Mutterleid – Mutterglück: Sophienlust Extra 65 – Familienroman
Von Gert Rothberg
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Über dieses E-Book
In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg.
Stella Vonberg stieg langsam zu der Burgruine Hellenstein empor. Dann schaute sie hinab in das liebliche Tal der Brenz. Ihr Blick streifte über die Dächer von Heidenheim, suchte das Haus, in dem sie mit den Eltern wohnte. Sie fand es im Gewirr der Dächer nicht und seufzte unwillkürlich laut auf: »Ich wollte, es gäbe das Haus nicht.« Stella erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie dachte an die Mutter, den kleinen Bruder Ruppi. Dem Gedanken an den Vater wich sie aus. Das Blut schoss ihr in das schmale braune Gesicht unter dem dunkelbraunen Haar. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Welches Haus meinst du?«, fragte da eine fremde Stimme neben ihr. Stella schaute die wohlbeleibte Unbekannte an, die leise neben sie getreten war. Unwillkürlich tat sie einige Schritte zur Seite. Da ihr Vater an allen anderen Menschen herbe Kritik übte, hatte sie das Vertrauen zu den Menschen verloren und verschloss sich auch jenen, die nett zu ihr waren. Die Unbekannte schien nicht zu merken, dass sie vor ihr zurückgewichen war. Sie rückte nach. »Du hast mir noch keine Antwort gegeben. Oder muss ich ›Sie‹ zu dir sagen?« »Ich bin erst zwölf«, erwiderte Stella leise.
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Rezensionen für Mutterleid – Mutterglück
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Buchvorschau
Mutterleid – Mutterglück - Gert Rothberg
Sophienlust Extra
– 65 –
Mutterleid – Mutterglück
Miras Ehe ist in einer tiefen Krise …
Gert Rothberg
Stella Vonberg stieg langsam zu der Burgruine Hellenstein empor. Dann schaute sie hinab in das liebliche Tal der Brenz. Ihr Blick streifte über die Dächer von Heidenheim, suchte das Haus, in dem sie mit den Eltern wohnte. Sie fand es im Gewirr der Dächer nicht und seufzte unwillkürlich laut auf: »Ich wollte, es gäbe das Haus nicht.« Stella erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie dachte an die Mutter, den kleinen Bruder Ruppi. Dem Gedanken an den Vater wich sie aus. Das Blut schoss ihr in das schmale braune Gesicht unter dem dunkelbraunen Haar. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Welches Haus meinst du?«, fragte da eine fremde Stimme neben ihr.
Stella schaute die wohlbeleibte Unbekannte an, die leise neben sie getreten war. Unwillkürlich tat sie einige Schritte zur Seite. Da ihr Vater an allen anderen Menschen herbe Kritik übte, hatte sie das Vertrauen zu den Menschen verloren und verschloss sich auch jenen, die nett zu ihr waren.
Die Unbekannte schien nicht zu merken, dass sie vor ihr zurückgewichen war. Sie rückte nach. »Du hast mir noch keine Antwort gegeben. Oder muss ich ›Sie‹ zu dir sagen?«
»Ich bin erst zwölf«, erwiderte Stella leise. Sie wagte es nicht mehr, sich weiter abzusetzen, denn die Fremde würde ihr wohl auf den Fersen bleiben. Sie glaubte, die Stimme des Vaters zu hören: ›Halte dir die Menschen vom Leib. Sie hängen sich an einen und kleben an einem wie Kaugummi, den man kaum noch loswird.‹
Die Fremde blieb unbefangen. »In diesem Alter sind die Kinder heute schon beinahe erwachsen. Ich rede aus Erfahrung. Ich bin Köchin in einem Kinderheim mit vielen Kindern. Auch solche deines Alters sind darunter.«
Sie plauderte von Sophienlust, von Frau von Schoenecker, von dem Tierheim Waldi & Co., von den Kindern. Stella hörte höflich zu.
Magda, die Köchin von Sophienlust, die einige Urlaubstage in Heidenheim verbrachte, unterbrach ihre Rede. Sie hatte während ihrer jahrelangen Tätigkeit gelernt, in den Gesichtern der Kinder zu lesen, und fühlte, dass dieses hübsche junge Mädchen verzweifelt war. Sie fragte nicht aus Neugier. Sie wollte helfen.
