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Das Asylhaus: Historischer Roman
Das Asylhaus: Historischer Roman
Das Asylhaus: Historischer Roman
eBook642 Seiten8 Stunden

Das Asylhaus: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

Seligenstadt Anno 1600. Konrad, Mönch des Klosters und der SCHWARZE HANNES, Gastwirt einer Schenke, verstecken und helfen "angeblichen Hexen" und von den "Kurfürstlichen" verfolgte Menschen. Dabei gerät Elisabeth, die Tochter des Wirts, in Gefahr. Sie flieht nach Nürnberg. Als Konrad sie wieder zurückholt, kommen sich die beiden näher.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Okt. 2020
ISBN9783752917994
Das Asylhaus: Historischer Roman

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    Buchvorschau

    Das Asylhaus - Rita Renate Schönig

    ­Das Asylhaus

    ­

    Historischer Roman aus Seligenstadt

    von

    Rita Renate Schönig

    Autoren-Vita:

    Mein Name ist Rita Renate Schönig.

    Das Licht der Welt erblickte ich 1955 in Seligenstadt am Main. In diesem historischen Städtchen wohne ich auch noch heute, mit dem besten Mann, den das Universum für mich bereithielt und mit dem ich seit weit über 30 Jahren verheiratet bin.

    Bis 1998 war ich Einkaufsleiterin in einem mittelständigen Industrieunternehmen, danach selbstständig im Einzelhandel.

    Im November 2002 begann ich ein Studium für Belletristik und Sachliteratur, sowie Journalismus, mit erfolgreichem Abschluss im Januar 2006.

    Wenn Sie noch mehr über mich erfahren möchten und zu meinen, bis jetzt veröffentlichten Büchern, so schauen Sie gerne auf meine Homepage: www.rita-schoenig.de

    Ein persönlich signiertes Buch erhalten Sie, wenn Sie sich mit einer Mail: buch@rita-schoenig.de direkt an mich wenden.

    Bis jetzt veröffentlichte Bücher:

    Regenbogen am Horizont – 2008 – Roman

    Düsteres Erbe – 2016 – Krimi

    Noth Gottes – 2017 – Krimi

    Klosterbrot – 2018 – Krimi

    Mulaule – 2019 – Krimi

    Urlaub mit Flo – 2019 - Kurzgeschichten

    Der rote Brunnen – 2020 – Krimi

    ________________________________________________________________________________________

    Inhaltsangabe „Das Asylhaus"

    Seligenstadt Anno 1600. Konrad, Mönch der Benediktinerabtei und Elisabeth, Wirtstochter einer Schenke sind seit Jahren gute Freunde. Umso mehr erschrickt der Gottesmann als er bemerkt, dass er die inzwischen 16-jährige mit den Augen eines gemeinen Mannes sieht. Er versucht ihr aus dem Weg zu gehen. Dies gelingt ihm allerdings nur halbwegs; denn zusammen mit Hannes, Elisabeths Vater, hilft er denen, die von den Obrigkeiten zu Unrecht beschuldigt werden und auf der Flucht sind.

    Bei dem Versuch, ein altes Weib das als Hexe denunziert wurde vor dem Scheiterhaufen zu retten, kommt Hannes’ Familie selbst Gefahr. Besonders auf Elisabeth hat es der Hauptmann des Kurfürsten abgesehen. Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Martin flieht sie nach Nürnberg. Sie macht die Bekanntschaft mit dem Patrizier Dietrich von Oyrl, der bald um ihre Hand anhält. Trotz ihrer innigen Liebe zu Konrad, die über eine tiefe Freundschaft nie hinausgehen würde – nie dürfe – nimmt sie den Antrag an. Aber dann wird sie Zeuge eines Disputs zwischen Dietrich und seinem Bruder Justus. Dabei kommt ihr zu Ohren, dass ihre Verehelichung lediglich einem niederträchtigen Kontrakt zwischen den Brüdern dienen soll. Für Elisabeth kommt eine Hochzeit nicht mehr infrage, sehr zum Ärger Dietrichs, der sie mit Gewalt umstimmen will. Es kommt zum Kampf. Elisabeth schlägt Dietrich nieder … glaubt ihn getötet zu haben und irrt aufgewühlt durch das nächtliche Nürnberg. Der Erschöpfung nahe wird sie von Wirtsleuten gefunden.

    Konrad, der auf Bitten von Elisabeths Eltern nach Nürnberg gereist ist, um Erkundigungen über die Familie von Oryl einzuholen, sucht gemeinsam mit Martin nach Elisabeth. Sie finden sie im Heilig-Geist-Hospital. Gerade noch rechtzeitig, um sie vor dem Zugriff von Dietrichs von Dietrichs angeheuerten Kumpanen zu retten.

    Während Martin in Nürnberg bei seiner Antonia bleibt und in der Werkstatt ihres Vaters die Seidenweberei erlernt, fahren Elisabeth und Konrad mit den Kaufleuten, die zur Messe nach Frankfurt reisen, zurück nach Seligenstadt. Die Nähe mit Elisabeth bringt Konrad erneut durcheinander und die Gefühle und das Verlangen füreinander lässt sich schließlich nicht länger bezwingen – auch nicht bei Elisabeth.

    _______________________________________________________________________________________

    Umgangssprachliche Begriffe aus dem Manuskript:

    Anrainer: Nachbarn

    Alp: Traumdämonen, Zaubersprüche zur Abwehr

    Bannwein: 1 Pfennig pro Maß und auch von der Lagerung. Steuern, die im Spätherbst, zu Martini, fällig wurden und an den Abt des Klosters bezahlt wurden.

    Bede: Grundsteuer, die von allen Grundstücken, Gärten, Wiesen und Weingärten, erhoben wurde,

    auch wenn sie nicht bebaut waren.

    Herdschilling (Feuergeld): wurde von allen Hausbesitzern verlangt.

    Kapitalrentsteuern: Fruchternten von jedem Malter Frucht, der das Stadttor passierte, von den

    Pförtnern erhoben

    Brotbeseher auch

    Hockenbeseher: Beauftragte des Rates zur Überwachung auf dem Wochen- und Jahrmarkt

    Buteil – Besthaupt: Teil des Nachlasses eines Verstorbenen – an das Kloster (Erbschaftsteuer)

    abzugeben. Beim Tode des Mannes – das beste Stück Vieh;

    beim Tode der Frau – das beste Gewand (das Watmal)

    Credenz: Bittschreiben um Geleit

    DIGITALIS GRANDIFLORA: Großblütiger Fingerhut

    Einspäniger: Kriegsknechte – Reiter mit Spießen oder Büchsen

    Erbes: Erbsen

    Fährregal: Steuern an den Abt des Klosters

    Fauth /Vogt: Bürgermeister

    Ferge: Fährmann

    Fleischschätzer: Beauftragte des Rates zur Überwachung der Viktualien (Wochenmarkt)

    Fressgeld: Verpflegung der Geleitsreiter, der Einspännigen und Pferden

    Fuder: Gewichtseinheit

    Gefälle: Abgaben an das Kloster (den Zehnten) am 11. November Steuern in Form von Naturalien

    Gerechtigkeiten: Gerichtsurteil

    Gescheid: 1 Krug Bier

    Hemina: 0,27 Liter Wein

    Herbarium: Sammlungen von Arzneien in einem Buch

    Imßt: eine kleine Brotzeit

    Initiation: Löffeltrunk – Aufnahme in die „Löbliche Gesellschaft"

    Jenever: Schnaps aus Belgien und Niederlanden

    Konventualen: Bewohner des Klosterbereichs (Klostermitglied)

    Landwehr/Landgeweher /Letze: Landwehranlagen (Befestigungsschutz der Zentbezirke) mussten

    von den Bürgern der Stadt instandgehalten und während der Geleitszeit der Kaufmannszüge oder in

    Kriegszeiten besetzt werden.

