GESCHICHTEN AN DER KREUZUNG: 11 Erzählungen
Von Roland E. Ruf und Inge Reuter-Eck
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Über dieses E-Book
Möglich, dass sich ihre Wege kreuzten, dass sie sich an der Haltestelle wahrgenommen oder am Kiosk kurz getroffen haben!
Letzten Endes sind sie Einzelgänger.
Präzise, nachdenklich, auch mit Humor gezeichnet, fügen sich ihre Geschichten zu einem Kaleidoskop des Lebens an der Kreuzung.
Roland E. Ruf
Der Autor, geb. 1939, ist in Karlsruhe aufgewachsen, lebt in Freiburg und schreibt seit 2010 unter dem Pseudonym Roland E. Ruf. Als Lehrer in Baden-Württemberg war er an verschiedenen Orten tätig, u.a. im Raum Bruchsal, im Rhein-Neckar-Gebiet und in Südwürttemberg. Der geografische Bezug in seinen Texten ist nicht zu übersehen (Kurzgeschichten, Erzählungen und ein Roman), ebenso wenig sein zeitgeschichtliches Interesse - beides bildet den Rahmen seines Erzählens, in dessen Mittelpunkt die Entfaltung von Persönlichkeit steht. Was er wahrnimmt, gibt er als Autor im Fluss erzählender Handlungen an den Leser weiter – verdichtet im Erleben seiner Protagonisten, ob in Ich-Form oder aus der Distanz des Beobachters. Präzise und einfühlsam, oft ironisch-kritisch mit einer Prise Humor. Dabei gilt sein Augenmerk dem wenig Spektakulären, dem scheinbar Alltäglichen. Die Protagonisten sind insoweit real, als ihre Lebensumstände, Wesenszüge und Erlebnisse collageartig der Wirklichkeit entnommen sind. Das gilt auch für den Erzähler Roland.
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Buchvorschau
GESCHICHTEN AN DER KREUZUNG - Roland E. Ruf
Vorwort
Kreuzungen sind mehr als Schnittpunkte von Straßen. Einmal konzipiert, lagert sich das Leben an: Haltepunkte für Bahnen, Busse und Geschäfte für den täglichen Bedarf. Es folgt, wer hier einen Standortvorteil sieht.
So auch an dieser Kreuzung! In einer süddeutschen Großstadt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden, hat sie sich in Nachkriegsjahren zu einem kleinen Zentrum im Viertel entwickelt. Längst ist sie Element des Lebens geworden und hat ihre Rolle als Unterzentrum in der Stadt behalten. Dazu gehört auch die Grünanlage, die nach Verlagerung einer Bahnstrecke in den dreißiger Jahren entstand. Vormals führte die mitten durch das Viertel. Noch heute ist der aufgelassene Bahndamm als Strukturlinie in der Bebauung zu erkennen. Südlich die Stadtvillen Begüterter und nördlich – sowie an ihr selbst – das Wohngebiet der ‚Normalbürger’ der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angewachsenen Stadt.
Der Autor, selbst seit zwanzig Jahren Bewohner eines nachträglich errichteten Gebäudes auf dem ehemaligen Bahngelände, lebt sozusagen auf dieser sozialen Grenze, die jedoch heute in solcher Deutlichkeit kaum mehr zu erkennen ist. Dafür sorgen Renovierungen beidseitig der Kreuzung. Die Preise für Wohnraum sind überdurchschnittlich angewachsen besonders in renovierten Altbauten.
Die elf ‚Storys’ dieses Buches widmet der Autor der Verschiedenheit der Bewohner des Viertels, Sonderlinge inklusive. Die sorgen mitunter für das Skurrile in seinen Erzählungen. Vielleicht haben sie sich flüchtig wahrgenommen, vermutlich nie getroffen, aber für sie alle ist die Kreuzung ein Bezugspunkt ihres Alltags. Der Kiosk vor dem Haus spielt dabei eine besondere Rolle.
Roland E. Ruf
I
Bruno oder der Kiosk
Der Spaziergang
Die Nacht
Bruno oder der Kiosk
Aus Sicht der Verkehrsplaner ist die Kreuzung nur zu Stoßzeiten stark frequentiert – so das dürre Ergebnis einer Langzeitstudie. Bildet sich auf dem Autobahnzubringer ein Stau oder ist die Innenstadt gesperrt, nimmt der Verkehr rapide zu. Auf der Suche nach Schleichwegen drücken dann die Fahrzeuge im Pulk über die Kreuzung. - Motorisierte Lemminge kennen kein Pardon.
Zwei Straßen stoßen hier von Osten auf die Nord-Süd-Traversale durch das Viertel. Zwischen diesen beiden zunächst ein Parkplatz und Container für Glas, Altkleider und elektrische Geräte. Dahinter beginnt eine Grünzone auf der Fläche der ehemaligen Bahntrasse. Der verbliebene kleine Bahnhof ist heute Kulturzentrum im Stadtteil.
Von Westen mündet eine schmale Straße ein, eng bebaut und von der Kreuzung kaum einzusehen. Ampeln sucht man an der Kreuzung vergebens! Zu kompliziert und kostspielig, bei normalem Verkehrsaufkommen auch nicht hilfreich, wird die Stadtverwaltung im Bürgerblättchen des Viertels zitiert. Und so nutzt, wer sich im Recht glaubt, jede Chance. Fußgänger überqueren ohne Beachtung der Verkehrslage die Zebrastreifen. Autofahrer schieben sich in Reihen über die Kreuzung oder blockieren sie in plötzlicher Verwirrung. Und zwischen alledem die Radfahrer! Einzig die Tram nötigt zur Vorsicht. Resultat – oft ein Durcheinander!