»Du hast vor etwas Angst?«
»Vor meinem Vater.«
»Warum? Hast du etwas angestellt?«
»Morgen wird mein Vater erfahren, dass ich im Gymnasium sitzengeblieben bin.«
»Das ist doch kein Unglück, Mädchen. Das ist schon vielen sehr gescheiten Leuten passiert.«
»Für meinen Vater ist es ein ganz großes Unglück.« Stella begann zu weinen. »Ich wage es nicht, heimzugehen.«
»Schlägt er dich vielleicht?«, empörte sich Magda.
»Nein! Er tut etwas viel Schlimmeres. Er spricht wochenlang nicht ein einziges Wort mit mir, wenn er sich über mich geärgert hat. Dann bin ich Luft für ihn.«
Magda fand das unerhört grausam. In ihrer burschikosen Art sagte sie, was sie dachte. »An deiner Stelle würde ich heimgehen und es dem Vater gleich sagen. Du solltest dich dafür entschuldigen, dass du faul gewesen bist, und ihm versprechen, dich zu bessern. Wenn er dann immer noch nicht mit dir redet, dann frage ihn, ob er immer der Erste in der Schule war. Frage ihn, ob er Halsweh habe und seine Stimme schonen müsse. Rede einfach. Dann wird er schon antworten.«
»Sie kennen meinen Vater nicht«, erwiderte Stella und wischte sich die Tränen aus den Augen. Plötzlich rannte sie davon und ließ Magda stehen, die ihr mit offenem Mund nachschaute.
Auch Magda machte sich nun auf den Heimweg in ihre Pension. Dabei dachte sie über das verängstigte Mädchen nach und kam zu dem Schluss, da kommen manche Leute und bedauern unsere Kinder, weil sie Waisen oder den Eltern unerwünscht sind. Doch wie gut haben sie es bei uns im Vergleich zu diesem netten Mädchen. Ich will Frau von Schoenecker von dem Mädchen erzählen.
*
Stella klingelte. Die Mutter öffnete die Wohnungstür, schaute Stella an und sagte: »Du wirst nicht versetzt?«
»Leider nicht, Mutti.«
Mira Vonberg nahm ihre Tochter in die Arme. »Ich weiß, dass du vor deinem Vater Angst hast. Ich werde dabei sein, wenn du es ihm sagst.«
Stella wusste, der Liebe der Mutter war sie sicher. Auf die Liebe des Vaters konnte sie jedoch nicht bauen. »Danke, Mutti!«
»Du musst verstehen, dass er sehr enttäuscht sein wird, Stella. Er möchte stolz auf dich sein, wie alle Väter. Aber ein Unglück ist es nicht.«
»Das sagte die Frau auch.«
»Welche Frau?«
Stella erzählte von der Begegnung oben auf dem Hellenstein. Mira Vonberg hörte ihrer Tochter aufmerksam zu. Sie wollte der Zwölfjährigen das Gefühl geben, dass die Niederlage, die Markus als Katastrophe empfinden würde, zwar traurig und ärgerlich war, aber dass es in Stellas Hand gegeben war, daraus zu lernen.
»Wenn du mit den Fäusten in die Luft schlägst, werden sich deine Muskeln nicht entwickeln, Mädchen. Wenn du aber Schweres mit ihnen hebst, wenn du gegen Widerspruch ankämpfst, werden sie stärker. Aber nun komm. Sage Ruppi guten Tag und kämme Wulli, der jetzt im Sommer zu viele Haare verliert. Ich bereite das Abendessen zu. Bis Vater heimkommt, können wir noch miteinander reden.«
Stella nahm den elf Monate alten Bruder auf die Arme und küsste ihn zärtlich. Zuerst war sie eifersüchtig auf ihn gewesen, denn vorher war die geliebte Mutti nur für sie allein dagewesen. Nun musste sie teilen. Aber sie durfte Ruppi windeln und füttern, fühlte sich als kleine Mama, begriff, dass er die Aufmerksamkeit und Fürsorge der Mutter mehr brauchte als sie, die Gymnastin. Aus der eifersüchtigen Ablehnung war inzwischen hingebungsvolle Liebe geworden.