    Matinee: hüftlanges Cape

    Malter: Gewichtseinheit wie Kilogramm

    Nähen: Fähren (kleines Fährschiff)

    Ora et Labora: Lebe und arbeite

    PAPAVER SOMNIFERUM: Schlafmohn

    Pedagium: Reitgeld – Abgabe, die jeder reisende Kaufmann zu entrichten hatte, war eine

    Versicherung von Leib und Leben. Als Ausweis diente ein „Geleitszettel".

    Peinliche Befragung: Folter

    Pelerine: Umhang - Mantel

    Pfeffersäcke: wohlhabende, reiche Kaufleute

    Prior: Stellvertreter des Abts

    Rothe Mühle: Klostermühle neben der Fleischschirne – aus roten Sandsteinen erbaut.

    Scharne: Fleischbank (heute Freihofplatz) auch Mehlwaage auch Klosteratz genannt

    Servitium regis: Das Kloster war verpflichtet die, unter königlichem und kurfürstlichem Auftrag

    Reisenden, zu bewirten.

    Stadtwag: Festungsweiher

    Straußen- oder Häckenwirtschaft: Wein- und Bierausschank nur über die Straße möglich.

    Regulär keine Sitzplätze und schon gar keine Übernachtungsmöglichkeiten.

    Teloneum: Geleitsgeld während der Geleitszeit für Waren

    Torwächter/Torpförtner: An jedem Tor versah ein im Pfortenhaus wohnender Pförtner den Wach-

    und Schließdienst. Er schloss in der Frühe beim Angelus-Läuten auf und am Abend wiederum beim

    Angelusläuten zu. Die Torschlüssel nahm der Bürgermeister (Fauth) in Verwahrung. Die Pförtner

    wurden vom Abt und vom Fauth in ihr Amt eingesetzt. Als Jahreslohn erhielten sie neben Wohnung,

    Kleidung, Schuhwerk und Korn einen Geldbetrag.

    Ungeld: eine indirekte Steuer, die bei Einfuhr und Verkauf von Lebensmitteln, wie Früchte, Mehl,

    Wein erhoben wurde. Seit 1463 eine Einnahme der Stadt.

    Wittib: Witwe

    Zapfenschlag: Auskehren der Wirtsstuben – Geschäftsschluss

    Zaubersche/ Zaunreiterin: Hexe

    _______________________________________________________________________

    Niedertor/Crotzenburger Pforte: Stadttor in Richtung Krotzenburg und Steinheim

    Ullengraben: innerer Stadtgraben

    Zeitrechnung / Antike: von Sonnenaufgang (6.00 Uhr) bis Sonnenuntergang (18.00 Uhr) gab es

    12 gleichlange Stunden, jedoch von den einzelnen Jahreszeiten abhing und regional verschieden.

    Abfolge der Gebetszeiten:

    Vigil – auch Matutin genannt – beginnt in der 8. Stunde der Nacht – also um ca. 2.00 Uhr (heute)

    Laudes – Prim bei Tagesbeginn (6.00 – 8.00 Uhr)

    Terz – ca. 9.00 Uhr (3. Stunde)

    Sext – ca. 12.00 Uhr (6. Stunde)

    Non – ca. 15.00 Uhr (9. Stunde)

    Vesper – ca. 18.00 Uhr (12. Stunde)

    Komplet – Nachtgebet, damit endet der Tag, danach Stillschweigen bis zum Morgen.

    _______________________________________________________________________________________

    Impressum

    Texte © Copyright by

    Rita Renate Schönig

    Bildmaterialien © Copyright by

    Rita Renate Schönig

    Mailadresse: buch@rita-schoenig.de

    Webseite: www.rita-schoenig.de

    veröffentlicht: 2020

    Alle Rechte vorbehalten

    Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

    Das Asylhaus

    Anno 828 Januar

    Trotz des Geleits, der bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, saß Bruder Johannes mit eingezogenen Schultern auf dem Karren. Wälder an sich dunkel in ihrer Art, verursachten ihm Ängste. Nicht die Furcht vor Räubergesindel, das sich gerne in diesen unübersichtlichen Waldungen herumtrieb, ließ ihn erschrecken. Diese hatten sich, bedingt durch Eis und Frost, vermutlich ohnehin in ihren Unterschlupf zurückgezogen. Eher war es das Unsichtbare, das seinen schlichten Typus mit unheimlichen Bildern beherrschte.

    Dieses Gehölz, durch das sie fuhren, erschien ihm bedrohlicher als all die Vorherigen, durch die ihr Weg geführt hatte. Bei jedem Rascheln und Knacken im Laub fuhr er zusammen. Auch die heiligen Gebeine der Märtyrer Marcellinus und Petrus, die hinter ihm, in vielen Lagen Leinen eingepackt und zusätzlich mit einer dicken Fettschicht aus Schweinebäuchen ausgepolsterten Holzkiste ruhten, konnten diese Anspannung nicht von ihm nehmen. Fortwährend sandte Johannes stumme Stoßgebete in den Himmel, der sich unter dicken grauen Schneewolken versteckte.

    Ihr könnt die Siedlung nicht verfehlen – ein von unserem himmlischen Schöpfer und unserem geliebten Kaiser Ludwig gleichermaßen ausgesuchter und gesegneter Ort, hatte Eginhard seine Glaubensbrüder instruiert. Immer entlang dem Flusslauf zu eurer Rechten, so hieß es in seinem Schreiben. Sobald ihr den Wald verlassen habt, liegt das Kloster in seiner ganzen Pracht vor euch.

    Doch war diese Gegend von Bächlein und Flüsschen nur so durchzogen und die Orientierung schnell verloren. Und die finsteren Wälder schienen endlos.

    „Schau Johannes, dort", unterbrach Bruder Lukas die düsteren Gedanken seines Ordensbruders und zeigte auf die Helligkeit, die sich, ähnlich einem Höhlenausgang, vor ihnen auftat.

    Nach wenigen holprigen Umdrehungen der Wagenräder erblickten sie inmitten einer weißen Schneelandschaft von einer rechteckigen Mauer umgebene Gebäude.

    „Da vorne. Das muss die Abtei sein, rief Bruder Lukas aufgeregt und schwang die Peitsche über dem Ochsengespann. „Los, das letzte Stück schafft ihr auch noch.

    Ob es Lukas’ aufmunternde Worte waren oder ob die Zugtiere, ähnlich wie Johannes, dem dunklen Wald endlich entkommen wollten, bleibt ein Geheimnis. Die Rindviecher nahmen ihre letzten Kräfte zusammen und zogen ihre geweihte Last zu dem, weithin sichtbar liegenden, Konvent. Ebenso beschleunigten die Rösser der Soldaten ihre augenblickliche Gangart.

    „Wahrlich, ein bemerkenswerter Landstrich, nickte Lukas, je näher sie der Ansiedlung kamen. „Wenn man bedenkt, dass die Gemarkung aus bescheidenen 19 Hofreiten mit gerade mal 13 Familien Leibeigener bestanden hatte …, sinnierte er weiter. „Kaiser Ludwig tat gut daran diese Feldmark seinem Berater und Freund zum Geschenk zu machen. Wie alles, was Eginhard anfasst, gelingt es ihm sicherlich hier, einen gottgefälligen Garten Eden zu schaffen."

