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Beschuldigt: Regionalkrimi
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eBook311 Seiten4 Stunden

Beschuldigt: Regionalkrimi

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Über dieses E-Book

Vor dreißig Jahren verließ Frank Lehmann fluchtartig sein geliebtes Seligenstadt.
Der Grund – Lea Albert. Die Schülerin hatte ihn des sexuellen Übergriffs beschuldigt.
In Altötting hatte er sich ein neues Leben aufgebaut und eine neue Liebe gefunden. Umso mehr schockierte ihn die Diagnose: "Krebs im Endstadium" und ihm nur noch wenige Monate blieben.
Von Sehnsucht getrieben, reist er zurück in seine Heimatstadt. Einige Tage später wird seine Leiche an der Hans-Memling-Schule entdeckt, an der er unterrichtet hatte.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Apr. 2021
ISBN9783753186214
Beschuldigt: Regionalkrimi

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    Buchvorschau

    Beschuldigt - Rita Renate Schönig

    Anmerkung

    Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Teile des gesprochenen Textes sind im Seligenstädter Dialekt verfasst und deswegen, die Grammatik betreffend, nicht regelkonform.

    chapter2Image1.jpeg

    Ich wurde von Rita Schönig gebeten, einen Teil des Krimis zu übernehmen, was ich sehr gerne gemacht habe. Für die Szenen im oberbayerischen Altötting und den Personen, die nichts mit Seligenstadt zu tun haben, bin also ich verantwortlich.

    Vielen Dank für die angenehme Zusammenarbeit!

    Ich wünsche gute Unterhaltung bei diesem spannenden Krimi!!

    Grüße aus Altötting,

    Irene Dorfner

    Inhalt:

    Frank Lehmann hat nur noch wenige Monate zu leben. Die Zeit, die ihm bleibt, will der 58-jährige ehemalige Lehrer für Sport, Musik und Geschichte in seiner Heimatstadt verbringen, die er vor fast 30 Jahren fluchtartig verlassen hatte. Der Grund: Lea Albrecht. Die Schülerin hatte ihn beschuldigt, sie sexuell belästigt zu haben. Aufgrund nicht eindeutiger Beweise wurde die Sache intern geregelt und die kurzfristige Suspendierung zurückgenommen. Nachdem aber sogar seine Ehefrau Marion an seiner Unschuld zweifelt und ihn mit ihrer zwei Jahre alten gemeinsamen Tochter verlässt, hält ihn nichts mehr.

    Mit nur einem Koffer und seinem geliebten Akkordeon setzt er sich am Abend des 6. August 1990 in die Regionalbahn. Ein bestimmtes Ziel hat er nicht, nur weit weg. Am nächsten Tag kommt er in Altötting an.

    Zunächst erhält er den Job eines Aufsichtführenden im Museum, der neuen >Schatzkammer Haus Papst Benedikt XVI<. Einige Monate später wird ihm eine Arbeit im Archiv angeboten.

    Er findet Freunde und … Franziska. Im Grunde ist er glücklich. Deswegen erwischt ihn die Diagnose „Krebs im fortgeschrittenen Stadium" eiskalt; und mit ihr die Sehnsucht nach seiner Heimatstadt.

    Franziska hinterlässt er ein paar Zeilen und die Hälfte seiner Ersparnisse. Den Rest beabsichtigt er seiner Tochter Nele auszuhändigen – falls möglich – persönlich.

    In Seligenstadt angekommen, zieht es Frank Lehmann sofort an den Main und an seine Schule. Augenscheinlich steht die Lehranstalt schon seit langer Zeit leer und vier Jugendliche benutzen sie als Lager und Rückzugsort. Sein eigenes Herumlungern vor dem Gebäude wird deshalb misstrauisch beobachtet.

    Zwei Tage später wird Frank Lehmann an der Sandsteinfigur des >Heiligen Nepomuk< lehnend, tot aufgefunden.