Stella setzte Ruppi in das Ställchen zurück. »Nun darfst du zuschauen, wie ich Wulli kämme, Ruppi. Wenn du groß bist, darfst du es tun. Er wird dich genauso lieb haben wie mich.«
Sie rief nach dem Hund, der bellend angesaust kam. Er hatte sein Schlafkörbchen im Abstellraum hinter der Küche. Dorthin war er vom Vater verbannt worden. Stella lockte ihn auf den Balkon. Er sprang auf den Tisch und ließ sich widerstandslos striegeln und glätten. Sie spielte mit ihm, lobte ihn, gab ihm Fleischbröckchen als Belohnung. Doch als sie das Auto ihres Vaters unten vor dem Haus bremsen hörte, kam die Angst, die sie bei der Beschäftigung mit ihrem geliebten Hund vergessen hatte, zurück. Geh ins Körbchen, Wulli. Belle nicht. Vater wird heute nicht guter Laune sein.«
Als habe der Hund sie verstanden, klemmte er seinen Schwanz zwischen die Hinterbeine, trottete mit Hängeohren durch das Kinderzimmer, drehte sich unter der Tür noch einmal um und schaute sie traurig an.
»Du weißt doch, dass Vater dich nicht sehen will, armes Hundchen. Wenn er die Zeitung liest, komme ich zu dir, Wulli. Nun geh schon!«
Stella eilte ins Badezimmer, schrubbte sich die Hände, kämmte das Haar und half der Mutter beim Auftragen des Essens. »Es ist, als ahne Vater, was ihn erwartet. Er kommt heute früher heim als sonst, Mutti.«
Hastig sagte Mira Vonberg: »Weine nicht. Du weißt, Vater hasst das. Sei nicht trotzig und entschuldige dich. Gib keinesfalls ihm die Schuld, hörst du? Versprich, dass du im neuen Schuljahr sehr fleißig sein willst.«
»Ja, Mutti.«
Mira wusste, dass es nicht Stellas Schuld war, dass sie im Gymnasium versagte. Sie musste dem Vater ständig ihre Fähigkeiten beweisen, und er war ungeduldig, wenn sie eine Wissenslücke zeigte. Er zischte sie dann an. Manchmal saß er neben ihr bis nach Mitternacht, bis sie die Hausaufgaben fehlerfrei gelöst hatte. Jeden Abend, bevor Stella zu Bett gehen durfte, hielt er ihr denselben Vortrag. »Du musst es weiterbringen als ich. Du musst die Erste werden. Auch ich war der Beste, bis ich krank wurde, monatelang im Krankenhaus lag und so mein Abitur nicht schaffen konnte.
Mira wusste, dass es eine einfache Blinddarmoperation gewesen war, die seinen Schulweg nur für kurze Zeit unterbrochen hatte. Dieses Ereignis war seine Entschuldigung für sein mangelndes Talent. Er hatte später, nach der Volksschule, in die er zurückversetzt worden war, eine kaufmännische Schule besucht, mit eisernem Fleiß gearbeitet und war heute Speditionsleiter der Heidenheimer Schuhfabrik. Die Stellung war gut bezahlt. Er hatte fünf Untergebene. Seine Chefs lobten ihn, doch jene, die unter ihm standen, fürchteten ihn.
Mira hatte ihr Abitur als Drittbeste bestanden. Ihr Wunsch war gewesen, Tierärztin zu werden. Da hatte sie Markus kennengelernt, sich in ihn verliebt. Aus der Verliebtheit war Liebe geworden, gepaart mit Respekt vor seinem Fleiß, seiner spartanischen Lebenshaltung. Er war so ganz anders gewesen als die jungen Männer, die sie bis dahin gekannt hatte. Er besuchte keine Nachtlokale, tat das Tanzen als ungesunden Sport ab. Er bewegte sich lieber in der frischen Luft, wanderte – und sie wurde seine Begleiterin. Er lernte Englisch, sie half ihm dabei. Als sie ihren Eltern gesagt hatte, dass sie nicht studieren, sondern Markus Vonberg heiraten wolle, waren diese enttäuscht gewesen. »Wir haben nichts an ihm auszusetzen, Mira. Aber wäre es nicht besser, du würdest einen Beruf erlernen, der dich ernährt, wenn deine Ehe nicht halten sollte?«
Mira hatte damals gelacht. Wenn es einen treuen Mann gab, dann Markus. Sein Lebensziel war, eine Familie zu gründen, ein bürgerliches Leben zu führen, es zu etwas zu bringen.
Während Mira die Kirschsuppe in die Terrine füllte fiel ihr die seltsame Bemerkung ein, die ihr Vater kurz vor seinem Tod gemacht hatte. »Es gibt Menschen, die zu viele Tugenden haben, Mira. Sie sind mir unheimlich, denn aus den Tugenden