    Bruder Johannes atmete hörbar auf und bestätigte seinem Gefährten: „Das ist wohl wahr, Bruder Lukas." Obgleich ihn weltliche ebenso wie Staatsgeschäfte und die damit verbundenen Eigenheiten nicht sonderlich interessierten.

    Johannes hatte sein Seelenheil in der Gemeinschaft der Bruderschaft gefunden und mehr wollte er nicht. Doch anlässlich eines Festgottesdienstes in der Steinbacher Basilika, die Eginhard vor einigen Jahren erbauen ließ, begegnete er erstmalig dem Baumeister und diplomatischen Berater Kaiser Karls dem Großen.

    Johannes lernte Eginhard als einen gottesfürchtigen Menschen und einen klugen Gelehrten kennen. Schon aus diesen Gründen sagte er wohlwollend zu Lukas: „Es sei Eginhard und seinem geliebten Eheweib Imma vergönnt, sich an diesem Fleckchen Erde zu erfreuen, solange es unserem Herrn gefällt."

    „Ja, so sei es, Bruder Johannes. Allzeit war er unserem Kaiser Karl zu Diensten und auch dessen Sohn, Ludwig dem Frommen, ein ebenso gerechter Ratgeber, wie Freund. Seine ihm verbleibende Zeit auf Gottes Erden, abseits von Staatsführung und höfischen Verrichtungen zu verbringen, kann ich nur allzu gut nachvollziehen."

    Wiederum nickte Johannes und ließ seinen Blick über die schneebedeckte Landschaft schweifen. „Nun bin ich gewiss, sprach er mehr zu sich selbst, „dass die Heiligen, hier an diesem schönen Ort ihre endgültige Ruhestätte und ihren immerwährenden Frieden finden werden.

    „In nomine patri, et filio, et Spiritu Sancto. Amen", beendete Lukas die Ausführungen seines Klosterbruders. Die beiden Mönche schlugen das Kreuzzeichen jeweils über ihrer Brust, während sie weiter auf die Abtei zufuhren.

    Ob die Reliquien von Marcellinus und Petrus de facto mit der ihnen zugedachten Ruhestätte wirklich im Einklang standen oder, ob sie sich durch die spätere Anwesenheit der sterblichen Überreste von Eginhard und Imma, die ihnen in ihrer Krypta Gesellschaft leisten würden gestört fühlten, bleibt ein offenes Mysterium.

    Strittig ist gleichwohl die Behauptung, dass ein Mönch, in einer schwarzen Kutte, einige Jahrhunderte später, oftmals in den Gassen Seligenstadts gesehen worden sein soll.

    Ob einer der Märtyrer ruhelos in den Straßen umherschlich oder Eginhard selbst? Wer weiß ...!?

    Die Nürnberger Kaufleute - 1599

    Schon in den frühen Morgenstunden strömte viel Volk aus den umliegenden Zentdörfern und Weilern durch die Stadttore. Es war der Donnerstag nach Lätare, drei Wochen vor dem Osterfest und niemand wollte das außergewöhnliche Spektakel verpassen, das jährlich, genau an diesem Tag, stattfand. Hauptsächlich in der Obergasse drängten sich alsbald die Schaulustigen.

    Auch Elisabeth, ihre Geschwister und die Mutter reckten immer wieder voller Ungeduld die Köpfe. Dann endlich passierte der Handelszug der Nürnberger das Oberstadttor, angeführt von den kurfürstlichen Geleitstruppen, an deren Spitze der Reiterhauptmann mit seiner Rotte – den Einspännigen – ritt; gefolgt vom Vizedom aus Aschaffenburg mitsamt seinem Landhauptmann und Landschreiber, sowie dem Oberkeller.

    Gleich hinterher, auf einem nervös tänzelnden Ross sah man Adam Stirn, den derzeitigen Fauth von Seligenstadt, neben dem Zentgrafen von Groß-Ostheim. Seit der Grasbrücke bei Stockstadt, der letzten kurmainzischen Zollstation vor Seligenstadt, befanden sich die amtlichen Herren im Geleit.

    Fauth Stirn würde gemäß der kurfürstlichen Verfügung in den nächsten zwei Messewochen diese Strecke einmal täglich, zusammen mit seinem Knecht abreiten, um sicherzustellen, dass einzeln Reisende nicht von der vorgeschriebenen Geleitsstraße abwichen und somit den Wegezoll schuldig blieben.

    Allein die Vorstellung, seine ohnehin begrenzte Zeit, mit solch einer lästigen Aufgabe zu vergeuden, selbst aber keinen klingenden Nutzen davonzutragen, wurmte Adam Stirn aufs Äußerste.

    Dennoch bedachte er nun seine Seligenstädter Untertanen, die ihm und den Kaufleuten zujubelten, mit einer gnädig fächelnden Geste und einem gefälligen Lächeln. Und für einen flüchtigen Zeitraum lenkten ihn die freudig strahlenden Gesichter von seinen Sorgen ab, die ihn in den letzten Nächten um den Schlaf gebracht hatten. Aber nur so lange, bis ihn erneut die Frage einholte, ob er recht getan, als er dem verlockenden Vorschlag zugestimmt hatte.

    Mit Gewissheit konnte man die vergangenen Weinjahre jämmerlich benennen. Und auch in diesem Jahr zeigte der Heilige Urbanus, trotz der vielen guten Wachskerzen, die ihm gespendet worden waren, kein Einsehen. Leere, hohl klingelnde Weinfässer lagerten in kalten Gewölbekellern und zeichneten so manchem Wirt tiefe Sorgenfalten ins Gesicht.

    Adam Stirn – selbst Besitzer eines Weinberges im Freigericht – verstand die Seelennot der Weinbauern und Ausschankwirte nur allzu gut. Unzählige Stunden verbrachte er liebend gern in seinem Weinkeller, wovon er nicht mal die Hälfte sein Eigen nennen durfte. Der größere Teil der dort lagernden Fässer war städtisches Besitztum und wurde in der Schankstube im Parterre des Ratsgebäudes häufig bei offiziellen festlichen Anlässen ausgeschenkt.

    Doch das war für Fauth Stirn eine kaum beachtenswerte Kleinigkeit, die er nur allzu gern übersah, wenn er sich zwischen den Rebenfässern niederließ. Was nicht bedeutete, dass er sich an fremdem Eigentum gütlich tat. Dazu war er zu rechtschaffen. Stirn träumte lediglich seinen Traum, Besitzer all dieser Kostbarkeiten zu sein und behauptete, in der Stille, bei einem oder auch zwei Bechern Rebensaftes die besten Einfälle zu haben.

    Dennoch fiel ihm, trotz der vielen Stunden, die er in den letzten Tagen bei seinen Lieblingen verbracht hatte, diesmal keine Lösung für sein Dilemma ein. Es stand nun mal nicht in seinem Ermessen, der Natur zu befehlen. Dagegen überkam ihn immer öfter ein Gefühl der Schwermut, angesichts des schwindenden Vorrats seiner flüssigen Schätze.

    Als sein Weib ihm in der vergangenen Woche auch noch eine Weinschaumsoße vorsetzte und dazu freudestrahlend erklärte, sie hätte einen der besten Tropfen aus seinem Weinkeller verarbeitet, seufzte Adam Stirn nur über so viel Gefühlskälte und Unvernunft.