    Impressum

    Texte © Copyright by

    Rita Renate Schönig und Irene Dorfner

    Bildmaterialien © Copyright by

    Rita Renate Schönig

    Mailadresse:

    buch@rita-schoenig.de

    www.rita-schoenig.de

    Protagonisten:

    Frank Lehmann, Mordopfer

    ehemaliger Lehrer in der Hans-Memling-Schule

    Franziska Obermayer

    Lebensgefährtin in Altötting

    Marion Brauneis

    Ex-Ehefrau von Lehmann

    Jochen Brauneis

    jetziger Ehemann.

    Nele (Cornelia) Schäfer

    (gemeinsame Tochter von Frank und Marion Lehmann)

    Stephan Schäfer

    Ehemann von Nele

    Marco Schäfer

    Sohn der Schäfers

    Freunde von Marco

    Till Michaelis aus Altötting

    Julian und Pauline Keiler (Zwillinge)

    Lea Keiler geb. Albrecht und Jan Keiler

    Eltern der Zwillinge

    Karl Hetzer (Biker)

    Ermittlerteam – Präsidium Offenbach K11

    Nicole Wegener

    Erste Kriminalhauptkommissarin

    Lars Hansen

    Kriminalhauptkommissar

    Dietmar Schönherr

    Kriminaloberkommissar

    Falk von Lindenstein und Felix Heller

    Staatsanwaltschaft

    Dr. Martin Lindner, genannt Doc und

    Viktor Laskovic

    Gerichtsmedizin

    Seligenstädter Polizeistation:

    Josef Maier

    Polizeihauptkommissar/ Dienststellenleiter

    Hans Lehmann

    Polizeioberkommissar

    Berthold Bachmann

    Polizeikommissar

    Kriminalpolizei Mühldorf am Inn / Bayern

    Leo Schwartz

    Kriminalhauptkommissar

    Hans Hiebler

    Kriminalhauptkommissar

    Claudia Notheiler

    Jugendbeauftragte

    Tatjana Struck

    Kriminalhauptkommissarin

    Rudolf Krohmer

    Leiter der Polizei Mühldorf

    Eberwein

    Staatsanwalt

    Personen in Altötting

    Claudia Notheiler

    Betreuerin Jugendclub Altötting

    Ludwig Hohenberger

    Opfer (Geschwister Camilla und Jonas)

    Sebastian Hinterwinkler

    Freund von Frank Lehmann

    Maximilian Haindl

    Freund und Kollege von Lehmann

    Franziska Obermayer

    Lebensgefährtin von Lehmann

    Kurt Engelbrecht

    Polizist Altötting.

    Hobby-Soko – Seligenstadt

    Helene Wagner

    ehemalige Vermieterin und mütterliche Freundin von Nicole Wegener

    Herbert Walter

    Lebensgefährte von Helene

    Georg (Schorsch) Lenz

    Nachbar

    Brigitte Diaz

    Freundin von Schorsch

    Gundula (Gundel) Krämer

    Nachbarin

    Ferdinand und Bettina Roth

    gute Freunde

    Seligenstädter Ausdrücke:

    Danzbär – Tanzbär

    derrabbelisch – meist männliches Wesen mit Untergewicht

    fuchtelisch – nervös

    Griffel – Finger

    Hinkel – Huhn / Hühner

    Knodderdibbe – jemand der meckert

    Matzelauge – verklebte Augen

    Oigeplackte – Hinzugezogene

    zobbele – zupfen, ziehen

    Freitag – 06. September 2019 / 09:50 Uhr

    Seit Frank Lehmann wusste, dass er nicht mehr allzu lange zu leben hatte, stellten sich immer häufiger Erinnerungen an seine Heimatstadt ein und er beschloss: Bevor ich endgültig den Löffel abgebe, will ich noch mal durch die schöne Altstadt und am Main entlang gehen, mir die hübschen Fachwerkhäuser ansehen – vor allem aber meine Schule.

    Jetzt, als er vor dem Gebäude stand, musste er mit Bedauern feststellen, dass die Schule offenbar sein eigenes Schicksal teilte. Es war fast schon zum Lachen, wäre es nicht so traurig. Beide waren sie nur noch eine leere Hülle – ausgemustert. Gedankenverloren ging er zur Mauer, von der aus man einen wunderschönen Blick auf den Main hatte, und strich mit einer Hand über den rauen Sandstein.

