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Blümchenkaffee
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eBook333 Seiten3 Stunden

Blümchenkaffee

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Über dieses E-Book

In dem Roman "Blümchenkaffee" (einer Fortsetzung von "Suomion kaunis") sieht Lenja sich mit neuen und existenziellen Problemen konfrontiert. Bedingt durch Entwicklungen, die selbst bis in das entlegene Ödenpofen hineinreichen und deren Folgen vielschichtiger sind, als man zunächst meinen könnte. Doch in dieser schwierigen Zeit beginnen Zuversicht spendende Lichter aus ungeahnten Winkeln des Lebens zu leuchten. Hin und wieder dauert es allerdings eine Weile, bis man sie sehen kann.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. März 2021
ISBN9783753170374
Blümchenkaffee

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    Buchvorschau

    Blümchenkaffee - Nadja Hummes

    Titelbild

    Nadja Hummes

    © 2021 Nadja Hummes – Alle Rechte vorbehalten. 

    Titelbild und Umschlaggestaltung: 

    • © 2021 Nadja Hummes. 

    Textsatz: Nadja Hummes, Ralf Gawlista.  

    Schriftsatz und Datenkonvertierung: 

    • Ralf Gawlista (gawl@gawl.de).  

    2. Auflage, April 2021.  

    Druck und Verlag: 

    • epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de  

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie.

    Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

    Inhalt

    Titelseite

    Copyright

    1 — April

    2 — Mai 

    3 — Juni

    4 — Juli

    5 — August

    6 — September

    7 — Oktober

    8 — November

    9 — Dezember

    April

    Weit draußen in den Feldern, als ich nicht mehr von Menschen umgeben bin, kann ich endlich den Nasen-Mundschutz herunter nehmen. Welch eine Erlösung. Frei atmen zu können, ehemals eine Selbstverständlichkeit, kommt mir jetzt fast wie ein Wunder vor. Etwas, das durch nichts zu ersetzen ist. Ich kann gar nicht genug davon kriegen und dehne meinen Spaziergang durch die Natur auf wohltuende drei Stunden aus.

    Kein Mensch begegnet mir. Lediglich vier Rehe kreuzen meinen Weg. Sie bleiben für einen Augenblick stehen und schauen mich aus einiger Entfernung verwundert an, ehe sie querfeldein springen.

    Fasane stieben auf. Drei Hähne. Neun Hennen.

    Holla.

    Feldhasen mümmeln gemeinsam mit Kaninchen friedlich von derselben Wiese. Wilde Brombeeren hängen reif in ihren Sträuchern. Unweit davon entfernt bedecken wilde Erdbeeren den Boden. Beide Obstsorten sind von einem undurchdringlichen Gewirr aus Brennnesseln, Dornengestrüpp und Strauchwerk umgeben, doch für manch ein Tier sind die Früchte gut zu erreichen.

    Ein Specht sitzt unüberhörbar irgendwo in den Bäumen.

    Etliche Frösche quaken balzend um die Wette.

    Mücken tanzen. Es ist schwül. Drückend. Die Sonne scheint. Seit Tagen hat es nicht geregnet. April. Viel zu warm für diesen Monat.

    Ein Lied kommt mir in den Sinn. Irre ich mich oder stammt es von einem Herrn Hensel? Hensel, das klingt lustig. Spricht man den Namen aus, hört er sich fast wie der Hänsel aus dem Märchen an. Aber auch nur fast. Zumindest, wenn man genau hinhört. Zwei Namen, zwei Klänge. Ersterer wird mit einem e geschrieben, der zweite mit einem ä. Ein einziger Buchstabe kann einen enormen Unterschied in Phonetik und Bedeutung ausmachen. Man sagt ja auch nicht frohgämut anstatt frohgemut. Oder Wähmut anstatt Wehmut. Obwohl, – ein Weinen ertönt in meinen Gedanken: Wäh… Wäh… Wäh! Wehmut ist eine Facette des Schmerzes. Dementsprechend könnte beides passen? Nein. Könnte es definitiv nicht. Wehmut ist ein leiser Schmerz. Manchmal stechend. Sehnsuchtsvoll. Vielleicht auch vermissend. Wähmut, sofern es dieses Wort denn gäbe, beschriebe einen lauten, greinenden und quengelnden Schmerz.