    Auf seine Frage, ob ein Frankfurter Äppelwoi nicht genügt hätte, verzog Susanne Stirn nur beleidigt den Mund und meinte: „Vielleicht, aber dann hätte ich es den Ausschankwirten gleichtun müssen, die ihrem Wein, außer den üblichen Kräutern, Dinge beimischen, die ihre Gäste vor der Zeit schlaftrunken machen."

    Adam Stirn sprang entsetzt auf. Nicht, weil er sich durch die Ansage seines Weibs bedroht fühlte – Susanne redete viel, wenn Gott den Tag lang werden ließ. Nein! Vielmehr erschütterte ihn seine Unwissenheit über derlei rechtswidriges Vorgehen in seiner Stadt. Daneben begriff er schlagartig die ganze Tragweite dieser Weinverknappung.

    Die Nürnberger – der Hänselbrauch!

    Man würde doch den hochlöblichen Händlern nicht einen, mit wer-weiß-was gepanschten Rebensaft anbieten? Unvorstellbar! Das Ansehen der Stadt und - ganz besonders seines, des Fauths - wären für alle Zeiten dahin. Eine solche Schmach musste verhindert werden. Aber wie? Beim Anblick der wenigen Fässer, die er sein Eigen nennen durfte, schob sein Unterbewusstsein vehement den Gedanken zur Seite, diese kärglichen Bestände zu opfern.

    „Die Menge reicht sowieso nicht aus, die durstigen Kehlen der Handelsleute zu laben", murmelte er vor sich hin.

    Seufzend erhob er sich und beschloss sich mit dem Wolfenwirt Strutmann, in dessen Gasthaus alljährlich der Löffeltrunk vorgenommen wurde, zu beraten.

    „In der größten Not frisst der Bauer Fliegen, zitierte er am gleichen Abend gegenüber Strutmann. Womit er schweren Herzens vorschlug, die Abtei um Hilfe zu bitten. „In deren Kellern lagern ganz gewiss noch genügend Fässer von bester Güte.

    „Die Kuttenträger anbetteln?", polterte Strutmann. „Zu Kreuze kriechen vor den Betbrüdern? Ja, wisst Ihr denn, was das bedeutet? Bis zum jüngsten Gericht wird der Abt uns seines Großmuts versichern. Nie und nimmer! Eher noch gehe ich rüber zum Ochsenwirt, unserem Großherzoglichen Hoflieferanten."

    Strutmann spie den, dem Ochsenwirt verliehenen Titel verächtlich aus, auf den er selbst begehrlich war. „Auch wenn sich mir dabei der Magen umdreht. Allemal besser, als bei den Schwarzkitteln zu katzbuckeln." Mit hochrotem Kopf leerte er seinen Becher und knallte ihn auf den Tisch.

    Gesagt – getan. Doch der Ochsenwirt konnte oder wollte nicht helfen. Dessen ungeachtet schaffte Berthold Strutmann es, einige Fässer Rebensaft zu besorgen; aber zu einem horrenden Entgelt, zu dem er die Stadtkasse ermunterte, ihren Teil beizusteuern.

    Gleichwohl schien die Welt soweit wieder in Ordnung, bis sich die Zunftbrüder, wie üblich, beim Wolfenwirt Strutmann trafen, um in geselliger Runde das Geschäftliche - insoweit es die Gilde anging - zu bereden.

    Kurz vor dem Zapfenschlag schlug Strutmann – schon leicht angeheitert – vor, den „Guten Tropfen", der den Nürnbergern ausgeschenkt werden sollte, wenigstens selbst einmal probiert zu haben. Zumal er, der Wolfenwirt, in erster Reihe in Verantwortung gegenüber der Stadt und den Nürnberger Händlern stünde und man sich ja auf keinen Fall blamieren wollte.

    Die anfänglich strahlenden Mienen der Genötigten verzogen sich aber alsbald zu säuerlichen Fratzen und nicht wenige spien den teuren Wein in hohem Bogen in die allgegenwärtig bereitstehenden Spucknäpfe.

    „He Strutmann. Wollt Ihr uns vergiften?", erbosten sich einige. Und der Löwenwirt meinte spöttisch: „Den Fusel könnt Ihr nicht mal in den Main kippen. Sämtliche Fisch’ würden Reißaus nehmen."

    „Was können wir denn jetzt noch tun?, fragte Fauth Stirn entmutigt in die Runde. „Es sind nur noch zwei Tage, bis die Nürnberger eintreffen. Herr im Himmel, hilf. Er rang die Hände zur kassettenförmigen Holzdecke, als ob er eine göttliche Eingebung von dort empfangen könnte.

    Einige Augenblicke später begaben sich die hiesigen Gastwirte mit gesenkten Häuptern auf den Heimweg. „Jetzt hilft nur noch ein Wunder", murmelte einer beim Hinausgehen.

    Das Wunder näherte sich in der Gestalt von Hannes Bergmann, der dem ganzen Lamento, ohne sich einzumischen, zugehört hatte.

    Mit einem listigen Grinsen im Gesicht flüsterte er Fauth Stirn ins Ohr: „Ich denke, Ihr müsst Euch etwas einfallen lassen. Ich jedenfalls würde den Nürnbergern von diesem Brachwasser nichts einschenken. Denkt an Euren guten Ruf."

    Fauth Stirn dachte an nichts anderes.

    „Aber, Wunder geschehen häufiger als man annehmen würde, raunte Hannes Bergmann. „Ihr solltet nur genau überlegen, bei wem Ihr darum bittet, wenn Ihr wisst, was ich meine?

    Indessen der Handelszug sich langsam dem Freihofplatz näherte, bedeckten Schweißperlen die Stirn des Fauths. Mit einem Leinentüchlein, eingesäumt mit edler Brüsseler Spitze, wischte er über sein Gesicht und wünschte sich, die Unannehmlichkeiten ließen sich ebenso leicht wegwischen.

    Auf dem Freihofplatz, dem sogenannten Asylplatz vor dem Kloster, hatten sich Abt Martinus Krays und die Ältesten der Zunft eingefunden. Nach einigen Worten des Willkommens – deutlich zu schnell nach Adam Stirns Empfinden – zogen sich die „Pfeffersäcke", wie die begüterten Kaufleute volkstümlich betitelt wurden, in die Gaststätte „Zum Wolfen" zurück. Dort war alles für die Initiation vorbereitet.

    Der Magen des Fauths rebellierte und er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Skeptisch betrachtete er den „Großen Löffel" auf dem Tisch, der mitsamt Kette, aus einem einzigen Stück Lindenholz geschnitzt war.

    Der junge Seidenhändler, Justus von Oyrl war diesjährig zum ersten Mal auf der Reise nach Frankfurt und schaute seinerseits angespannt zum Wolfenwirt, der den Löffel mit 1 Liter Wein füllte. Besorgt fragte sich Justus, ob es ihm gelänge, diesen in einem Zuge und ohne abzusetzen auszutrinken. Denn, nur wenn die „Nagelprobe ergab, dass nicht ein Tropfen übergeblieben war, erst dann würde er – genau wie sein Vater vor etlichen Jahren – in die „Löbliche Compagnie aufgenommen werden.

    Gleichwohl war er nicht der einzige Neuling. Maria, die hübsche Tochter des Patriziers, Hans Christoph Tetzels, nahm ebenfalls an der Zeremonie teil. Wobei den weiblichen Anwärterinnen der kleinere Löffel gereicht wurde, der nur einen ½ Liter Wein fasste.