    Gerade legte die Fähre an, eine für Seligenstadt nicht wegzudenkende und schon fast historische Institution. Fröhlich schwatzende Menschen, mit und ohne Fahrräder, sowie einige Autos, verließen die schwimmende Querung zwischen dem Freistaat Bayern und Hessen. Manche steuerten direkt auf das nur wenige Schritte entfernte Eiscafé zu. Andere strömten durch die Kleine Maingasse in Richtung Innenstadt und die Fahrradfahrer traten kräftig in die Pedale, um die kurze Steigung der Großen Maingasse zu meistern, während die Autos an ihnen vorbei rollten.

    Die nächsten Stunden verbrachte Frank damit, alle Ecken der Stadt aufzusuchen, die ihm vertraut waren. In „Kloa Frankreich" – einem idyllischen Bezirk in der Altstadt und von den Einheimischen noch immer so genannt, weil Abt Leonhard Colchon im 17. Jahrhundert, nach dem 30-jährigen Krieg, einige Franzosen dort angesiedelt hatte – setzte er sich auf die Bank unter der alten Linde und spielte auf seinem Akkordeon. Früher hatte er auch gesungen. Er hatte eine schöne Stimme. Jetzt aber blieb ihm nach nur wenigen Worten die Luft aus.

    Dieser verdammte Krebs. Er machte ihn gleichermaßen wütend und traurig. Vor allem, weil es für eine Therapie zu spät wäre, wie der Arzt erklärte und fast schon vorwurfsvoll nachsetzte, dass er, wäre er früher gekommen, man vielleicht noch etwas hätte tun können.

    Frank musste sich eingestehen, dass ihm das Atmen in letzter Zeit immer schwerer gefallen war. Besonders, wenn er die Treppen des Museums der >Neuen Schatzkammer Haus Papst Benedikt XVI< hochrannte. Der folgende fast regelmäßige Hustenanfall kostete ihn noch mehr an Kraft. Trotzdem traf ihn die Diagnose „Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium" heftig. Dabei hatte er nur in den Siebzigern geraucht, auch mal einen Joint – wie viele aus seiner Generation – es aber aufgegeben, als seine Ex-Frau schwanger geworden war.

    Einige der alteingesessenen Bewohner von Seligenstadt, diejenigen, die ihn noch als Lehrer in Erinnerung hatten, würden bestimmt sagen, dass das Schicksal ihn eingeholt hatte und er nun seine gerechte Strafe erhalten würde. Wobei er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.

    Lea, eine dreizehnjährige Schülerin hatte ihn der sexuellen Belästigung bezichtigt. Dass es genau umgekehrt war, wussten nur Lea und er. Wegen ihrer schlechten Noten speziell in Geschichte bat sie um ein persönliches Gespräch. Selbstverständlich kam er der Bitte nach, schließlich war er doch auch Vertrauenslehrer.

    Kaum alleine im Klassenraum, kam sie dicht an ihn heran und knöpfte ihre Bluse auf. Als plötzlich eine andere Schülerin zur Tür hereinkam, schrie Lea und schlug wie eine Wilde auf ihn ein und das Schicksal nahm seinen Lauf. Dass er nichts getan hatte, für das er sich schämen oder gar verantworten müsste, interessierte damals niemanden. Im Nachhinein war ihm jedoch klar: Er hätte es besser wissen müssen. Lea Albrecht hatte es nicht so mit der Moral. Des Öfteren wurde sie mit älteren Schülern im Heizungskeller erwischt, woraufhin ihre Eltern einbestellt worden waren, sich aber nicht nennenswert darüber aufregten. Zum Glück für Frank Lehmann und aufgrund nicht eindeutiger Beweise kam es zu keiner Anklage. Die Angelegenheit wurde intern geregelt und die kurzfristige Suspendierung zurückgenommen. Dennoch stachen die Blicke, denen er in der Stadt ausgesetzt war, wie Nadeln in seinen Rücken.

    Letztendlich war es aber das einsetzende Misstrauen seiner Frau Marion und deren Auszug mit ihrer zweijährigen Tochter Nele aus dem gerade neu erbauten Haus, das ihn veranlasste, aus seiner Heimatstadt wegzugehen. Nicht einmal die Tür hatte er abgeschlossen, als er am Abend des 6. August 1990 in die Regionalbahn stieg. Warum auch? Er hatte nicht vor, jemals wiederzukommen. Und trotzdem war er jetzt wieder hier.

