Das Licht in den Kronen
Von Chiara Kilian
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Über dieses E-Book
Doch was hat es mit den Lichtern auf sich?
Chiara Kilian
Chiara Kilian schreibt das, woran sie sich erfreut und hofft, auch andere dafür begeistern zu können. Die Vielfalt und die Zugänglichkeit von Kinder- und Jugendliteratur sind ihr dabei ein besonderes Anliegen.
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Buchvorschau
Das Licht in den Kronen - Chiara Kilian
Ein Sturm zog auf
und niemand wusste so recht, woher er kam und was er wollte. Bisher konnten die ungeschulten Sinne der Urlauber noch nichts von ihm erahnen und wer auch immer für den Wetterbericht zuständig war, hielt es nicht für nötig, ihn zu erwähnen, doch die Menschen aus Glimmingshire wussten es besser. Der warme Augustwind kam aus allen Himmelsrichtungen zugleich und der wolkenlose Himmel würde bald die Farbe des nahe liegenden Meeres annehmen. Kinder, die draußen spielten, wurden von ihren Eltern herein gerufen und Spaziergänger machten sich eiligst auf den Weg nach Hause. Fenster wurden geschlossen und Türen verriegelt; in einigen älteren Gebäuden wurde sogar der Strom abgestellt.
Die Kinder waren froh, dass die Schule später anfangen sollte und die Obstbauern waren in Sorge um ihre Äpfel und Pflaumen. Die jüngeren Bäume waren freudig erregt und die Gewässer milde interessiert. Die Tiere verkrochen sich in ihre Kobel und Bauten und auf den Herden kochte Kakao. Jeder bereitete sich auf seine Weise auf den Sturm vor. Unwetter waren keine Seltenheit in dieser Gegend und niemand machte sich wirklich Sorgen, doch ihnen allen lief ein unerklärlicher Schauer über den Rücken, wenn sie an diesen Sturm dachten, denn es war eigentlich noch viel zu früh für ihn.
Nur ein Mädchen, das gerade vom Einkaufen kam und sich nun auf den Weg zu dem Ort machte, der mittlerweile so etwas wie ihr Zuhause war, hatte keine Gänsehaut bei dem Gedanken an das kommende Wetter. Sie wusste genauso wenig woher der Sturm kam, wie die tuschelnden Verkäuferinnen, doch sie wusste wer ihn eingeladen hatte und dass auch sie Vorkehrungen für den Sturm treffen musste. Er sollte dieselbe Gastlichkeit erfahren, wie sie selbst.
Der Wind zog stärker an – eine höfliche Ankündigung – doch es war noch immer sehr warm und das Mädchen hatte es nicht sehr eilig. Ihr Gast sollte nicht vor dem Wochenende eintreffen und bis dahin hatte sie genügend Zeit, um es ihm behaglich zu machen. Sie kannte Stürme vom Sehen, vom Hören, und vom Fühlen, doch sie hatte sich noch nie mit einem unterhalten, oder gar für ihn gekocht. Sie hatte schon einmal einen kleinen Regenschauer bewirtet, der sich im letzten Frühling zu ihnen verirrt und viel Limonade getrunken hatte, doch der war in keinster Weise mit einem ausgewachsenen Spätsommergewitter oder gar einem richtigen Sturm zu vergleichen gewesen.
Das Mädchen hatte einige Kochbücher in der Stadtbibliothek durchgesehen, doch leider konnte sie darin nichts über die Vorlieben bestimmter Witterungen entdecken, und so hielt sie es für das Beste, sich selbst etwas einfallen zu lassen. Ihre Vertraute hatte ihr gesagt, dass Stürme viel für Schlagsahne übrig hatten. Für Äpfel auch, und für Ale. Das Essen sollte kraftvoll sein und auf die kommende Jahreszeit hinweisen.
Der Herbst hatte es sehr eilig in diesem Jahr. Die Edelkastanien waren schon reif (und fanden schnell ihren Weg in den Korb des Mädchens) und das Laub der meisten Bäume schimmerte gelblich. Das Mädchen konnte in einer der Birken sogar einen Hauch von Silber erkennen, doch sie kümmerte sich nicht weiter darum. Wenn sich der Sturm den Glanz nicht holt, dachte sie, dann bestimmt eine Elster, oder vielleicht ein Kind.