    Justus’ Kumpane stichelten seit Miltenberg, wer - ob das Weib oder er - die Nagelprobe bestehen würde.

    ***

    Indessen das dienstbare Gefolge der Händler für die Versorgung der Pferde verantwortlich war, begaben sich die Geleitsreiter, sowie die kurfürstlichen Beamten in die Obhut des Klosters, das ihnen die Servitium regis, die „Zehrung" zu reichen, pflichtig war.

    Hingegen Matthes Amling, der Syndikus von Nürnberg andere Pläne hatte. Er eilte flugs in die Räumlichkeiten zum SCHWARZEN HANNES. Jetzt, wo alles Volk in den Straßen und Gassen der Stadt unterwegs war, konnte er sicher sein, dass niemand sie stören würde. Denn, die Neuigkeiten, die er für seinen Freund hatte, sollten fremden Ohren nicht zugänglich sein.

    Amling, verantwortlich für die Geleitswerbung und der damit erforderlichen Beschaffung der Bewilligungsbriefe, war drei Wochen zuvor kreuz und quer durchs Land geritten. Vom Landgrafen von Ansbach-Bayreuth, zum Bischof von Würzburg dem Herzog von Ostfranken, sowie zu den Grafen von Castell und von Wertheim. Weiter zum Schenken von Limburg-Speckfeld und zum Burggrafen von Miltenberg, sodann zum Amtmann von Tauberbischofsheim und dem Vicedomus von Aschaffenburg. Jeden dieser hohen Herren ersuchte Matthes Amling um deren Genehmigungen zur Durchquerung ihrer Ländereien; fraglos zu den zu entrichtenden Gebühren.

    Jetzt freute er sich auf eine Sitzgelegenheit, die sich nicht ständig unter seinem Allerwertesten hin und her bewegte und seinen ohnehin schmerzenden Rücken noch mehr peinigte. Vor allem aber hoffte er auf einen erquickenden Becher Bier, gebraut von Hannes’ Weib Gretel, deren Braukunst er über die Landesgrenzen hinaus rühmte.

    Voller Schwung stieß Amling die Tür zur Schankstube auf. „Hannes, bist du hier?", rief er in den Raum, der einzig durch das Tageslicht, das durch die gelblichen Butzenscheiben fiel, mäßig erhellt wurde.

    Erschrocken zuckte der Angerufene zusammen. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis Hannes erkannte, dass es sich nur um Amling handelte, und nicht um sein, vorzeitig zurückgekehrtes, liebendes Eheweib.

    Erleichtert erhob er sich von der Bank und begrüßte seinen Freund mit breitem Grinsen und einem kräftigen Handschlag.

    „Matthes, bin ich froh dich gesund zu sehen. "

    „Gott zum Gruße auch dir Hannes."

    „Komm her. Setz dich und spül dir erst mal den Staub aus der Kehle. Hannes deutete auf den Krug, der auf dem Tisch stand, und nahm einen Becher aus dem Regal hinter dem Schanktisch. „Ist ein ganz ein besonderer Tropfen. Gleichsam ein gesegnetes Scherflein. Er zwinkerte belustigt. „Eine Imßt richt‘ ich dir auch gleich. Die Weiber und auch meine Buben sind alle außer Haus."

    Hannes verschwand in die gegenüberliegende Küche.

    Wein? Na, was soll’s, urteilte Amling und schenkte sich den Becher randvoll. Er nahm einen großen Schluck und stutzte. In dem Moment kam Hannes mit einem Holzbrett zurück, auf dem sich kalter Braten, Zwiebeln, Käse und Brot stapelten.

    „Der Pfründner ist bei dir kein Gastgeber", stellte Matthes, beim Anblick der Köstlichkeiten, grienend fest.

    „Noch werden die Mäuler meiner Familie satt, bestätigte Hannes. „Aber was sagst du zu diesem himmlischen Säftchen?

    „Nun, erwartet und gehofft hatte ich auf das gute Bier, von deinem Weib, aber ..."

    „Ja, ja, das bekommst du auch noch, unterbrach ihn Hannes. „Aber sag, hast du jemals einen solchen Rebensaft gekostet?

    Matthes setzte den Becher erneut an die Lippen. „Ich muss gestehen … nein, einen solchen Tropfen habe ich noch niemals getrunken. Aus welchem Gebiet, oder besser gefragt, aus wessen Keller stammt diese Köstlichkeit?"

    Hannes lachte spitzbübisch. „Wie heißt es so schön? Gottes Wege sind unergründlich und seine Absichten rätselhaft."

    „Ha, ha, keckerte Matthes. „Wenn du Bibelworte in den Mund nimmst, dann hör ich den Teufel das Feuer schüren. Komm, erzähl schon, welche Schandtat hast du diesmal wieder vollbracht, du alter Halunke.

    Hannes setzte sich, goss in aller Ruhe seinen Becher voll und trank ihn in einem Zug aus und wischte mit dem Handrücken über seine Lippen.

    „Keine Schandtat, mein lieber Freund, eher einen Spaß und unserem Fauth habe ich dadurch zusätzlich aus einer misslichen Lage geholfen. Dafür wird er mir allzeit dankbar sein, das glaube mir."

    „Der Fauth?, Matthes bekam große Augen. „Lass hören.

    Hannes beugte sich über den Tisch. „Genau diesen guten Tropfen, er zeigte auf die Becher, „lassen sich die Pfeffersäcke nun auch schmecken.

    Und dann erzählte er, im Flüsterton, wie er drei große Fässer dieses edlen Rebensafts des Nachts, derweil die Brüder in der Kirche in ihre Gebete versunken waren, aus der Abtei entwendet und in den Ratskeller geschafft hatte.

    „Aber, weil der Bruder Cellerar vor einigen Tagen seinen Lagerbestand mal wieder zu gründlich begutachtet hatte und mit schmerzendem Kopf und Gliederreißen daniederlag, konnte keiner mit Gewissheit sagen wann der Wein die heiligen Gewölbe verlassen hatte."

    „Aber, woher konntest du wissen, dass Bruder Durstig …?"

    „Das, mein lieber Matthes bleibt mein Geheimnis." Hannes Augen blitzten verschmitzt und er hob erneut seinen Becher.

    „Auf die göttliche Stiftung."

    „Eines Tags holt dich der Teufel", murmelte Matthes und grinste.

    Die beiden Freunde schlugen ihre Becher aneinander und ließen sich die dunkelrote Flüssigkeit durch ihre Kehlen laufen.

    Indessen schlenderten die weiblichen Mitglieder der Bergmannschen Familie weiter durch die Reihen der Marktstände. Beeindruckt von den roten, goldenen und silbernen Kordeln und Bändern, die zur Schnürung und Verzierung an festlicher Kleidung Verwendung fanden, entfuhr den Mädchen oftmals ein sehnsüchtiges „Oh und „Ah.

    Inmitten der sich bald scharenweise durch die engen Zwischenräume der Stände drängelnden Menschen, tänzelten Gaukler und auffällig herausgeputzte Schausteller. Teils nur durch Gestik oder mit lauten Schellentrommeln, Gesang und Musik, buhlten sie um die Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer.

    Freilich mischte sich, bei solch buntem Treiben, desgleichen Gaunergesindel unters brave Volk. Just in dem Moment, derweil Elisabeth und ihre Schwestern die seidenen Brusttücher und die schweren, mit Goldfäden durchwirkten Stoffe bestaunten, ertönte von der anderen Seite des Platzes lautes Geschrei.