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    Sehr zur Enttäuschung seiner jungen Zuhörer hörte er auf zu spielen. Zuerst noch scheu, dann mutiger, hatten sich vier oder fünf Kinder neben ihn auf die Bank und auf das niedrige Mäuerchen gesetzt, welches das kleine Areal zum Teil eingrenzte.

    Er schnallte sich sein Musikinstrument auf den Rücken und lief durch enge Altstadtgässchen zum Marktplatz. Anstatt der hier früher parkenden Autos hatten die ringsum ansässigen Gasthäuser den Platz mit ihrer jeweiligen Bestuhlung eingenommen. Der Geruch nach Schnitzel, Pommes und anderen schmackhaften Speisen lag in der Luft. Frank verspürte Hunger.

    Er hatte sein gesamtes Bargeld, das er in einem Safe seiner Hausbank aufbewahrte, mitgenommen und zusätzlich sein Girokonto geplündert. Wenn er sparsam wirtschaftete, sollte es bis Ende des Jahres reichen – falls er überhaupt so lange leben würde. Sein Sparbuch, sowie die Wertpapiere und Anleihen hatte er zur Hälfte Franziska überlassen – sozusagen als Zeichen der Abbitte für sein Verschwinden – und dies in seinem kurzen Abschiedsbrief, in dem er ihr ebenfalls von seiner unheilbaren Erkrankung berichtete, bekundet. Den anderen Teil sollte seine Tochter Lea erhalten, sobald er selbst nicht mehr unter den Lebenden weilte. So hatte er es festgelegt und seinen Anwalt entsprechend instruiert.

    Sein Blick blieb an der Gaststätte hängen, in die er schon früher gerne eingekehrt war. Am Essen jedenfalls würde er keinesfalls sparen. Schließlich konnte jede Mahlzeit seine Letzte sein – sozusagen seine Henkersmahlzeit.

    Am Rande der Außenbestuhlung war ein Tisch frei. Darauf steuerte er zu und platzierte sein Akkordeon neben sich auf den Stuhl. Auf der Speisekarte standen noch immer deftige Gerichte, nur die Wirtsleute hatten einen jugoslawischen Namen. Ach nein – Jugoslawien gab es ja auch nicht mehr. Er bestellte ein Schnitzel mit Pommes, einen großen Salat und ein Radler.

    Während er auf sein Essen wartete, fiel ihm auf, dass sich viele Touristen in der Stadt tummelten, eindeutig zu erkennen an den stets in die Umgebung gerichteten Handys. Zudem folgten die Augen einer Gruppe Leute dem ausgestreckten Arm – vermutlich einer Stadtführerin – die zum Erker des „Einhardhaus" zeigte. Über dessen Fenster schaute der geschnitzte Kopf des legendären Eginhard herab, der Berater und Freund Kaiser Karls aus dem Geschlecht der Merowinger.Wegen seiner imposanten Erscheinung und der eigenen 7-Fuß-Größe, dem heutigen Maß von 1,92 Meter wurde er auch Karl der Große genannt.

    Frank Lehmann erinnerte sich an die Geschichtsstunden, in denen er den Zweitklässlern die Fabel erzählte, wie Seligenstadt angeblich seine Namensgebung erhielt und sie gebannt an seinen Lippen hingen. Besonders gefallen hatte den Kindern, dass Emma, die Tochter Kaiser Karls mit Eginhard durchgebrannt war und der mächtige Kaiser nach den beiden suchte. Gefunden und letztlich verraten hätte sie der Duft von Emmas einzigartigen Pfannkuchen. Der Kaiser soll ausgerufen haben:

    Selig sei die Statt genannt, in der ich meine Tochter Emma wiederfand.

    Zum ersten Mal, seit Wochen, breitete sich ein Schmunzeln in Frank Lehmanns Gesicht aus. Die Bedienung, die ihm den Radler auf den Tisch stellte, folgerte, dass ihr das Lächeln galt, und erwiderte es mit einem: „Zum Wohl, der Herr."