    Ich bringe besser niemanden auf solche Gedanken. Die Rechtschreibung der Deutschen Sprache ist dank etlicher Reformen eh schon bekloppt genug. Da muss nicht noch mehr Elend hinein.

    Nahe dem Feldweg liegen drei umgestürzte Bäume. Von Moos bewachsen und Wildranken umgeben.

    „Hen-sel. Hen-sel", spreche ich im Takt, während ich von Baumstamm zu Baumstamm balanciere.

    „Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt, er setzt seine Felder und Wiesen instand. Er pflüget den Boden, er egget und sät und rührt seine Hände frühmorgens bis spät", singe ich zaghaft vor mich hin, – noch immer balancierend.

    Mit einem Male halte ich inne. Die weiteren Strophen wollen mir partout nicht einfallen. Früge man einen der ortsansässigen Bauern, unter welchen klimatischen und ökologischen Bedingungen er heutzutage seine Felder bestellen muss, und ob denn der Monat März noch immer der Monat der Aussaat ist, – er würde einem schon das Passende darauf antworten. In Deutschland bleibt die schwere Landarbeit heutzutage vielen Rösslein, beziehungsweise Pferden, erspart. Sie müssen auch nicht mehr in den Bergbau. In die Stollen. In einigen anderen Ländern dieser Erde und in manchen Glaubensgemeinschaften hingegen unterstützen noch heute viele Tiere die Menschen bei deren Arbeit. Jetzt kommen mir die beiden fehlenden Strophen des Liedes doch wieder in den Sinn.

    „Die Bäurin, die Mägde, sie dürfen nicht ruhn, sie haben im Haus und im Garten zu tun, sie graben und rechen und singen ein Lied und freun sich, wenn alles schön grünet und blüht. So geht unter Arbeit das Frühjahr vorbei, dann erntet der Bauer das duftende Heu, er mäht das Getreide, dann drischt er es aus, im Winter, da gibt es manch fröhlichen Schmaus", trällere ich nun lautstark in die Landschaft.

    Eine Kohlmeise sitzt auf einem Maulwurfhügel. Irritiert blickt sie herüber. Ich springe vom Baustamm herunter. Sie erschrickt nicht, fliegt nicht weg. Sie beobachtet einfach, was ich da mache. Verweilen, – genau das könnte ich jetzt mal machen. Ja, das ist eine gute Idee. Ich nehme auf einem der Baustämme Platz.

    „Na, wann beginnst denn du, Ausschau nach einem Partner zu halten? Wann blühen die Brombeeren? Und die Erdbeeren? Warum sind sie schon jetzt vollkommen reif? Und was ist mit den Fröschen? Sind diejenigen, die gerade balzen, noch der erste Schwung oder schon der zweite oder dritte? Na? Verrate es mir", rufe ich ihr zu.

    Die Kohlmeise schweigt sich aus. Ihr Blick fixiert meine Hosentaschen.

    „Da ist nichts drin, was ich dir anbieten könnte."

    Die Kohlmeise guckt mich prüfend an, – ohne jedoch den Maulwurfshügel zu verlassen. Eine Blaumeise landet neben ihr im Gras. Ich freue mich um so mehr, da Blaumeisen dieser Tage selten geworden sind. In einiger Entfernung landen Dohlen und Krähen.

    „Ich muss euch enttäuschen. Ich habe wirklich nichts dabei. Wahrscheinlich wäre es gut gewesen, daran zu denken. Ich verspüre selber einen kleinen Hunger. Und großen Durst. Aber durch diesen doofen Mundschutz auf meinem Gesicht fällt mir vieles schwerer, wisst ihr. Da geht es dann einfach nur noch um’s Atmen. Sogar meine Wasserflasche habe ich vergessen. Und die habe ich sonst immer dabei."

    Blaumeise und Kohlmeise geben sich von meiner Ansprache unbeeindruckt. Dohlen und Krähen picken emsig in der Wiese herum.

