Letzter Ausweg Staatsfeind
Von Axel Rüffler
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Über dieses E-Book
Axel Rüffler
Axel Rüffler, 1963 in Halle/Saale in der DDR geboren, machte eine Ausbildung zum Elektriker in den VEB Leuna Werken und reiste 1988 in die BRD aus. Danach absolvierte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger in der forensischen Psychiatrie, wo er bis heute arbeitet. Er entdeckte erst spät, im Alter von 50 Jahren, seine Leidenschaft am Schreiben, als er in der bierseligen Runde eines Bildungsurlaubes aufgefordert wurde, die Geschichten, die er erzählte, zu Papier zu bringen. Er sagte zu und begann am nächsten Tag seinen autobiografischen Roman "Letzter Ausweg Staatsfeind". Nach den Krimis "Abseits", "Katzengold" und "Aranea" sowie der Satire "Karma Heil" erscheint nun mit "Das Blaue Band" sein vierter Kriminalroman.
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Karma Heil Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKatzengold Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAranea: oder Das Rote Netz Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAbseits Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Blaue Band: Ein Göttingen Krimi Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
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Buchvorschau
Letzter Ausweg Staatsfeind - Axel Rüffler
Ich widme dieses Buch allen, die durch das DDR-Regime ihr Leben verloren, unter ihm gelitten haben und unter den Spätfolgen noch immer leiden.
07.01.2015 – Anschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo", ein entsetzlicher Angriff auf die Meinungsfreiheit und die Demokratie
Und wie reagierte die Demokratie?
Mit einem Gesetzentwurf, der einige Monate später beschlossen und im medialen Schatten eines Fussball-Endspiels als Randnotiz erwähnt wurde.
18.01.2015 - Brief an den Bundespräsidenten
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
auf Grund einiger aktueller Ereignisse möchte ich mich nun doch einmal direkt an sie wenden.
Mit Schrecken und großer Anteilnahme habe ich die Berichterstattung über die aktuellen Terrorereignisse in Frankreich verfolgt. Die Verstärkung der terroristischen Aktivitäten in Europa beunruhigt mich sehr. Andererseits bin ich auch beunruhigt, wie im deutschen Bundestag sich nun einige Debatten verstärken, die auch schon letztes Jahr vor diesen schrecklichen Morden und Geiselnahmen begonnen haben. Ich wende mich ausgerechnet nun an sie, da sie mit der nach ihnen benannten Behörde für Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, auch für mich persönlich einen großen Beitrag geleistet haben, die Zeit des Wartens auf die Realisierung meines Ausreiseersuchens in die BRD und die damit verbundenen Repressalien aufzuarbeiten. Aktuell beunruhigt mich die Vorlage zu einem Gesetzentwurf, der mutmaßlichen IS-Terroristen nun durch Entzug ihres Personalausweises die Möglichkeit des Verlassens der BRD zu verweigern. Auch die Begründung, sie an einer möglichen Teilnahme an Terrorcamps zu hindern, finde ich keinesfalls ausreichend, derart Menschenrechte zu beschneiden.
Wie ihnen aus ihrer früheren Tätigkeit bekannt sein dürfte, hat die Staatssicherheit der DDR mit genau denselben Mitteln öffentlichkeitswirksames Auftreten
versucht zu verhindern. Ich persönlich war eine der Personen, denen man durch den Entzug des Personalausweises und durch die Stigmatisierung des sogenannten PM12
die letzte Menschenwürde versucht hat zu nehmen.
Ich appelliere an sie, diese Umstände aus unserer Vergangenheit in ihrer Entscheidung zu berücksichtigen.
Ich selbst sehe mich als begeisterten Demokraten und Verfechter der europäischen Idee und würde ein solches Gesetz als Schlag ins Gesicht aller Menschen sehen, die unter dem DDR-Unrechtssystem gelitten haben, und als nachträgliche Legitimation von Staatssicherheitsmethoden.