    Frank nahm dies zum Anlass und fragte, ob sie wüsste, seit wann das Schulgebäude am Main schon leer stand und weshalb. Sie verneinte. Zeigte dann aber zum Einhardhaus. „Am besten, Sie erkundigen sich im Büro der Touristeninformation. Die Damen dort können Ihnen bestimmt weiterhelfen."

    Nach der schmackhaften Mahlzeit ging er, wie ihm geraten worden war, zu besagter Tourist-Info, wie ein Schild an der Eingangstür auf die korrekte Bezeichnung hinwies. Die Auskunft, die er bekam, stimmte ihn aber keineswegs freudiger. Um die altehrwürdige Hans-Memling-Schule hatte ein unschöner Kampf begonnen und das Gebäude war in den letzten Jahren zwischen zwei Fronten geraten. Ein Teil der Bevölkerung wollte eine private Lehranstalt daraus machen; der andere die Räumlichkeiten der Allgemeinheit für soziale Zwecke zugutekommen lassen. Beides kostete aber Geld, das keinem der Interessenten zur Verfügung stand.

    Ein Abstimmungsaufruf der „Freunde der HMS" – so nannten sich die Befürworter der gemeinnützigen Nutzbarmachung – an die Einwohner der Stadt, entschied letztlich zu deren Ansinnen. Dennoch dämmerte das Gebäude weiter in seinem komatösen Zustand dahin. Erfreulicherweise trotzte die Substanz des Hauses einem frühzeitigen Verfall; wenn man bedachte, dass der Hauptteil der Schule schon 1843 erbaut worden war und danach stetig erweitert wurde.

    Tief in Gedanken versunken fand Frank sich erneut auf dem ehemaligen Schulgelände wieder. Er setzte sich auf die Stufen des mittigen Haupteingangs, nahm sein Bandoneon vom Rücken und schlug einige leise Akkorde an.

    Die Gruppe der älteren Personen bemerkte er erst, als einer von ihnen seinen Gehstock anhob und in seine Richtung zeigte. Sollte der untersetzte und glatzköpfige Mann ihn erkannt haben? Und wenn schon, dachte Frank Lehmann, senkte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf sein Musikinstrument. Sekunden später hatte er die Leute vergessen.

    Freitag / 15:50 Uhr

    „Wenn isch eusch des doch saach. Des is der Lehmann, der Lehrer von der Schul do, der üwer Nacht verschwunne is. Isch hoab den genau erkannt, beharrte Schorsch und schwang seinen Gehstock beim Laufen hin und her. „Der hot aach genau so e Quietschkommod‘ gespielt – weil, der war doch Musiklehrer – domols in der Schul.

    „Überleg doch mal, entgegnete Herbert. „Das könnt‘ dreißig Jahr oder sogar länger her sein. Wie willst du den jetzt noch erkenne? Außerdem siehst du sowieso net mehr sehr …

    „Mit der neuen Brille sieht der Schorsch wieder sehr gut", verteidigte Brigitte ihren Freund.

    „Ja genau, stimmte der zu. „Ihr habt aach noch goar nix gesacht … wie die eusch gefällt. Die Britschitt hot die fer mich ausgesucht. Die war ganz schee deuer. Hier, guckt e mol. Bei dem Versuch, die Sehhilfe von seiner Nase zu nehmen, stieß er gegen Herberts Oberarm und die Brille fiel ihm aus der Hand auf die roten Sandsteinplatten vor der Kirche.

    „Schorsch! Brigittes Aufschrei übertönte fast den Schlag der Kirchenglocke, die gerade 16 Uhr schlug. „Du bist aber auch manchmal ungeschickt, schimpfte sie und gab Schorsch die Brille zurück, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie heil war.

    Gundel konnte sich ein Grinsen nicht verbeißen. Seit sie ihre kurze Eifersüchtelei auf die aus Chile zurückgekehrte Britschitt, wie Schorsch Brigitte Diaz geborene Zimmermann nannte, überwunden hatte, kamen die drei gut miteinander zurecht.