    Der Baumstamm sieht wirklich einladend aus.

    Rücklings strecke ich mich aus und schließe für ein kleines Nickerchen meine Augen. Der Fußweg hierher war anstrengend. Über die gesamte Strecke musste ich die Atemmaske tragen. Der darauf folgende lange Spaziergang, das schwüle drückende Wetter… Die Summe aus alledem hat mich unglaublich ermüdet.

    Nur ein paar Minuten.

    Ein behutsames Ziepen und Klopfen nahe meiner Haarwurzeln lässt mich erwachen. Jetzt bloß keine ruckartigen Bewegungen. Nicht bevor ich weiß, wer da mit was beschäftigt ist. Vorsichtig überstrecke ich ganz langsam meinen Kopf. Hinter mir sitzt eine Krähe. Exakt dort, wo mein Kopf auf dem Baumstamm aufliegt. Sichtlich zufrieden verspeist sie eine Ameise. Die Krähe kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe keine Ahnung, weswegen. Sie merkt, dass ich sie anschaue, – lässt sich jedoch nicht davon stören. Eine weitere Ameise läuft den Baumstamm entlang, direkt auf meine Haarspitzen zu. Knapp bevor sie dort angelangt ist, schnappt die Krähe zu. Gulp, schon herunter geschluckt.

    Langsam, ganz langsam, wie in Zeitlupe, richte ich mich auf. Bis ich letztlich sitze. Abwartend guckt die Krähe mich von der Seite an. Ich schaue mich um. Offensichtlich sind alle anderen vorhin anwesenden Vögel längst abgeschwirrt. Einzig diese Krähe bleibt beharrlich zugegen.

    „Wie lange bist du schon hier, hm?"

    Sie blickt mich wieder von der Seite an.

    „Kennen wir uns?"

    Die Krähe blinzelt, dreht ihren Kopf in die andere Richtung, verharrt wenige Sekunden regungslos, lässt sich eine weitere Ameise schmecken und schüttelt daraufhin behaglich ihr Gefieder. Das ist der Moment, in dem ich feststelle, dass mein Bauchgefühl stimmt: Jene Krähe und ich, wir kennen einander.

    Auf der Pferdeweide, meiner ehemaligen Arbeitsstelle, landete oft ein ganzer Schwarm Krähen. Gemeinsam mit einigen Dohlen saßen sie in den umliegenden Baumwipfeln. Immer dann, wenn Lucky, Amira, Dana, Frieda und Mimmi sich eine frische Ladung Futter einverleibt hatten, kamen sie angeflogen. Jeder noch so winzige Futterrest wurde von ihnen wertgeschätzt. Ebenso wie die Insekten, welche vom Geruch der Futterreste angezogen wurden. Diese Krähe hier, die gerade mit mir auf dem Baumstamm sitzt, war eine aus eben diesem Vogelschwarm. Jetzt, da sie ihre Federn ausgeschüttelt hat, erkenne ich sie wieder. Ihre Flügel tragen zwei weiße ovale Maserungen. Auf jeder Flügelspitze eine. Sie werden nur dann sichtbar, wenn die Krähe ihre Flügel spreizt. Ansonsten erweckt ihr Gefieder den Anschein, als bestünde es ausschließlich aus schwarzen Federn.

    An diese eine Krähe erinnere ich mich deshalb so genau, weil sie mich durch ihr Verhalten regelrecht verblüffte. Anders als ihre Artgenossen, verspeiste sie ihre erbeuteten Futterreste nämlich nicht sofort, sondern legte sich ein Depot an. Zu meinem Erstaunen, ohne dass die anderen es bemerkten. Am Rande der Weide hatte sie eine Stelle ausgemacht, an der das Erdreich locker war. Sie versenkte ihre Nahrung darin, scharrte Erde mit ihren Krallen darüber und legte mit Hilfe ihres Schnabels sogar Laub und Zweige obenauf. Zielgerichtet und sorgfältig. Sie aß immer erst dann, wenn sie sich sicher wähnte. Wenn Ruhe einkehrte.