Mit freundlichen Grüßen
Axel Rüffler
Nun saß er da, auf einer Anrichte in der Küche. Alex hatte sich eine Art Puderdose geschnappt, aus dem Paket, das der Postbote mit einem neidischen Gesicht gebracht hatte. Jedes Mal, wenn so ein Paket kam, war so eine Art „Festtag. Seine Mutter Ruth hatte Alex geschnappt und auf die Anrichte gesetzt, damit er nicht weiter stören konnte beim Auspacken. Alex war circa 31/2 Jahre alt, und dieser Moment war der erste in seinem Leben, an den er sich später erinnern konnte. Die Stimmung war ausgesprochen gut. Opa Emil erhielt endlich wieder seine „Ernte 23
-Zigaret-ten, von denen er 3 Packungen am Tag brauchte. Oma Emelie die lange erwarteten Süßigkeiten, die sie sich leider mit dem Rest der Familie teilen musste. Emelie aß gerne und viel Süßigkeiten und Essen aller Art, was man ihr auch deutlich ansah. Ruth bekam ihren Kaffee Jacobs Krönung, den im Osten erhältlichen bezeichnete sie als Gipfel der Frechheit, und Wernher, Alex’ Vater, war noch arbeiten, wie fast jeden Tag sollte er erst abends nach Hause kommen, um dann nach dem Abendessen in seinem Büro zu verschwinden, welches er erst spät abends verließ.
Da saß er nun und sah gebannt dem Treiben zu. Er hatte noch keinen Bezug zu den Sachen, die da verteilt wurden, aber er genoss den Geruch, der sich da im Raum ausbreitete, und der so ganz anders war, als sonst üblich.
Wernher war Dachdeckermeister. Er hatte die Firma von Emil, seinem Vater übernommen. Eine eigene Dachdeckerfirma im Sozialismus, was für eine Aufgabe. Es gehörte schon eine Verbissenheit und Unnachgiebigkeit dazu, sich auf solch eine Aufgabe einzulassen. Emil, Emelie und Wernher mussten nach dem Krieg ihre Heimat verlassen, sie kamen aus Reichenberg, jetzt Liberec, in welchem Emil schon eine gutgehende Dachdeckerei mit tadellosem Ruf betrieb. Sie bestand schon seit 8 Generationen und wurde stets auf den erstgeborenen Sohn übertragen. Im Zuge der Vertreibungen aus dem Sudetenland zerstreute sich die Familie in alle Richtungen. Konstanze, die Schwester von Emil, nach Witislingen an der Donau in die französische Besatzungszone, und Emil, Emelie und Wernher zogen es vor, sich in der amerikanischen Zone anzusiedeln. Die Vorzeichen für einen Neustart erschienen dort am günstigsten. Sie bezogen ein Haus an der Badeanstalt in Röblingen am See, in dem eine provisorische Wohnung für Flüchtlinge ausgewiesen war. Es war ein recht idyllischer Ort. Die Badeanstalt stammte aus der Jahrhundertwende mit herrschaftlichem Hauptgebäude. Es waren Umkleidehäuser für Männer und Frauen vorhanden, natürlich wie damals üblich streng räumlich voneinander getrennt. Ein Nichtschwimmer-Becken war ausgemauert mit Steinplatten, die Einfassung und Treppen aus verziertem Sandstein. Was für ein Luxus, der völlig auf dem Trockenen lag, denn den See gab es nicht mehr. Der ehemalige Salzige See, der große Bruder des Süßen Sees und einst der zweitgrößte See Deutschlands, wurde ab 1884 ausgepumpt, da das Wasser immer wieder in die Kupfermine bei Eisleben einbrach. Kurzerhand wurde er trockengelegt und musste seit dieser Zeit ständig abgepumpt werden. In den Nachkriegszeiten, als der Strom ab und zu knapp war, kam er zeitweise so stark zurück und eröffnete dadurch für die Jugend von Röblingen einen einträglichen Nebenjob. Sie setzten die Menschen mit dem Boot nach Aseleben über, wenn die Straße überschwemmt war. Auch Wernher tat das mit wachsender Begeisterung. Nach längeren Stromabschaltungen war der Wasserstand mitunter so hoch, dass man sich ducken musste, um im Ruderboot noch unter den Überlandleitungen durchzupassen. Überhaupt war die Gegend sehr schön. Rund um die Seen war eine liebliche Hügellandschaft, auf der vor dem Krieg Wein angebaut wurde. Man nannte die Region auch Klein-Italien, da sie durch ein spezielles Mikroklima verwöhnt wurde. Dazu trugen der Harz auf der westlichen Seite und die Saale auf der östlichen Seite als Wetterscheiden bei.
