabei zunächst an vergangene Orte und zurück zu frühen Freunden. Dieses ist zum einen der zum Scheitern verurteilte Versuch, die Vergangenheit zu restaurieren, für den Protagonisten gleichzeitig aber auch ein Sprungbrett in die lebendige Gegenwart, die hinter den Kulissen des Vergangenen liegt. Ritters Reise geht dabei über Berlin und Prag bis nach Indien, wo sie ein vorläufiges Ende findet, das zugleich einen neuen Anfang bedeutet. Sie beinhaltet das Ende alter und den Beginn neuer Freundschaften, mehr oder auch weniger beglückende Begegnungen mit verschiedenen Formen der Liebe sowie Reflexionen und Antwortversuche auf die eingangs genannten Fragen.
Über den unmittelbaren Plot hinaus gehen die in den Handlungsverlauf eingeschobenen Passagen, die als quasi autobiographische Texte Ritters Vergangenheit konturieren und in Form der kursiv gesetzten Prosatexte bereits ein Stück fernerer und möglicherweise beruflicher Zukunft des Protagonisten andeuten.
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Buchvorschau
Am Ende des Ganges - Finn Ritter
Finn Ritter
Am Ende des Ganges
Versuch in Prosa
Imprint
Am Ende des Ganges
Finn Ritter
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1 Auf dem Grund gehen
2 Neustrelitz
Sonntag
3 Erste Stunde
4 Neustrelitz 1986
Veronyz
5 Korrektur
6 Spätes Erwachen
7 Sie haben Post!
8 Abgehen
9 Berliner Luft oder Böhmen am Meer
10 Die lange Nacht vorm jüngsten Tag
11 Prager Geschichte
12 Roxy
13 A-Z
14 Ahoi!
15 Nächtliche Einkehr
16 Große Freiheit
17 Zuhause
18 Späte Stunde
Einführungskurs
19 Letzte Worte
Kreisen
20 Drei Briefe
21 Letzte Stunde
22 Indien
23 Menschen im Hotel
24 Elefanten und Orangen
25 Verbunden
26 Poststop
27 Rishikesh
Sie sah immer zuerst auf die Hände
28
Entstanden im Wesentlichen
im Herbst 2013 und Frühjahr 2014
Prolog
Alle Personen und Geschehnisse in diesem Buch sind Personen und Geschehnisse in einem Buch. Dies ist nicht meine Geschichte. Und dies ist nicht Jörgs Geschichte. Und doch wäre ich ein schlechter Freund gewesen, würde ich sie ihm nicht widmen.
Finn Ritter
Hamburg 2014
für Jörg
Ach Jörg, könntest du mir erklären, wie ich hierher gekommen bin, wenn du nicht schon längst gegangen wärst? Wie kann es sein, dass mir die Vergangenheit immer mehr zur Gegenwart wird? Ich höre den Klang der Zimbeln, selbst wenn ich das Fenster geschlossen halte, und denke an das Signal, das die Fähren immer machten, kurz bevor sie die Sassnitzer Küste in Richtung Trelleborg verließen.
1
Auf dem Grund gehen
Kennen Sie Sassnitz? Ich meine nicht, ob Sie den Ort als solchen kennen, ich frage mich, ob Sie schon einmal dort gewesen sind und sich womöglich an Einzelheiten Ihres Besuchs erinnern können. Was könnte das sein? Der Leuchtturm? Die Mole? Das Rügen-Hotel? Sicher werden Sie die Erfahrung gemacht haben, dass Sassnitz viel weniger bunt ist, als auf den das ganze Jahr über erhältlichen Urlaubspostkarten. Sie werden festgestellt haben, dass es doch ein ganzes Stück ist von Sassnitz bis zum Königsstuhl und dass nach Rügen reisen schon längst nicht mehr bedeutet, in Sassnitz Station machen zu müssen.