    Bis vor wenigen Monaten war Sepp noch mit von der Partie. Wenn auch nicht mehr so flott zu Fuß, brachte er durch seine abenteuerlichen Marotten und Einfälle immer wieder Leben in die Truppe. Gundel erinnerte sich noch gut an einige Episoden.

    Weil die Festnetzstation auf den Boden gefallen und zerbrochen war, hatte Sepp versucht, das Gehäuse mit Sekundenkleber zu verbinden. Daraufhin mussten die Sanitäter seine Finger, die an der Station klebten, mit einem Spezialmittel lösen. Dann die Sache mit dem vermeintlich toten Kaninchen seines Enkelsohns Leon, dass durch einen identisch aussehenden Hasen ersetzt werden sollte. Stunden später stellte sich heraus, dass das Karnickel nur eine Schnapsleiche war, wegen der ausgelaufenen Flasche Korn, die Sepp im Hasenstall vor seiner Tochter Elfi versteckt hatte. Dass es sich bei dem alkoholisierten Langohr um eine Häsin handelte, die mit dem neu hinzugekommenen Rammler gleich mal eine Familie gegründet hatte, darüber war nur Leon begeistert – dessen Eltern weniger.

    Sepps Einfall im letzten Jahr setzte allem aber die Krone auf. Er fotografierte, was ihm vor die Linse kam, und die Aufnahmen landeten letztlich im weltweiten Netz, freilich mithilfe der Körner-Jungs aus der Nachbarschaft. Doch damit ging er eindeutig zu weit. Zumal Gundel bei einem seiner Schnappschüsse die Hauptrolle spielte und dazu in einer keinesfalls vorzeigbaren Situation. Auch wenn die Aufzeichnung von Felix und David Körner wieder aus dem Internet herausgenommen wurden, war das Verhältnis zwischen ihr und Sepp etwas angekratzt – bis vor einigen Wochen.

    Er stürzte auf der Treppe im Hauseingang und konnte das Bett nur noch selten verlassen. Seit dieser Zeit saß Gundel oft bei ihm.

    Wenn isch mol werklisch net mehr waas, was do owe bei mir vorgeht – sagte er und zeigte auf seinen Kopf, der mit einem weißen Verband umwickelt war – musst de mir verspreche, dass de mir e ganz besonders Plätzje backst, domit des schnell vorbei is.

    Zuerst machte Gundel große Augen, nickte dann aber zögerlich. Oft hatte sie ihre Spezialplätzchen mit den geheimen Zutaten gebacken und sich diese zusammen mit Sepp und Schorsch bei einer Tasse Tee schmecken lassen. Und ja – einmal hatte sie sich in der Dosis vertan. Die Folge war, dass sie alle ausgelassen in Sepps Garten tanzten und sangen, hatten aber die Orgie, wie Herbert es genannt hatte, ohne Schaden überlebt. Die Cannabispflanzen nicht. Er entsorgte sie noch am gleichen Tag. Jedoch war der Nachschub durch Gundels Freundin aus den Niederlanden gesichert, jetzt sogar in mundgerechter Form. Und die hohen Stromkosten, die das Aufziehen der Pflanzen erforderlich machten, fielen ebenfalls weg.

    Es war schon besser so – besonders für Sepp, sprach Gundel sich selbst Mut zu und wischte die Tränen, die über ihre Wangen kullerten, hurtig weg. Innerhalb von vierzehn Tagen schloss er für immer seine Augen. Elfi hatte gesagt: Mit einem Lächeln im Gesicht. Ob das stimmte ...? Auf jeden Fall half es und Gundel war heilfroh, dass sie ihr Versprechen nicht einlösen musste.

    „Warum ist der Lehrer verschwunden?", wollte Brigitte wissen und holte sie damit in die Gegenwart zurück.

    „Ach, des war e ganz komisch Geschicht, erwiderte Schorsch. „Do war so a Mädsche, die hot ihrn Lehrer …

    „Ihr kommt doch noch mit zum Kaffee?", wurde er von Elfi unterbrochen. Sie, ihr Mann und Leon – Sepps Lieblingsenkel – sowie dessen Eltern hatten die Gruppe mittlerweile eingeholt.