Bei einer der Stromabschaltungen betätigte sich Wernher wieder mal als nebenberuflicher Fährmann, als er währenddessen Ruth kennenlernte. Sie wollte zum Tanzen nach Stedten. Ruth beeindruckte der Geschäftssinn von Wernher. Und als sie erfuhr, dass er in der Dachdeckerfirma seines Vaters arbeitete, ließ sie ihn von da ab nicht mehr aus den Augen.
Irgendwann heirateten die beiden, und seither führte Ruth, die Putzmacherin gelernt hatte, ein Leben als Hausfrau und Mutter von Alex, der 1963 geboren wurde.
Alex saß in seinem Zimmer. Sein Tonbandgerät Marke „Smaragd spielte Jethro Tull. Er schaute auf das „magische Auge
, welches in grünen Farben verlaufend den Rhythmus anzeigte, und dachte nach. Er hatte Sommerferien, die letzten, denn er hatte gerade die Polytechnische Oberschule „Gustav Sobotka" in Röblingen am See beendet.
Er durfte kein Abitur machen. Alex hatte sich geweigert, 3 Jahre zur Nationalen Volksarmee zu gehen. Er hatte keinen Bock mehr auf Drill, dem war er zur Genüge in seinem Elternhaus ausgesetzt. Seine schulischen Leistungen hätten durchaus ausgereicht. Allerdings war Alex's Vater Wernher nicht Mitglied der Arbeiterklasse, obwohl er härter arbeitete, als manch anderer im Sozialismus. Er war selbstständiger Dachdeckermeister, stand tagsüber auf dem Dach und abends saß er bis spät im Büro.
In den Anfängen der DDR waren handwerkliche Kleinstbetriebe in privater Hand durchaus erwünscht. Doch später wurden ihm immer mehr Steine in den Weg gelegt. In dem Maße, wie sich die Ideologie verhärtete, verstärkte sich auch die Verbissenheit, mit der Wernher seine Selbstständigkeit erhalten wollte. Er hatte es durchaus zu ansehnlichem Wohlstand gebracht. Er hatte ein eigenes Haus, im Stil der Zeit renoviert, einen privaten PKW, sogar ein Lizenzprodukt von Renault aus Rumänien, und auch sonst jede Menge Statussymbole. Alex war das alles nicht wichtig. Hatte ihm doch dieser Wohlstand den Neid und die Missgunst seiner Mitschüler und Bekannten eingebracht. Passte doch seine Familie so gar nicht in den sozialistischen Einheitsbrei. Der äußere Schein war perfekt.
Alex hatte sich als Elektriker in den Leuna-Werken „Walter Ulbricht" beworben und war auch angenommen worden. Das Gute an der Zusage war – er war dann endlich weg von Zuhause. Weg von seiner hysterischen Mutter und seinem cholerischen Vater und aus dem kleinbürgerlichen spießigen Röblingen. Seine Kindheitserinnerungen waren schon weitgehend verblasst. Er war Meister im Verdrängen geworden, er hatte sich angewöhnt, nur noch nach vorn zu schauen Er hasste die neu gebaute Schule in Röblingen, in der ihm schon in jungen Jahren versucht wurde, im Rahmen von vormilitärischem Unterricht die These eines überlebbaren Atomkrieges beizubringen, den der westliche Aggressor irgendwann anfangen würde. Die Kellerräume der Schule wären dafür angeblich bestens geeignet. Er hasste den montäglichen Fahnenappell mit militärischem Drill und Aufstellung in Reih' und Glied, wo die neue Schulwoche mit Hissen der roten Fahne und Singen von Arbeiterkampfliedern begonnen wurde. Er hasste den Direktor, der ihm in der fünften Klasse verboten hatte, seine heißgeliebte Jeans, die ihm Tante Konstanze geschickt hatte, in der Schule anzuziehen.