Wenn ich an Sassnitz denke, dann denke ich an Frau Hauers Spielzeugladen, den Duft frischer Brötchen, die von mir in einem grobmaschigen Netz nach Hause getragen werden, einen weinroten Wartburg vor dem Haus, den Tod meiner Großmutter Johanna und an die Treffen mit Simone Sonnentag im Trockenkeller unseres Wohnblocks.
Und ich denke daran, wie die Dinge zusammenhängen.
Ist es nicht komisch, dass man dem ersten Mal einer Sache immer so ein Schwergewicht einräumt, obwohl das letzte Mal häufig so viel schwerwiegender ist? Mein erster Tag im Freien, mein erstes Käsebrot, mein erstes Mal.
Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal mit Simone im Trockenkeller zusammenkam. Meine Großmutter Johanna, die vermutlich erste Liebe meines Lebens, muss schon tot gewesen sein, schätzungsweise war ich also 3 oder 4 Jahre alt und Simone sicher vorher bereits das eine oder andere Mal im Hausflur begegnet, ohne dass diese Begegnungen bleibende Eindrücke hinterlassen hatten - doch was wissen wir sicher von bleibenden Eindrücken?
Vermutlich musste Oma Johanna erst sterben, um Platz für Simone bzw. bleibende Eindrücke dieser Art zu schaffen. Bis dahin hatte ich halbe Tag auf dem Schoß meiner Großmutter verbracht, die in ihren letzten Jahren mit mir, meiner Schwester und meinen Eltern die Wohnung teilte. Oma Johanna und ich sangen und sangen und sangen: Volkslieder, Kinderlieder, Schlager, es wurde mir nie zu viel, und das Schöne war: ihr auch nicht. Irgendwann aber war es still und leer. Ich saß auf dem steinernen Boden der Tatsachen in unserem Treppenhaus, ohne wirklich etwas zu sehen, bis ich vor mir zwei Beine entdeckte, die in weißen Kniestrümpfen und roten Lackschuhen mit Schnalle steckten.
Simone war einen Kopf größer als ich, bestimmt 2 Jahre älter und hatte mir etliche erste Erfahrungen voraus. „Mir tut meine Muschi weh, Herr Doktor." Warmer Wäschetrockenraum. Alles war ganz einfach. Ich fragte Simone oder Simone fragte mich, und wenn wir beide Lust hatten (und es war Lust und nicht nur eine verfrühtes „Jugend forscht"-Projekt), zeigten wir uns, was es zu zeigen gab, fühlten, guckten und lachten. „Psst, Herr Rosendorn kommt."
Jetzt saß ich also nicht mehr auf dem Schoß, sondern darunter.
Stralsund, Rügendamm, Altefähr, Samtens, Sagard, Lietzow, Sassnitz. Ich erlebe eine Zugfahrt, während sie sich gleichzeitig in meinem Inneren in umgekehrter Richtung und in einem ganz anderen Jahrzehnt abspielt. Wir fahren zum Augenarzt, denn ich laufe dauernd gegen Wände, manchmal, weil ich sie nicht sehen will, meist aber, weil ich sie tatsächlich nicht sehe. Draußen strahlt die Sonne, doch für mich regnet es, denn er ist ein regnerischer Tag, dieser vergessene Wochentag vor über dreißig Jahren. Ich bin traurig, während ich in den grauen Himmel sehe und so tue, als würde ich mit meinen zwei Matchbox-Autos spielen, von denen ich eines gleich verlieren werde, was mich noch trauriger machen wird, aber das weiß ich noch nicht. Ich bin traurig, weil ich daran denken muss, dass alles irgendwann nicht mehr da sein wird: ich, meine Mutter, die schwarzen Leitungen draußen vor dem Fenster, die von Sassnitz bis Stralsund über die gesamte Insel gespannt sind und uns die ganze Fahrt über begleiten. Oder kamen die Gedanken, weil die Trauer schon vorher da war?