    Zuvor hatten andere Vögel ihres Schwarmes ihr manchmal das Futter weggenommen. Das hatte ich mehrfach mitgekriegt. Ebenso hatte ich kurz darauf den Aufbau ihres Depots zur Kenntnis genommen. Sie wiederum hatte registriert, dass mir beide Vorgänge aufgefallen waren. Vermutlich ist dies der Grund gewesen, aus dem sie mir anschließend sehr viel genauer als vorher bei meiner Arbeit zusah. Vielleicht fürchtete sie, dass ich ihr Depot verrate. Dass ich es freilege, zuschütte oder gar auseinander trete. Nichts davon kam mir in den Sinn. Wieso auch? Nichts davon war notwendig. Die Futterreste und Insekten reichten nach wie vor für den gesamten Vogelschwarm. Und das Depot dieser Krähe lag so dermaßen abseits, dass niemand dort entlang lief oder es auf sonst irgendeine Art Mensch oder Tier hätte stören können. Selbst Johnny, Günters Hund, hatte keinerlei Interesse an dem Futterversteck dieser Krähe gezeigt. Er versprach sich mehr davon, seine Nase tief in diverse Kaninchenbauten zu versenken. Damals. In den Zeiten vor dem Lockdown.

    Bevor es in diesem Jahr März wurde.

    „Danke, dass du mir ungebetene Besucher vom Leib gehalten hast. Zum Glück waren es keine Feuerameisen. Keine Ahnung, ob der Klimawandel vielleicht auch die irgendwann herbringt. Könnte möglich werden."

    Die Krähe blinzelt mich an.

    „Ich mag mir gar nicht ausmalen, was dann hier los wäre. Die hiesige Natur ist von Borkenkäfern und Eichenprozessionsspinnern ohnehin schon genug geplagt. Immer diese blöden Monokulturen, echt. Auf Feldern, in Wäldern und Gärten. Jetzt haben wir die Quittung."

    Sie blinzelt noch einmal und hüpft näher.

    „Also falls du denen mal begegnen solltest, diesen Feuerameisen, – egal wo: Mach den Abflug. Im wahrsten Sinne des Wortes. Feuerameisen sind unangenehme Zeitgenossen. … Hmmm. Den Abflug machen. Gutes Stichwort. Ich mache mich jetzt besser auf den Rückweg. Also dann: Vielen Dank. Und alles Gute."

    Ich stehe auf, was die Krähe in Unruhe versetzt und davon flattern lässt.

    Nachdem sie aus meinem Blickfeld verschwunden ist, nehme ich kurzentschlossen eine andere Route als auf dem Hinweg. Nach einer Weile gelange ich zur Landstraße. Dort, wo ich diese hätte überqueren müssen, sitzt ein junger Mann bei geöffneter Fahrertür auf dem Fahrersitz seines Wagens. Unglücklich guckt er in die menschenleere Gegend.

    Mir fällt auf, dass er trotz der leeren Straße das Mindestmaß an Vorkehrungen eingehalten und die Unfallstelle weiträumig abgesichert hat. Das Warndreieck steht ein paar Meter entfernt. Die Warnblinkanlage verrichtet ihren Dienst. Woha. Vorbildlich. Als der Mann mich erblickt, hebt er die Hand und winkt mir zu.

    „He Sie! Hab’n Sie ’n Handy bei? Wär echt klasse, weil, mein Akku is’ leer. Ich hab’ meine Powerbank zuhause lieg’n lassen. Könn’n Sie jemand’n für mich anruf’n? Äh, bitte, mein’ ich", ruft er mir entgegen, indem er nach seinem Nasen-Mundschutz greift, welcher bis dato am Rückspiegel seines Wagens baumelte.

    „Klar! Wen soll ich denn anrufen?" frage ich laut, während ich mir seine Autonummer merke, meine Atemmaske vor mein Gesicht ziehe und mich ihm bis auf zwei Meter Abstand nähere.

    „Polizei wär’ gut. Mir is’n Wildschwein vor’s Auto gelauf’n. Glaub’ ich."

    „Oha."