KAPITEL I
Es war der letzte Samstag im August, als der Wind sich drehte und die Poststelle von Duskbourne zwei Stunden länger als üblich geöffnet hatte. Miss Rawgabbity trug ihrem Bruder, Mr Rawgabbity, und den größeren Kindern häufig auf, Briefe für sie zur Post zu bringen. Diese Briefe waren immer in dieselben, weißen Umschläge gehüllt, mit denselben langweiligen Briefmarken (und Mr Rawgabbitys Spucke) beklebt und mit blauem Kugelschreiber beschriftet. Gestern hatte Miss Rawgabbity ein älteres Mädchen namens Sally Bashfield losgeschickt, um einen besonderen Briefumschlag zu kaufen. Er war groß, rot und ließ kein Wechselgeld für Lakritz über. Sally hatte den anderen Mädchen beim Abendessen davon erzählt. Alle waren überrascht, dass Miss Rawgabbity den Brief, den sie in diesem besonderen Umschlag untergebracht hatte, selbst zur Post bringen wollte, ganz besonders Mr Rawgabbity. Noch überraschender war es jedoch, dass Geneva und Basil Deighton sie begleiten sollten. Das fanden alle Kinder, ganz besonders die Deightons.
Der Wind war stark und unerhört warm. Geneva mochte die Hitze, doch sie wusste, dass sie nicht mehr lange anhalten würde. Sie konnte den Zimt in der Luft bereits schmecken. Basil mochte sie auch, doch an diesem Abend wäre ihm ein milderes Klima lieber gewesen. Seit zwei Wochen mussten er und seine Schwester schwere, kratzige Sachen aus schwarzer Wolle tragen. In den zugigen Räumen des Waisen-, Fürsorge- und Ferienheims von Duskbourne, das, anders als sein Name vermuten ließ, nicht in Duskbourne, sondern zweieinhalb Meilen außerhalb der Stadt lag, war das noch auszuhalten, doch nun kam es ihm so vor, als würde er bald schmelzen. Um diese Uhrzeit sollte es nicht mehr so heiß sein, dachte er. Das gehört sich einfach nicht.
»Ist euch armen Dingern zu heiß?« fragte Miss Rawgabbity, doch die armen Dinger antworteten nicht.
»Denn wenn euch zu heiß ist, hättet ihr nicht mitkommen sollen.«
Geneva sagte nicht, dass Miss Rawgabbity sie dazu aufgefordert hatte, mitzukommen.
»Denn wenn euch zu heiß ist, und ihr deshalb nicht so schnell vorankommt, könnte es passieren, dass wir nicht rechtzeitig beim Postamt ankommen, und das obwohl es heute später schließt. Wäre das nicht furchtbar unschön?«
Basil sagte nicht, dass ihm ausgesprochen heiß war und er gern eine Pause gemacht hätte, doch er war sich sicher, dass Geneva etwas langsamer ging als zuvor.
»Und dann wären wir ganz umsonst den langen Weg nach Duskbourne gelaufen,« fuhr Miss Rawgabbity fort, »und ich müsste mich übermorgen noch einmal bemühen, den Brief zur Post zu bringen und Gefahr laufen, dass er nicht rechtzeitig ankommt. Das ist doch eine scheußliche Vorstellung, nicht wahr?«
Geneva und Basil nickten, auch wenn sie nicht dieselbe »scheußliche Vorstellung« wie Miss Rawgabbity meinten. Im Grunde waren sie nicht unzufrieden. Sie durften zum ersten Mal mit nach Duskbourne. Obwohl ihnen ein Ausflug bei milderem Wetter (oder in angenehmerer Kleidung) lieber gewesen wäre, freuten sie sich, nach so langer Zeit nach draußen zu können. »Es ist fast soweit,« sagte Geneva. Sie sprach mit ihrem Bruder, doch sie flüsterte nicht.
»Ja, wir sind tatsächlich fast da,« sagte Miss Rawgabbity. »Ich hoffe, wir sind nicht zu spät dran.«
»Wir sind sogar viel früher dran, als ich angenommen hatte,« sagte Geneva, doch Miss Rawgabbity hörte ihr nicht mehr zu.
Der Weg nach Duskbourne führte an einigen abgemähten Feldern, schwer mit Obst beladenen Bäumen und vereinzelten kleinen Höfen vorbei, die nicht richtig zur Stadt, aber auch nirgendwo sonst hingehörten. Der Großteil ihrer Umgebung war grün, doch einige Blätter hatten sich bereits blassgelb gefärbt und die Abendsonne ließ die Grasspitzen golden aussehen. Basil mochte die Landschaft und Geneva gefielen die Farben. Es war fast so schön, wie im Garten ihrer Tante Lizzy – bloß größer, doch weniger wild. Obwohl der Weg anstrengend war, waren sie fast sogar enttäuscht, als sie vor sich die ersten Häuser, Mauern und Autos sahen.