    „Räuber, Diebe! Halt, bleib stehen!"

    Gleich einem Wiesel huschte ein schmächtiger Bursche inmitten der Marktstände hindurch.

    „Haltet den Dieb", brüllte ein fülliger Kaufmann.

    Mit hin- und herschwingen Armen, versuchte er hinterherzukommen, aber der Abstand zwischen den beiden wurde zusehends größer.

    Der flinke Beutelschneider riskierte einen kurzen Blick über seine Schulter und prallte just in dem Moment gegen Elisabeth. Dabei fiel eine schwere Geldkatze, mit sattem Plumps auf das Pflaster. Für einen Sekundenbruchteil sah Elisabeth in zwei vergnügt leuchtende, blaue Augen. Dann war der kleine Halunke behände in einem angrenzenden schmalen Gässchen verschwunden.

    Beherzt griff Elisabeths Mutter nach dem Beutel, um ihn vor weiteren Langfingern in Sicherheit zu wissen, und einen Augenblick später stand der rechtmäßige Besitzer vor ihnen.

    Die ungewohnt schnelle Fortbewegung seines wohlgenährten Körpers hatte den Kaufmann an seine Grenzen gebracht. Schweißperlen liefen von seiner Stirn über seinen hochroten Kopf hinab in seine Halskrause.

    „Gott zum Gruße, werte Bürgersfrau, keuchte er. „Ich danke Euch. Ihr habt mich gerettet. Wie ist Euer Name?

    „Ich bin die Gretel Bergmann", antwortete Elisabeths Mutter ohne Zögern. „Mein Mann ist bekannt als der SCHWARZE HANNES. Uns gehört die Häckerwirtschaft, gleich da vorn. Sie deutete in Richtung ihres Hauses. „Ihr könnt ja mal reinschauen, wenn’s genehm ist. Ein pfiffiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Sodann fuhr sie im ernsten Ton fort. „Ich rate Euch, Euren Geldbeutel sicherer zu verwahren. Diebesgesindel treibt sich überall herum. Gerade bei solch einer Juchhei. Bevor der verdutzte Kaufmann zu einer Erwiderung fähig war, drückte Gretel ihm seine Geldkatze in die feuchten Hände, nickte freundlich und wünschte ihm „Einen gesegneten Tag.

    Binnen Kurzem war die kleine Ausschreitung vergessen und die Leute wandten sich einem Gaukler zu, der sein Publikum staunen ließ, indem er sich brennende Fackeln in den Mund steckte. Ausgerechnet vor dem Eingangsbereich des Klosters hatte sich eine Zigeunergruppe niedergelassen. Dunkelhäutige Tamburin schwingende Frauen bewegten sich aufreizend zu rhythmischen Klängen, die ihre Begleiter aus Fideln und Pfeifen hervorzauberten.

    Einige, besonders gottesfürchtige Seligenstädter Weibsleute schüttelten angewidert die Köpfe; umso herausfordernder schwangen die Zigeunerfrauen ihre Röcke und lachten den Frömmlerischen direkt ins Gesicht.

    Mittlerweile schlug die Glocke der Abteikirche zur sechsten Stunde und Gretel besann sich auf das Mittagsmahl.

    Das gebratene Fleisch, das Käthe, ihre Dienstmagd schon gestern vorbereitet hatte, stand abgedeckt in der Speisekammer. Frisches Brot und Zwiebeln dazu und das Essen für heute wäre auf dem Tisch. So hatte Gretel das geplant. Was sie nicht wusste, war, dass Hannes zusammen mit seinem Gast sich den Braten soeben schmecken ließ.

    Am Maintor

    Die Hitze im August des Jahres 1599 lastete schwer über der Stadt. Selbst die Nächte brachten keine Abkühlung. Nicht der geringste Windhauch streifte durch die dürren Äste der vereinzelt am Mainufer stehenden Bäume. Ohnmächtig ergaben sich Landschaft und Geschöpfe der Laune der Natur. Sogar das unablässige Zirpen der Grillen verstummte schon in den frühen Abendstunden.

    Einzig der Main, auf dessen Oberfläche der fast volle Mond sein silbriges Licht warf, verursachte leise aber stete Geräusche.

    „Sieht noch immer nicht nach Regen aus", seufzt Adam, ein Leinreiter und schaute sorgenvoll in den Abendhimmel.

    „Nein, immer noch keine Wolke zu sehen", stimmte Wenzel seinem Schwager zu und kratzte sich den Bart.

    „Wenn’s in den nächsten Tagen nicht ordentlich vom Himmel schüttet, werden meine Klepper im Stall bleiben. Das kann ich dir versichern, fuhr Adam fort. „Wenigstens fünf Ellen ist’s Wasser im Main gesunken. Die Gäul werden abrutschen und sich die Bein’ brechen, wenn sie die Kähne von dort unten ziehen sollen.

    Er zeigte auf das seichte steinige Flussufer.

    „Na, da werden die Handelsleute aber nicht launig sein, warf Wenzel ein, „wenn du einfach den Betrieb einstellst.

    „Die berappen mir auch keinen Gulden, wenn meine Gäul verrecken, entgegnete Adam mürrisch. „Trotzdem können die Pfeffersäcke zufrieden sein. Auf dem Main ist ihre Fracht immer noch schneller und sicherer, als mit den Gespannen auf dem Landweg durch den Spessart. Grad jetzt, in den schwülen Nächten, wo das Diebesgesindel hinter jedem Baum lauert.

    „Recht haste, pflichtete Wenzel ihm bei. „Ob die Leinreiter bei Steinheim wohl schon ihre Pferde ausgezäumt haben?, sinnierte er. „Die Stockstädter haben’s bestimmt schon gemacht. Jedenfalls kommt seit Tagen kein Kahn mehr aus der Richtung. Der letzte war ein Bamberger mit Vizedomschen Wappen und das war vor zwei Tagen."

    Adam zog tief an seiner Pfeife. „Der Kronenwirt ist auch am Greinen, weil Fischers Hensch ihm zurzeit weder Welse noch Karpfen abliefern kann. Dann lachte er verschmitzt. „Die Fische sind halt schlauer als die Menschen. Die haben sich auf und davon gemacht, in tiefere Gewässer.

    „Alsdann müssen die feinen Gäste halt mit kleineren Fischlein Vorlieb nehmen", grinste Wenzel gleichfalls.

    „Ah, da fällt mir ein – ich hab noch zwei Hemina Wein, von einem der es gut meint mit unsereins. Er zwinkerte seinem Schwager zu. „Wie sieht’s aus, wollen wir uns den gönnen, bevor du zu deiner Liesel heimgehst?

    „Na sicher. Ich kann dich doch nicht alleine saufen lassen", feixte Adam.

    Wenzel freute sich immer über ein wenig Geselligkeit, denn hier am Osttor der Stadtmauer passierte nie etwas Aufregendes. Der Main bedeutete eine natürliche Barriere, sodass nicht einmal die Stadtoberen eine Zugbrücke oder ein Vorwerk für nötig hielten. Und obgleich des Niedrigwassers zurzeit, bestand dennoch immer die Gefahr, dass man bei Unkenntnis der Furt im schlickigen Untergrund stecken blieb oder sich in den Wassertrieben verfing.