Das Erste, was mir nach dem Eintreffen in Sassnitz durch den Kopf geht, ist tatsächlich der Satz, dass sich kaum etwas verändert hat. Sofort rufe ich mich zur Ordnung und denke, dass das natürlich völliger Unsinn ist, nahezu alles hat sich verändert, muss sich verändert haben, aber meinem Gefühl ist das egal: Kaum etwas hat sich verändert. Der Blick vom Bahnhof über die Stadt bis hin zum offenen Meer ist noch immer der Blick vom Bahnhof über die Stadt bis zum offenen Meer; die Stadt riecht, wie sie gerochen hat, nach Salz und Kreide, nach Bratkartoffeln und Schmorgurken, auch wenn gerade niemand Schmorgurken isst. Wahrscheinlich wird sogar Svennie Heim, „mein bester Freund", noch wohnen, wo er damals wohnte (nämlich einen Aufgang neben meinem) und mir in kurzen blauen Jeans und rotem, kurzärmeligem Strickpullover die Tür öffnen. Aber ich gehe nicht gucken, schließlich gibt es auch Frau Hauers Spielzeugladen nicht mehr und die Brötchen werden ohnehin in Tüten verkauft. Trotzdem: Es hat sich kaum etwas verändert.
Beim Gang durch die Stadt frage ich mich, welcher der Passanten mich kannte oder erkennt und wen ich vielleicht gekannt habe. Ich erinnere mich an Namen und Gesichter, hier brauche ich letztere, aber die, die ich habe, sind fast dreißig Jahre alt, also ziemlich unbrauchbar für meine Unternehmung einer unerwarteten Begegnung. Tatsächlich denke ich: Die Leute laufen hier wie überall. Laufen und laufen und umtriebig sein und alles irgendwie aushalten. Nur, wie macht man das?
Die Strategie meiner Mutter, die Ängste auszuhalten, die sie seit dem Tod ihrer Mutter Johanna heimsuchten, war, die Zeit vergehen zu lassen und zu vergessen. Letzteres tat sie auf eine so gründliche Weise, dass ich noch heute manchmal darüber erschrecke, was für ein verklärtes Bild sie mitunter von unserer gemeinsamen Vergangenheit zeichnet. Dass ich sie weinend auf dem Zimmerfußboden fand – „das ist doch Unsinn, das bildest du dir ein". Dass meine Stille, zu der es damals so gut wie nie eine innere Entsprechung gab, in unmittelbarer Verbindung zu der bedrohlichen Stille zwischen ihren Weinkrämpfen stand – „ist doch absurd, welches Weinen denn, außerdem warst du schon immer ein ganz ruhiges und artiges Kind." Dass das, was mich vom Leben fernhielt, mit ihrem Leiden zu tun hatte - ist „nur natürlich, alles hat immer mit irgendwas zu tun. Aber nicht so, wie du dir das vorstellst, Kinder erleben doch noch gar keine wirklich bleibenden Eindrücke. Ein Husch, und alles ist vergessen. Magst du noch von dem Kuchen?"
Der Kindergarten, den ich bald nach dem Tod meiner Großmutter besuchen musste, ist heute eine Galerie. Die Farbe und das Innere des Gebäudes haben sich komplett verändert, entgegen dem wettergegerbten weiß-grauen Anstrich des Holzvorbaus und der Seitenwände von damals erstrahlt das Gebäude heute in einem Gelb, das jedes Weizenfeld vor Neid erblassen ließe. Trotzdem bleiben die Beklemmungen; schon als ich den Weg wiedererkannte, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt. Nun bin ich da. Ich rieche den Geruch des Linoleums, das schon lange nicht mehr in den Räumen liegt, ich schmecke den Nachtisch von vor dreißig Jahren und spüre das Alleinsein des Kindes unter Kindern. Vergangenheit und Gegenwart, was ist das?
Auch unser altes Viertel ist auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen: Die Häuser haben neue Dachziegel und vermutlich auch neue Heizungen bekommen, die Zäune um die Vorgärten eine andere Höhe, die Ziertannen eine neue Form und die Straßen- und Klingelschilder weitgehend neue Namen. Aber