    „Ja, weil weg’n m’ Lockdown. Die Natur geht los. Für das sie ihre Rechte zurückholt."

    „Och, Wildschweine gab es hier auch vorher schon."

    „Nee, ne? Echt jetzt?"

    „Joah. So ab und zu. Sind Sie fremd in der Gegend?"

    „Ja, ne. War eigentlich nur auf’er Durchfahrt so. Bis’s gekracht hat. Sieht man ja."

    „Das sieht man deutlich, ja. War es sehr schlimm?"

    „Weiß nich’. Mir is’ so nix passiert so. Bloß dass meine Karre Schrott is’. Aber dem Vieh geht’s blendend. Das is’ direkt wieder aufg’stand’n. Hat sich geschüttelt un’ is’ dann völlig unbeeindruckt im Gebüsch verschwund’n. Wie in dies’m Film so. Ach fuck, is’ ja auch irgendwie richtig so. So weiß’e, ne so?! Ich mein’, wir sin’ ja auch echt irgen’wie voll die Faschos, ne. So gegen die Natur so."

    „Gewissermaßen. War es eine Bache oder ein Keiler?"

    „Weiß nich’. Is’n das? N’Bach hab ich hier noch kein’n gesehen. So gar kein`n, ne."

    „Sie stehen schon länger hier?"

    „Ja. Seit… Nee, weiß nicht. Jedenfalls voll lang so."

    „Haben Sie irgendwo Frischlinge gesehen?"

    „Frischlinge? Weiß nich’. Is’n das? Pilze?"

    „Äh, nein. Ferkel."

    „Ey, pass bloß auf, ja?! Paar auf’s Maul?!!"

    „Nein. Bitte nicht aufregen. Das ist ein Missverständnis. Frischlinge sind keine Pilze, sondern junge Schweine. So ähnlich wie die Ferkel vom Hausschwein. Bloß nicht unbedingt rosa. Eher hellbraun. Üblicherweise tragen sie helle Streifen und Punkte. Seitlich und über den Rücken. Meistens sind sie in einer Gruppe unterwegs."

    „Ach so. … Nee. … Nee, hab’ ich nich’ gesehen. Warum?"

    „Weil eine Bache ein Muttertier ist, um auf Ihre Frage zurück zu kommen. Ein Keiler hingegen ist ein Vatertier. Die Bachen haben ungefähr von März bis Mai Frischlinge. Eigentlich. Aber vielleicht hat sich auch das inzwischen geändert. Mit Blick auf den Klimawandel schließe ich kaum noch etwas aus."

    „Nee, keine Frischlinge. Hab’ keine geseh’n. Glaub’… das war’n … Keiler?"

    Grübelnd kratzt er seinen Nacken. Seine Stirn legt sich in Falten.

    „Weiß nich’ so genau. Das Tier hatte ziemliche… So voll die Reißzähne so."

    Wild gestikuliert er um seine Mundwinkel herum.

    „Hier so. Und da so. Hab’ mich krass erschrock’n. War wie in dies’m Film, aber übelst echt. … ‚Zoombies‘. Kenn’n Sie den?"

    „Nein. Aber ganz so schlimm kann es nicht gewesen sein. Der Keiler ist doch direkt weggelaufen."

    „Is’ abgehau’n, ja. War ich auch voll erleichtert drüber. Hätt’ nich’ gewusst, was ich machen soll. … Tja. … Wenn ich Glück hab’, könn’ die Bullen noch paar Haare oder so finden. Wär’ echt gut so. Wegen Versicherung un’ so."

    „Soll ich sonst noch jemanden verständigen? Einen Abschleppdienst? Oder einen Krankenwagen?"

    „Nee. Das klär’ ich nachher mit der Bullerei. Wenn die den Schaden aufnehm’n."

    „O.k."