    Ungleich verhielt es sich beim Obertor im südlichen Stadtteil, sowie der Röderpforte in Richtung Frankfurt, ebenso bei der Niederpforte in der Unterstadt. Diese waren durch Zugbrücken, Gräben, einem Vorwerk, Erdwall und einem Stadtwag, gesichert.

    Ohnehin begehrte niemand nach Einbruch der Dunkelheit Einlass in die Stadt und möglich wäre es auch nicht. Weil, im Anschluss des abendlichen Angelusläuten, jeder Pförtner sein Tor abschloss und den Schlüssel zum Fauth zur Verwahrung brachte, bis zum morgendlichen Angelusläuten. Demnach sah selbst der mutigste Wandergeselle zu, dass er bis zur Dämmerung hinter den sicheren Mauern Unterschlupf fand. Zu viel übel Pack trieb sich in den umliegenden Wäldern umher.

    Gutgelaunt erhoben Adam und Wenzel sich von der Bank vor dem Narrenhäuschen, in dem zurzeit ein häufiger Stammgast seine Berauschtheit ausschlief.

    Das Gebäude wurde vor etwas über zwanzig Jahren direkt neben dem Stadttorhaus erbaut und diente vornehmlich der Unterbringung von Menschen verstörten Geistes. Zu denen zählten auch zorneswütige Zecher, die ihre Mitbürger in ihrer verdienten Nachtruhe beeinträchtigten.

    Später schob Wenzel seinen Schwager, der sich bereit erklärt hatte, auf seinem Heimweg, den Stadttorschlüssel im Rathaus abzugeben, aus der Wachstube und rollte sich auf seiner schmalen Bettstatt zusammen. Nach einigen Bewegungen, wodurch er die bestmögliche Schlafposition zu erreichen versuchte, weilte er schon im Reich der Träume.

    Nächtliche Schatten

    Aus der dunklen Auenlandschaft auf der anderen Mainseite löste sich ein gar schauerliches Wesen. Sein behaarter Kopf erhob sich zögernd aus dem hohen Gras. Unruhige Augen suchten das gegenüberliegende Ufer ab. Alles anmutete still, nichts regte sich mehr. Endlich war das flackernde Licht verloschen und die beiden Menschen, die sich außerhalb der Stadtmauer aufgehalten hatten, verschwunden.

    Geduckt, im Schutz des dichten Schilfs, watete die Gestalt durch das seichte Wasser. Dabei umging die abscheuliche Erscheinung sorgfältig die nächtlichen Ruheplätze der Enten und Gänse, um ein Aufflattern derselben zu vermeiden.

    Freilich, das Heranpirschen und das Austricksen, egal ob es sich um Mensch oder Tier handelte, lag ihm im Blut. Selbst mit den kurfürstlichen Wildtreibern hatte er Katz und Maus gespielt. Bei diesem Gedanken grinste Vitus in sich hinein.

    Wie oft hatte er sich einen Jux daraus gemacht, die Meute der Jagdhunde in die Irre zu locken. Kreuz und quer hetzten der Fürstbischof und seine Begleiter auf ihren mächtigen Rössern durch die Hörsteinischen Wälder, einer von Vitus absichtlich zurechtgelegten falschen Fährte hinterher, indessen er sich in aller Ruhe seine Beute holte. Letztendlich trieb er der hohen Herrschaft eine Wildsau oder einen Achtender vor die Schusslinien, sodass keinerlei Argwohn aufkam, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Der reichliche Genuss des Rebensaftes, der bei einer solchen Hatz üblicherweise durch zahlreiche trockene Kehlen floss, besorgte das Restliche.

    Ja – Vitus beherrschte sein Handwerk und ein schlechtes Gewissen war ihm fremd, wenn er durch den Hörsteiner Forst streifte. Hasen und anderweitiges Niederwild, auch schon mal ein Reh waren seine Beute, um sich so vor dem Hungertod zu bewahren.

    Wie sonst sollte er über die Runden kommen? Die wenigen Gulden, die er für die Bewachung von Spitzbuben und Teufelsbuhlerinnen erhielt, reichten weder zum Leben noch zum Sterben.

    Letzten Herbst hatte er einen Bären erlegt, worauf er besonders stolz war. Das getrocknete Fleisch brachte ihn durch den Winter und das Fell diente ihm gleichermaßen als Decke - die ihn in den kalten Nächten wärmte - und als Mantel. Ursprünglich hatte er überlegt, den Kopf des Schwarzbären auch zu behalten – sei es nur, um ihn an der Haustür zu platzieren, zur Abschreckung gegen Diebe und Räuber. Doch nach einer Zeit – das Konservieren eines Tierschädels hatte er nie gelernt – wurde der Gestank des sich zersetzenden Hauptes unerträglich. Nur die größeren Eckzähne der Bestie behielt er und befestigte sie an seiner kapuzenähnlichen, ebenfalls aus dem Bärenfell hergestellten Kopfbedeckung.

    Auch jetzt, während er im Schilf kauernd auf die Gunst der Stunde wartete, bedeckte die Bärenfellkapuze seinen Kopf. Bei ungenauem Hinsehen und – in der Nacht sowieso – würde ein menschliches Lebewesen vermuten, es handele sich um eine gefährliche Bestie, die auf Beute lauert.

    Der Schweiß lief Vitus in Rinnsalen in Augen, Hals und den Rücken hinunter, indessen das Fell am Kopf klebte. Sein Gaumen war ausgetrocknet. Den, bis auf den letzten Tropfen geleerten Wasserbeutel, wollte er erst auf der anderen Flussseite wieder füllen.

    Nun traute er sich aus seiner Deckung und zerrte die Kappe vom Kopf. Nach einigen tiefen Atemzügen legte er sich bäuchlings ans flach abfallende Ufer und schlürfte, gleich einem durstigen Tier, das belebende Nass. Dann maß er mit den Augen die Entfernung zur anderen Seite ab. Für einen kurzen Moment kamen ihm Bedenken. Hoffentlich finde ich die Furt, ansonsten … Ach sei’s drum. Was habe ich schon zu verlieren? Doch nur mein Leben und das hängt so oder so an einem seidenen Faden. Mit einem Kopfschütteln vertrieb er die furchtsamen Gedanken.

    Seit er von den Kurfürstlichen und den Schergen der Hörsteinischen Gerichtsbarkeit gejagt wurde, schlich er in den Wäldern um Alzenau herum. Sicher, Vitus kannte sich dort so gut aus wie in seiner Westentasche. Aber jetzt neigten sich seine Nahrungsvorräte dem Ende zu. Außerdem wollte er, nach dieser unseligen Sache und bevor der Winter kam, aus dem Einzugsbereich des Kurfürsten entschwunden sein. Am liebsten wünschte er dem gesamten Frankenland für immer und ewig den Rücken zu kehren. Der jetzige Zeitpunkt schien ihm gerade passend.

    Erneut überkam ihn die Wut. Es war doch nicht seine Schuld, dass dieses Luder von einer Hexe entwischt war – so, als wenn der Erdboden sich aufgetan und diese Zaubersche verschluckt hätte. Ja, gewiss hatte der Teufel seine Hand im Spiel. So und nicht anders muss es gewesen sein. Aber ihn beklagte man, dass er entweder vollsoffen des Weines seine Pflicht unterlassen, oder – und das traf ihn viel schlimmer – er mit der Hexe gemeinsame Sache gemacht hätte.

    Schon der Gedanke ließ ihn erschaudern. Nur verwelkte Haut und Knochen, die Brüste baumelten über ihrem ausgemergelten Körper, wie ausgetrocknete Weinschläuche. Er hatte es selbst gesehen, nachdem der Henkersknecht ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte, um nach Teufelsmalen zu suchen.