    „Ich habe einen Schokoladenkuchen gebacken, sagte Bettina. „Den hat Sepp immer so gerne gemocht.

    Spontan fuhr Schorsch genüsslich mit der Zunge über seine Lippen. Gleichzeitig blickte er zum Himmel hoch. „Mer esse e Stick fer disch mit Sepp und denke debei an disch."

    Herbert drehte seinen Kopf zur Seite und wischte eine kleine Träne aus den Augenwinkeln. Nicht nur wegen des emotionalen Moments glänzten jetzt auch Schweißperlen auf seiner Stirn. Von einem nur mit wenigen Wölkchen besiedelten, fast strahlendblauen Himmel schien die Herbstsonne und überschritt nochmals die 18 Grad-Marke. Er schwitzte gewaltig in seinem schwarzen Anzug und war froh, das Jackett bald ausziehen zu können – wenn er denn durfte. Ein Seitenblick zu Helene, die sich ebenfalls mit einem Taschentuch über die Stirn wischte, erfüllte ihn mit Hoffnung. Offenbar war ihr in dem dunkelblauen Kleid mit den weißen Pünktchen, das ihr wunderbar stand, wohl auch zu warm.

    chapter6Image2.jpeg

    Beim Klang der Kirchenglocke schreckte Frank zusammen. Reflexartig zuckte seine Hand nach rechts, wo er sein Akkordeon abgestellt hatte, und atmete erleichtert auf. Das Instrument lag neben ihm. Er musste wohl auf der >Bambelbank<, wie eine angebrachte Plakette die erhöhte Sitzgelegenheit bezeichnete, eingeschlafen sein. Vor einigen Stunden hatte er sich der auf den ersten Blick unbequem aussehenden Bank nahe dem Spielplatz genähert. Schnell stellte er aber fest, dass es sich gut darauf sitzen ließ, obwohl oder gerade, weil die Füße den Boden nicht erreichten und deshalb baumelten. Die anhaltenden Schläge der Kirchenglocke verkündeten, es war 6 Uhr abends und er brauchte eine Unterkunft für die Nacht – und dringend eine Dusche.

    Noch immer schien die Sonne aus einem fast wolkenlosen Himmel mit schätzungsweise um 20 Grad Temperatur. Aber laut Wetterbericht würde es schon bald abkühlen und für die nächsten Tage war Regen angesagt. Frank besann sich des Schildes im Fenster eines Fachwerkhauses in der Altstadt, das Ferienzimmer anbot. Sollte er da sein Glück versuchen, oder doch lieber die unpersönliche Umgebung eines Hotels bevorzugen? Mit Sicherheit würde man dort weniger Fragen bezüglich seines Aufenthaltes stellen – wenn überhaupt. Aber was machte es schon? Er brauchte ja nicht zu antworten.

    Dennoch entschied er sich für die Ferienwohnung; schließlich wollte er den Rest seines Lebens in dieser Stadt verbringen. Da wäre eine kleine Wohnung besser als ein 12-Quadratmeter-Hotelzimmer.

    Als er den Platz vor der Schule überquerte, fiel ihm ein Mädchen mit einem roten Kapuzenshirt auf, das sich am >Mainbau<, dem 1905 südöstlich zum Main hin angebauten Trakt, herumtrieb und kurz darauf verschwunden war. Neugierig ging er in die Richtung. Doch von der Jugendlichen fehlte jede Spur. Auch in dem Höfchen neben dem Gebäude, dessen Eisentür mit einem Vorhängeschloss gesichert war, konnte er niemanden entdecken.

    Schon zu seiner Zeit an der Schule hatte die Absperrung den Zweck, dass sich kein Kind, während der Pausen dort aufhalten sollte und somit der Aufsicht des Lehrpersonals entging. Dennoch war es, vor allem für die älteren Jahrgänge eine Verlockung gewesen, auf der Brüstung balancierend das Gittertürchen zu umgehen, um in den Hofbereich dahinter zu klettern. Mittlerweile hatte man, wie Frank feststellte, auf der Mauer ein nach innen gebogenes Eisengeländer angebracht, das den Zugang aber nicht wirklich unmöglich machte.

    Jetzt hörte er leise gemurmelte

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