    Also wähle ich die 110 und gebe dem Wachtmeister am anderen Ende der Leitung sämtliche mir bekannten Daten zur Sache an: Autokennzeichen. Nummer der Landstraße. Abschnitt der Landstraße. Anzahl der geschädigten Personen. Zustand, Alter und Namen ebendieser… Nein, Name und Alter des Verunglückten weiß ich nun wirklich nicht. Und über dessen Zustand kann er doch besser selbst Auskunft geben. Ich biete dem Ordnungshüter eine Option an, auf die er fraglos mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sehr zeitnahe bestimmt auch selber gekommen wäre: Dem Unfallopfer mein Mobiltelefon zu reichen. Insbesondere da besagtes Unfallopfer bei vollem Bewusstsein ist.

    Zurechnungsfähig? huscht eine leise Frage durch meine Gedanken. Ach du liebe Güte. Wer ist das schon? Zack, schon malt mein innerer Comicstift die Karikatur eines Männchens: Es ist gerade mal so groß wie ein Gartenzwerg. Mit seinen Händen umklammert es auf Mundhöhe eine Fanfare, die drei Mal so groß wie es selber ist. Laut lässt es diese erschallen.

    Ebenso deutlich wie die Fanfare sehe ich jedes weitere Detail vor meinem geistigen Auge. Jede Augenfalte in der Mimik dieses Männchens. Jede seiner Schweißperlen. Verursacht durch die Anstrengung, mit der er diese riesige Fanfare auf Höhe seine Mundes gleichsam tapfer wie verbissen festhält und unermüdlich hineinbläst. Jeden einzelnen Speichelrest, der bei jeder aus der Fanfare hervorkommenden Note aus der Öffnung des Instrumentes tropft. Darunter steht, wohl platziert, ein Napf für jenen Speichel bereit. Er füllt sich rasch und stetig. Manchmal würde ich wirklich gerne so schnell malen können, wie mein innerer Comicstift es mir aufzeigt.

    Ohne jedwede Unterbrechung trötet die übergroße Fanfare des kleinen Männchens musikalische Sprechblasen heraus: Tätärätäää! Zurechnungsfähig??? Wer will denn das allen Ernstes von sich behaupten?! Tärä-Tärä-Tätärätää! Influencer, die ihr Superselfie über einem Abgrund schießen?! Raucher, die schon einmal davon gehört haben, dass eine Lunge sich eher über Sauerstoff denn über Teer freut?! Konzerne, die nach wie vor Plastik en masse produzieren, ohne sich um die Müllberge in den Weltmeeren zu scheren?! Tätäräää! Täräää! Helikoptereltern, die ihrem Sprössling weder Selbsteinschätzung noch Privatsphäre zugestehen, weil sie alles, was sich deren Kontrolle entzieht, als Gefahr betrachten?! Alle, die auf Grund von Hunger oder Appetit einen Fast-Food-Anbieter konsultieren, anstatt sich ausschließlich ökologisch-bio-dynamisch zu ernähren?! Jeder Verbraucher, der anstatt teure Fair-Trade-Kleidung kostengünstige Kleidung aus Billiglohnländern kauft?! Täräää-Täräää! Menschen, die trotz etlichen Widersinns allen Ernstes die Überzeugung hegen, ihre Spezies sei die intelligenteste Lebensform, die es auf der Erde und im Weltall je gab, alsgleich geben wird?! Tärääää! Du?! Ich? Tätäärääää! Ein jeder Mensch auf Gottes Erden?! Tätärätäää-Tätäräätää! …

    Gerade als mein innerer Comicstift sich aufmacht, den Speichelnapf schwungvoll entleeren zu wollen, unterbricht ihn der Herr am anderen Ende der Leitung, indem er mich erneut anspricht. Der Ordnungshüter befürwortet die von mir angebotene Handlung, mein Handy an das Unfallopfer weiterzureichen.

    Die Noten fallen zu Boden. Die Sprechblasen zerpuffen. Wie ein tanzender Derwisch dreht das Karikaturmännchen sich um die eigene Achse. Sekunden später ist es ebenfalls zerpufft. Die dadurch entstandene Staubwolke löst sich zusehends in ihre Bestandteile auf. Die Fanfare hängt noch eine Millisekunde in der Luft, dann kracht sie zu Boden, zerschlägt dabei den Napf und birst auseinander. Staub rieselt. Eine freundlich lächelnde Windwolke kommt und pustet den Staub liebevoll ins Nirvana.