    Nachher schnitt der Schinder ihr die Haare ab und rasierte sie kahl, und zwar überall, damit den rechtskundlichen Gottesdienern nicht das kleinste Stigma unentdeckt blieb. Sodann unterzog man die Zaunreiterin der peinlichen Befragung, weil sie noch immer nicht ihre Untaten gestanden hatte. Nach dieser Tortur schaffte man das, was von dem Häufchen Elend übrig geblieben war, wieder in den Turm, um am kommenden Tag mit der gleichen gottgefälligen Strenge fortzufahren.

    Die Untersuchung erstrecke sich über viele Tage, bis sie endlich ihre Schandtaten zugab.

    Am Abend vor ihrer Entseelung hatte Vitus den Pfaffen zu der Hexe lassen müssen, damit sie ihre Sünden bekennen und bereuen konnte. Seiner Meinung nach, ein unnötiges Unterfangen, weil sie auf jeden Fall auf direktem Weg in die Hölle fahren würde.

    Aber, so wollte es das Gesetz.

    Nachdem der Diener Gottes – ein ungewöhnlich wohlbeleibter und hochgewachsener Benediktinermönch aus der Abtei in Seligenstadt – mit einer schwarzen tief über das Gesicht gezogenen Kapuze, nach längerer Dauer endlich den Kerker verlassen hatte, verriegelte Vitus wieder die Tür, ganz nach Weisung und Gewissen.

    Dennoch war die Zaubersche am Morgen verschwunden und Vitus wollte sich erst gar nicht ausmalen, was mit ihm passieren würde, falls die Stadtwehr seiner habhaft würde. Das Verlies wäre ihm so sicher wie das Abendgeläut, wenn nicht gar Schlimmeres. Und die Vorstellung, bis zu seiner Hinrichtung im gleichen Turm ausharren zu müssen, in dem diese Hexe eingesessen hatte, versetzte ihn reinweg in Panik.

    Im allerletzten Augenblick gelang ihm die Flucht. Er hörte schon das Galoppieren und Schnauben der kurfürstlichen Rösser, die sich auf der Suche nach ihm befanden, derweil er im üppigen Dickicht des Waldes verschwand.

    Vitus watete ins Wasser. Erwärmt von der wochenlang brütenden Hitze, schmiegte sich es sanft um seine Knöchel. Schritt für Schritt lockte ihn das feuchte Element fort aus seiner bisherigen Heimat, die im Grunde keine wirkliche Heimstätte war, denn eine richtige Familie hatte er nie gekannt.

    Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben und sein Vater hatte im Bauernkrieg sein Leben gelassen. So erzählte es ihm die Muhme, bis zu jener Nacht, in der sie dahinschied. Da änderte sie urplötzlich ihre Geschichte und behauptete, der Name seiner Mutter wäre Katrin, anstatt Luise und SIE hätten sie vertrieben. Wen die Muhme damit meinte, sagte sie nicht. Dafür bedachte sie Vitus’ Vater mit den grausamsten Verwünschungen. Vitus konnte sich keinen Reim darauf machen und führte ihre Ausführungen auf fieberige Wahnvorstellungen zurück.

    Bis zu den Hüften stand er jetzt im Wasser und es schien an dieser Seite des Mains, steiler abwärts zu gehen, als es vom Ufer aus, den Anschein gehabt hatte.

    Ob ich schon die Mitte des Flusses erreicht habe?

    Vitus unterdrückte den Wunsch zurückzuschauen. Weiter, nur immer weiter, spornte er sich an. Und dann passierte es. Sein rechter Fuß tappte ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte. Blitzschnell verschlang ihn das feuchte Element. Verzweifelt strampelte er mit Händen und Füssen. Die Bärenfellkappe, die er sich zuvor wieder angelegt hatte, umschloss bleiern seinen Kopf, saugte sich mit dem Flusswasser voll und hinderte ihn daran, seine Augen zu öffnen. Hart stieß er gegen ein Hindernis. Der anschließende stechende Schmerz befreite ihn vor weiteren resignierenden Gedanken.

    Konrad

    Seit endlos langen Minuten starrte Elisabeth mit offenen Augen in die Dunkelheit. Sie konnte den anbrechenden Morgen kaum erwarten. Beim ersten Lichtschein, der zaghaft durch die Butzenscheiben drängte, hielt sie es nicht länger aus. Sie schlüpfte aus dem Bett, das sie mit ihren Schwestern, der elfjährigen Anna und der neunjährigen Marie teilte. Beide schliefen tief und fest.

    Hastig warf sie sich den braunen Leinenkittel über ihr Hemd und eilte aus der Stube. Einen Moment zögerte sie vor der Kammer der Eltern. Einzig das regelmäßige Schnarchen des Vaters drang an ihr Ohr. Ihre Mutter logierte mit dem drei Tage alten Zuwachs der Familie noch immer in der oberen Mansardenkammer. Ähnliche Schlafgeräusche kamen aus der Stube ihrer Brüder, dem vierzehnjährigen Christoph und Elisabeths Zwillingsbruder Martin.

    Sie huschte über den Flur, den nur eine kleine Luke zum Hof hin erhellte und im Winter mit einer Schweinehaut abgedeckt wurde. Die verräterisch knarrenden Stellen auf der steilen Treppe vermeidend, stieg sie hinab und verharrte auf der untersten Stufe. Abgestandener Bier- und Essensgeruch waberte aus der offenstehenden Tür des Schankraums und in der gegenüberliegenden Küche entfachte Käthe gerade die Glut in der Feuerstelle neu. Sie bückte sich nach einem Holzscheit, streckte dabei Elisabeth ihr ausladendes Hinterteil entgegen und ließ das Holz in die obere Öffnung des Ofens fallen, sodass feine rot glühende Funken in die Höhe tanzten. Dann verschloss sie die Luke mit einer schweren Eisenplatte.

    Seit Elisabeth sich erinnerte, lebte Käthe im Haushalt, und der Vater äußerte einst scherzhaft, sie gehöre zu Mutters Heiratsgut.

    Käthe war jeden Morgen die Erste, die im Haus rumorte und die Letzte, die zu Bett ging. Sie sprach wenig, über sich schon gar nicht, und erledigte ohne Klagen ihre Tagespflichten.

    Leichtfüßig schlich Elisabeth durch den Flur und die drei ausgetretenen Sandsteinstufen hinab in den Innenhof, vorbei am Stall, in dem die Schweine und Kühe untergebracht waren oder manchmal merkwürdige Gestalten ... nach Käthes Meinung.

    Burgel und der Braune, die beiden Kaltblüter wieherten leise, als würden Sie Elisabeth begrüßen, indessen aus dem Hühnerstall noch kein einziger Laut drang. Hinter der Mauer, die die elterliche Hofreite begrenzte gluckerte der Klosterbach, der das große hölzerne Rad der „Roten Mühle" in Bewegung hielt.

    Elisabeth öffnete die Holzpforte und setzte ihre nackten Füße ins morgenfeuchte Gras. Die ersten zaghaften Strahlen der Sonne bezwangen eben die Kämme der Spessarthöhen und badeten den Sandstein des Mühlengebäudes in glutrotem Licht. Einen Moment ergötze sie sich an diesem Anblick bevor sie am Badehaus vorbei, durch den Häuserwinkel zur Maingasse eilte.

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