Einzig der Musik- und Kunstlehrer Herr Müller hatten einen Eindruck bei Alex hinterlassen. Damals, an einem Tag im Herbst in der fünften Klasse, sie probten im Unterricht gerade „Der Kuckuck und der Esel, bekam er auf einmal einen cholerischen Ausbruch und schrie:
Ihr seid schon wieder im Schiss-Moll! Es folgte Stille in der Klasse und Herr Müller kämpfte sichtlich mit den Tränen, fing sich aber wieder und sagte:
Tut mir leid, mir geht es nicht so gut, mein Sohn heiratet gerade, und ich kann nicht dabei sein." Er beendete die Stunde und gab ihnen den Rest frei. In diesem Moment hatte Alex eine Ahnung, dass grundlegend etwas in diesem Land nicht stimmen konnte. Heiraten war doch was Schönes, sagten alle. Er selbst lief wie alle Kinder des Ortes immer zu dem Gemeindehaus, wenn wie fast jeden Sonntag geheiratet wurde. Der Fotograf kam aus Eisleben mit seinem Polski-Fiat, mit einer Fanfare als Hupe, die er dann immer zur Freude der Kinder bediente. Was für ein Spaß. Das Brautpaar küsste sich, und dann warfen sie Geld auf den Bürgersteig für die Kinder, die mit einem Band den Ausgang des Standesamtes versperrten. Danach wurde ein Stamm zersägt, und die ganze Truppe verschwand gut gelaunt in einer der beiden Gaststätten des Ortes, um zu feiern.
Wie konnte man einem Vater verbieten, seinen Sohn zu so einem Fest zu begleiten? Alex war ratlos. Er beschloss, seine Eltern zu fragen, die waren ja schließlich auch verheiratet. Von Freude war an den meisten Tagen allerdings nichts mehr zu spüren. Dafür stritten sie sich fast jeden Tag. Alex erhielt auf seine Frage keine Antwort. Ruth und Wernher waren vielleicht schon zu lange verheiratet.
Zwei Wochen nach dem Vorfall sah Alex einen geilen VW-Bus vor dem Haus von Herrn Müller stehen. Man erzählte sich, sein Sohn sei aus West –Berlin zu Besuch. Kurz danach hieß es, Herr Müller geht in Rente, wenig später stand seine Wohnung leer.
Der erste September rückte unaufhaltsam näher. Alex sah die Tagesschau (sein Vater hatte sich standhaft geweigert, die Antenne auf dem Dach so zu drehen, dass nur noch Ostempfang möglich war. Das wurde in den 70-ern forciert mit der Aktion „Freie Deutsche Jugend aufs Dach", Antennen umdrehen, was sie in den kommunalen Mietskasernen ungefragt taten.). Der Sprecher verkündete, dass einer Familie die Flucht aus der DDR mit einem Heißluftballon gelungen war. Der Ballon war selbst genäht, was für eine Wahnsinns Aktion.
Alex war zwar nie so richtig angekommen in seinem Leben in der DDR, hatte aber auch keine unlösbaren Schwierigkeiten. Seine Eltern waren mittlerweile mit sich selbst beschäftigt. Sie hatten beschlossen, sich endlich scheiden zu lassen. Er hatte nun bald die Möglichkeit, Röblingen zu verlassen. Er wollte nach seiner Lehre nach Halle an der Saale ziehen. Die Stadt zog ihn magisch an. Er liebte die Altstadt, sie war im Krieg nicht zerbombt worden. Graf Luckner war mit seinem Motorrad mit einer weißen Fahne den Amerikanern entgegengefahren und hatte kapituliert und die Stadt übergeben. Die Amis hatten sich gerade auf eine Gruppe der SS eingeschossen, die sich auf dem Roten Turm mit einem Flakgeschütz verschanzt hatten. Einige Treffer hatten den Turm schon getroffen, seitdem hatte er keine Spitze mehr. (Alex war mit seinem Vater vor Ort, als diese 1973 mit dem damals größten Autokran der DDR wieder aufgesetzt wurde). Ansonsten war die Stadt weitgehend unversehrt geblieben. Wie sich herausstellte, stand sie auf der Liste der von den Alliierten zu bombardierenden Städte weit vor Dresden. Die Pläne wurden damals kurzfristig geändert.
Ihm gefiel nicht nur die Stadt. Alex sah auch viele Menschen, die er bis dato nur aus dem Westfernsehen kannte, Langhaarige mit zerflickten Jeans, Nato-Parka und Jesus-Latschen, meist noch mit einem selbst genähten Umhängebeutel aus Wandteppichen mit röhrenden Hirschen, und andere Individualisten, sogenannte Kunden. Alles war so komplett anders als in Röblingen. Alex hatte das Gefühl, hier durchatmen zu können. Wie absurd. Die Luftverschmutzung hatte einen Grad erreicht, der in Europa einzigartig war. War doch die Region dank Leuna, Buna und Bitterfeld die dreckigste der DDR. Die Saale hatte an den Wehren Schaumkronen und einen unvergleichlichen Gestank nach faulen Eiern und Chemie, der nicht zum Verweilen einlud und auch jedem Fisch das Leben unmöglich machte.