Duskbourne war klein, kaum eine richtige Stadt, doch es hatte einige Geschäfte und zwei mittelgroße Hotels, die in den Sommerferien fast immer ausgebucht waren. An diesem Samstagabend schienen hauptsächlich Touristen in der Stadt unterwegs zu sein. Obwohl die Ferien fast vorbei waren, standen sie dort, mit Sandalen an den Füßen und Eistüten in den Händen, und kauften Souvenirs an einem kleinen Stand, mit einem großen Schild in Form einer Muschel. Vor vielen Jahren, als Basil kaum gehen konnte, ohne Mrs Deightons Hand zu halten, hatte Mr Deighton für Geneva einen goldfarben bemalten Anhänger an genau so einem Stand gekauft. Sie schüttelte den Kopf und folgte Miss Rawgabbity an einem Brunnen vorbei zu einem hübschen, alten Gebäude. Über der Tür hing ein großes Schild, auf dem POSTSTELLE stand, und darunter ein kleines, neueres Schild: MIT KIOSK.
Die Poststelle gefiel ihr. Sie war klein und ungewöhnlich geformt, als hätte man ihre Kanten abgeschliffen. Basil mochte sie auch, obwohl er sich nicht so viel aus Häusern machte, wie seine Schwester. »Sie passt nicht dazu,« sagte er und Geneva nickte. Miss Rawgabbity hingegen wirkte enttäuscht. Niemand hatte sie und die Deightons, in ihren schweren, schwarzen Sachen, bisher beachtet. Niemand hatte sich höflich nach ihnen erkundigt, oder ihnen wenigstens einen mitleidigen Blick zugeworfen. Miss Rawgabbity seufzte und öffnete eine Glastür. Sie deutete den Kindern mit der Hand an, dass sie ihr voran hindurch gehen sollten. Sie weiß es, dachte Geneva und folgte ihrem Bruder in einen überraschend langen und engen Raum. Vor einem Tresen stand eine kleine Schlange von Menschen, denen anscheinend gerade noch rechtzeitig eingefallen war, ihre Postkarten zu verschicken. Miss Rawgabbity gesellte sich zu ihnen, während Basil sich, in der Hoffnung auf Kostproben, zu einem kleinen Stand mit Süßigkeiten in der hintersten Ecke der Kioskseite der Poststelle aufmachte. Geneva blieb in seiner Nähe, doch ihre Aufmerksamkeit galt den Zeitschriften. Die meisten von ihnen handelten vom Fischen, zwei versprachen neue Rezepte für Marmelade, und eine weitere war vollkommen der regionalen Pflanzenwelt verschrieben. Keine der Zeitschriften war interessant für ein durchschnittliches Mädchen von dreizehn Jahren. Geneva war elf Jahre alt, doch sie hielt es für angemessen, die Interessen von Dreizehnjährigen zu teilen. Sie war auch nicht durchschnittlich, doch das hatte keinerlei Einfluss auf die Zeitschriften, die sie las.
»Erzählen Sie mir eine Geschichte?«
Geneva drehte sich um. Mit wem sprach Basil?
»Ein Gedicht wäre auch in Ordnung, aber am liebsten hätte ich eine Geschichte.«
Mit einem Mann. Er schien gerade durch die Tür hereingekommen zu sein und hatte einen Brief in der Hand, der trotz des kleinen, weißen Umschlags und der langweiligen Briefmarke wichtig aussah. Basil hielt ihn am Ärmel fest und redete auf ihn ein.
»Ich kenne keine guten Geschichten. Bestimmt verwechselst du mich.«
Der Mann gefiel Geneva nicht. Sein Anzug hatte die Farbe von Tinte und sein Gesicht war zu jung für seine Stimme. Er sah aus, als hätte er viel Geld und wenig Zeit. Zwischen den leicht und bunt angezogenen Touristen wirkte er verkleidet.
»Eine Geschichte von damals,« sagte Basil. »Sie müssen doch wissen, was ich meine.«
Der Mann sah ihn ratlos an. Geneva hatte noch nie erlebt, dass ihr Bruder einen Fremden ansprach, schon gar nicht auf diese Art.