    Weil der Hüter der Ordnung seinen Job gewissenhaft verrichtet, weist er mich noch darauf hin, auch während der Übergabe des Mobiltelefones einen Abstand von mindestens anderthalb, idealerweise bitte zwei Metern einzuhalten und an das Tragen eines Nasen-Mundschutzes zu denken.

    „Könnten Sie bitte aussteigen und ein Stück auf die Seite gehen?" rufe ich dem jungen Mann daraufhin zu.

    Er nickt und begibt sich zum Warndreieck. Ich trete an sein Auto heran, desinfiziere mein Handy unter Zuhilfenahme eines bis zu diesem Zeitpunkt in meiner Hosentasche befindlichen Pumpzerstäubers nebst Baumwolltaschentuch, lege ihm mein Mobiltelefon auf das Fahrzeugdach und entferne mich wieder.

    „Sie sin’ aber gut ausgerüstet. Is’n da drin’?"

    „In Wasser verdünnter Alkohol."

    „Mega. Welchen hab’n Sie ’n da? Korn?"

    „Da muss ich Sie enttäuschen. Verdünntes Isopropyl. Hilft zum Beispiel gegen Insektenbisse. Farben kann man auch damit anlösen. Falls mal etwas daneben ging."

    „Iso kenn’ ich nich’. Aber Alkohol klingt gut."

    „Diesen sollte man lieber nicht trinken."

    „Nee warte, ne! Iso kenn’ ich wohl! Das is’ so’n Sportdrink so! Nich so’n Proteinshake mein’ ich. Eher so mit Magnesi’m un’ so. Un’ das gibt’s jetzt auch mit Alkohol?"

    „Öhem…"

    „Is’ ja mega! Wo is’n das zu kauf’n? Im Lidl? Penny? Oder Internet? Bestimmt Internet, ne? Gib’ ma’ die Seite."

    „Ich glaube, Sie sollten den Herrn von der Polizei nicht so lange warten lassen. Der hängt bestimmt nicht gerne in der Warteschleife."

    „Ach fuck, stimmt ja. … Hallo? … Ja, bin ich. … Ja, auch der Fahrzeughalter. …"

    Während der junge Mann mit dem Polizisten spricht, umkreise ich aus einiger Entfernung seinen ramponierten PKW. Ausgiebig betrachte ich Motorhaube und Frontscheinwerfer.

    Oh ja, da dürften genügend Wildschweinborsten zu finden sein.

    Der junge Mann beendet das Gespräch, reibt mein Handy an seinem Hosenbein ab und legt es zurück auf das Autodach.

    „Danke so, ne, ruft er mir erleichtert zu, als er wieder auf Abstand geht. „Die schick’n welche ’raus. Kann paar Minuten dauern. Sie müss’n aber nich’ hierbleib’n. Weil Sie… ähm... Weil…

    Der junge Mann ringt nach Worten. Offenbar bemüht, sich an den genauen Wortlaut seines telefonischen Ansprechpartners zu erinnern.

    „Weil…?" versuche ich ihm auf die Sprünge zu helfen.

    „Genau: Weil Sie keine Zeugin sind, formuliert er aus und ein zufriedener Stolz überzieht sein Gesicht. „Sie könn’n ja keine Aussage mach’n so. Oder Angaben. Zum Verlauf un’ so. Also Sie dürf’n weiter, ne. Hat der mir so gesagt.

    „Ah. Prima. Wenn Sie zurechtkommen, würde ich mich tatsächlich gerne auf den Weg machen. Ich bin nämlich ein wenig müde."

    Ich sammele das Handy mit meinem Baumwolltaschentuch ein, desinfiziere es erneut und lasse es in meiner Tasche verschwinden.

    „Leider kann ich Sie nich’ nach Hause fahr’n, scherzt er, inklusive süffisantem Grinsen. „Also… Ja. … Dann schön’n Tag noch. … So, ne.

    „Dafür nicht", entgegne ich freundlich und mache stante pede kehrt.

    Jetzt

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