„Sie gehören wohl zur Autofahrerlobby!, schrie mich unlängst eine ältere Frau an, als ich mich auf dem schmalen Trottoir nicht an die Hauswand drückte. Mit gefülltem Gemüsekorb auf dem Gepäckträger sah sie sich genötigt, vom Rad zu steigen. Es fehlte nur noch der Zuruf: „Sie Rüpel!
Die ‚Jungs‘ am Kiosk auf der Westseite der Traversale sind hier seit Jahren Stammgäste. Mit Bierflaschen in Feierabendstimmung oder aus Langeweile reagieren sie auf ihre Weise auf das Geschehen an der Kreuzung: „Haste den gesehen? Mann, der mit dem Stern quetscht sich noch vor die Tram. So ein Idiot! Kann der nur, weil andere aufgepasst haben."
Die Straßenbahn hält mit surrendem Gebimmel, was den Typen auf der Kreuzung nicht beeindruckt. Stur schiebt er sich zentimeterweise über die Schienen.
„Das ist eben ein Erfolgstyp!, sage ich zu dem in der weißen Malerhose am Kiosk. „Von dem können wir uns eine Scheibe abschneiden.
Der Kerl lacht und schlägt mir gönnerhaft auf die Schulter: „Na, du gehörst doch nicht zu uns! Nebenan ne Eigentumswohnung, gell? Hast wohl dein Leben lang die Groschen zusammengekratzt. Ich habe dich hier noch nie mit der Bierflasche gesehen. Ha, bei mir war das anders! Aber ich sag dir gleich, ich bereu nix! Is’ schon lange Schluss mit lustig. Jetzt ein Bier am Nachmittag und eins am Abend: Das muss sein!"
„Nur eins?" frage ich skeptisch.
„Ja, du klugschei . . . nender Mitbürger! Abends is’ hier nix los, und mich interessiert der Kram auf der Mattscheibe nich’ außer Fußball. Mir wirds zu eng in meiner Einzimmerwohnung und dann geh ich lieber früh ins Bett. Is’ sowieso besser für mich nach sechs OPs - ein Bier statt Schlafpillen!"
Und dann zählt er auf: Eine Niere raus, zweimal Rückenwirbel oben, Meniskus und ein Splitterbruch im linken Unterarm, weil es ihn vor zwei Jahren bei Glatteis hingehauen hatte. Ein harter Winter damals! Nach Tagen wollte er mal wieder zum Kiosk. „Gell, Werner, sagt er zu dem Kiosk-Mann, „wir sind auch bei Eis und Schnee da. Auf uns ist Verlass!
„Und die sechste OP?", frage ich.
Er lacht: „Nur Statistik, der Blinddarm vor über dreißig Jahren."
Er geht hinter den Kiosk zu den anderen Jungs. Einer fegt, ein zweiter gibt ihm technische Ratschläge, die anderen Anwesenden erörtern die Aussichten der Bayern auf die Tabellenspitze. Am Briefkasten nebenan lehnt ein älterer Mann, diskret die Bierflasche ans Hosenbein gehalten, und öffnet mit „Bitte sehr!" die Klappe. Er ist mir bisher noch nicht aufgefallen.
„Ach der!, sagt Werner. „Den habe ich die Tage schon mal am Briefkasten entdeckt. Das Bier bringt er noch selbst mit. Na, mal sehen, ob er den Weg zu uns schafft.
Werner hält zu den Jungs, wie er sie bezeichnet. „Wissen Sie, Herr Ruf, der Jürgen. . . - „Der mit der Malerhose und dem Ohrring?
– „Ja, der! . . . hat einiges hinter sich. – „Ich hab’s vernommen: seine Operationen.
– „Die auch! Danach ist es ihm erst dreckig gegangen! - Werner lehnt sich im schmalen Fenster vor. - „Also, nach irgendeiner der OPs kommt er aus dem Krankenhaus nach Hause: die Arbeitsstelle weg und die Frau mit beiden Kindern auf und davon.
– „Seine Kinder? – „Natürlich seine! Die Frau, eine Kroatin, hat’s hier nicht mehr ausgehalten und ist in die Heimat zurück.
– „Seinetwegen? – Werner lacht verhalten. – „Wahrscheinlich auch, aber Herr Ruf . . .
Er muss unterbrechen, eine sportlich-elegante Frau, um die Vierzig, reicht ihm einen Lottoschein.
Ich warte, sehe mir die ausländischen Zeitungen auf dem Ständer an. La Stampa, Corriere della Sera, Express, außerdem die Tageszeitungen der Nachbarn aus der Schweiz und dem Elsass, El Pais, dann ein türkisches Blatt, Financial Times . . . Erstaunlich, was an dieser Ecke des Viertels geht!
Die Dame löst sich vom Bord an Werners Schalterfenster. Mit dem Kopf gibt er mir Zeichen. Ich drehe mich um und sehe, was er meint: An einem Ungetüm von Auto, einem SUV, öffnet sie die Wagentür.
„Die hat eben für rund hundert Euro Lotto gespielt, wie jeden Monat", flüstert mir