»Bitte entschuldigen Sie sein Verhalten,« sagte Miss Rawgabbity, die, kaum dass ihr Brief von einem kleinen Mann mit schütterem Haar abgestempelt und auf einem Stapel abgelegt wurde, zu Basil und dem Fremden geeilt kam. »Sie müssen wissen, der arme Junge hier ist seit wenigen Wochen eine Waise« – sie deutete auf Basils schwarze Kleidung – »und seitdem ist er furchtbar anhänglich. Geradezu aufdringlich.«
Das stimmte nicht, doch Geneva zog es vor, nichts dazu zu sagen. Stattdessen näherte sie sich ihrem Bruder und nahm ihn an der Hand. Basil starrte noch immer den Mann an.
»Ja, kümmere dich um deinen kleinen Bruder,« sagte Miss Rawgabbity, während sie den tintenfarbenen Ärmel des Mannes glättete.
»Das verstehe ich nur zu gut,« sagte der Mann. »Waisen verhalten sich öfters eigenartig.«
Geneva näherte sich der Tür und Basil folgte ihr zögerlich. Miss Rawgabbity sprach noch immer mit dem Mann. Sie mochte ihn. Er war beinahe höflich.
»Ein reizendes Paar,« flüsterte Geneva ihrem Bruder zu, doch der runzelte bloß die Stirn. Miss Rawgabbity nestelte noch immer am Ärmel des Mannes herum, als eine Frau mit einem Strohhut auf dem Kopf durch die Tür hereinkam, und der Mann sagte etwas zu Miss Rawgabbity, als die Deightons losrannten.
Das Präsidium des Blumenzüchterverbandes von Glimmingshire bestand aus drei Herren mit steifen Kragen, zwei Damen mit steifen Haaren und einem Whippet, der mit all dem nichts zu tun haben wollte, jedoch aufgrund seiner Wohngemeinschaft mit einem der Herren zum Ehrenmitglied ernannt und überall mit hingeschleppt wurde. Jeden Samstag trafen sie sich im Holly and Ivy, einem kleinen Gasthaus im Wald, zum Tee und sprachen über Blumen, Vereinsangelegenheiten und den Klatsch der umliegenden Dörfer.
»Die kleine Kirkpatrick, Fanny, hat ja erst letzte Woche behauptet, eins gesehen zu haben,« sagte Mrs Brasskettle, die ältere der beiden Damen, während sie ihr Sandwich aufklappte, um den Belag zu begutachten. »In ihrem Apfelbaum. Kann man sich so etwas vorstellen?«
»Es hieß ja schon immer, sie sei nicht ganz richtig,« sagte die weniger alte Dame und schenkte sich noch etwas Tee ein.
»Nun, das ist schwer zu sagen. Vielleicht hat sie ja wirklich eins gesehen,« meinte Mr Wisp. Er war nicht nur der Schatzmeister des Verbands und Stadtbibliothekar von Galeport, sondern auch ein guter Freund des alten Mr Kirkpatrick.
Beinahe hätte Flora gefragt, was genau Fanny Kirkpatrick denn in ihrem Apfelbaum gesehen haben soll, doch sie biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge und gab dem Whippet, wie an jedem Samstagabend, ein Schinkenbrot und eine Schale mit Wasser.
»So oder so, sie ist nicht anders als diese hier. All diese kleinen Mädchen heutzutage sind vollkommen verrückt geworden.«
Mr Wisp runzelte die Stirn und sah Flora an. »Aber sie ist doch gar nicht so klein. Ich bin sicher, sie arbeitet für die Lyons schon seit fast einem Jahr.«
»Seit zwei Jahren, aber was hat das schon zu sagen? Die Lyons schämen sich nicht einmal, ein Kind einzustellen. Selbst wenn es überhaupt keinen vernünftigen Tee kochen kann.«
Wenn das Präsidium eines Blumenzüchtervereins über einen redet, als sei man nicht da, tut man ihm einen großen Gefallen, wenn man wirklich geht. Und sich selbst einen noch viel größeren, dachte Flora. Sie hatte genügend andere Dinge zu tun, doch Mrs Lyon hatte sie damit beauftragt, sich besonders gut um die Blumenzüchter und deren Hund zu kümmern. Letzteres tat sie gern.
»Sag Bescheid, wenn du noch etwas brauchst, Boreas,« sagte sie und machte sich auf, die anderen Tische abzuwischen. Es war im Grunde unmöglich, schlecht über Mrs Lyon zu reden, doch die Blumenzüchter versuchten es gern. Dass die Lyons trotz allem darauf bestanden, sie zuvorkommend zu behandeln, war ihr vollkommen unverständlich, doch sie nahm es hin. Schließlich stellte sie auch nicht in Frage, wie sie selbst behandelt wurde.
»Ich habe Fanny vor wenigen Wochen beim Einkaufen getroffen,« sagte die ältere Dame. Ihre