Da wollte er hin. All das erschien ihm weit lebenswerter als Röblingen, das zudem noch Gefahr lief, von dem Braunkohletagebau aufgefressen zu werden. Sollte es doch verschwinden. Er würde es nicht vermissen.
Alex hatte sich nach seinem 16. Geburtstag eine gebrauchte 150 ccm MZ gekauft. Endlich waren die größeren Städte schneller erreichbar. Er hatte mittlerweile seinen Entschluss konkretisiert. Nach Halle/Saale ziehen und niemals heiraten. Seine Eltern hatten ihm dieses Lebenskonzept für alle Zeiten ausgetrieben; und niemals dick werden. Marius Müller-Westernhagen, was für ein geiler Typ, das waren die Grundpfeiler seiner Philosophie. Auch allzu viele Sachen zu besitzen war ihm suspekt. All dieser spießige, muffige Kleinkram, nein danke. Das Leben genießen, Leute kennenlernen, Feten feiern, gute Gespräche führen, lesen und Mädels kennenlernen. Das Leben konnte so einfach sein. Ihm wurde in der Schule gebetsmühlenartig beigebracht, „Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit", was für ein Schwachsinn. Sollte das heißen, alle DDR-Bürger seien frei, da es notwendig war, sie einzusperren, sie müssten nur noch die Einsicht dafür entwickeln, dass das gut für sie ist.
Für Alex war Freiheit, die Freiheit der Andersdenkenden, also nicht vorhanden. Doch er hatte Pläne, wie er zumindest ein Stück Freiheit für sich erreichen wollte.
Eigentlich waren die Sommerferien ja immer ewig lang, aber die letzten vergingen wie im Flug. Alex hatte sich den Wecker gestellt.
4.³⁰ Uhr, die zwei Glocken auf dem Teil schrillten in den höchsten Tönen. Was war los? Alex war für einen Moment total orientierungslos. Er hatte die Nacht schlecht geschlafen, vor Aufregung. War doch heute dieser Tag, der erste reguläre Arbeitstag in seinem Leben. Alex musste sich um 7.⁰⁰ Uhr in der Berufsschule der VEB-Leuna Werke einfinden.
Er fuhr mit dem Zug nach Halle. Er liebte diesen Bahnhof. Die freischwebende Stahlkuppelkonstruktion auf dem Sandsteingebäude. Einfach nur schön, war der Architekt auch kein Unbekannter, Gustav Eiffel hatte sich hier ein weiteres Denkmal gesetzt. Die real existierende Planwirtschaft hatte schon unübersehbare Spuren hinterlassen, aber man konnte den ursprünglichen Glanz noch erahnen. Die Menschen, die durch den Bahnhof hasteten, hatten sich dem Gebäude angepasst, so schien es. Alex schaute in leere graue Gesichter, die versuchten, ihren Anschluss zu bekommen.
Lang konnte er nicht verweilen, musste er doch noch eine 3/4 Stunde mit der Straßenbahn nach Leuna. Er fuhr über Merseburg, Schkopau, Buna, Leuna. Was für ein Schauspiel, welches sich bot, als die Sonne sich entschied, aufzugehen. Sie hatte es bestimmt schon viel früher vor, doch erst jetzt schaffte sie es, durch den Smog zaghafte Strahlen auf die Industriesilhouetten zu werfen. Da lag er nun, der alles überdeckende Grauschleier über Land und Stadt, den seine Mutter noch nicht reingewaschen hat. Alex war geschockt, er hatte noch mit der Müdigkeit zu kämpfen, die dem frühen Aufstehen geschuldet war, doch das, was er in dem ersten Morgenlicht zu sehen bekam, haute ihn um. Er fuhr vorbei an Abwasserbecken, die durch aufgeschüttete Wälle geschaffen worden waren, in die Flüssigkeiten mit undefinierbarem Geruch durch verrottete Rohre geleitet