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Broken World 2: Wer willst du sein?
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Broken World 2: Wer willst du sein?
eBook316 Seiten6 Stunden

Broken World 2: Wer willst du sein?

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Über dieses E-Book

Die Geschichte von Yma und Len geht weiter!
Nach ihrer Flucht ist Yma untergetaucht und lebt unter falscher Identität. Doch das Regime duldet keine Systemgegner. Sie werden sie jagen. Und was Yma droht, wenn ihre Häscher sie entdecken, ist schlimmer als der Tod.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Jan. 2022
ISBN9783754182543
Broken World 2: Wer willst du sein?
Autor

Jana Voosen

Jana Voosen, Jahrgang 1976, absolvierte eine Schauspielausbildung in Hamburg und schrieb währenddessen ihren ersten Roman. Seitdem war sie in zahlreichen TV-Produktionen ("Marienhof", "Tatort", "Homeland" u.a.) zu sehen und veröffentlichte insgesamt vierzehn Romane sowie diverse Kurzgeschichten. Für das Theater schrieb sie mehrere Bühnenstücke. Jana Voosen lebt und arbeitet in Hamburg.

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    Buchvorschau

    Broken World 2 - Jana Voosen

    FSK ab 16

    Einige Szenen in diesem Buch könnten auf manche Leser*innen verstörend wirken.

    TW: Gewalt, Blut, Ausbeutung, Prostitution, Ekel (Musophobie)

    Was bisher geschah:

    In Vahvin, dem Zusammenschluss der ehemaligen europäischen Staaten, herrscht das Gesetz des Stärkeren.

    Ohne soziales Netz und medizinische Versorgung spaltet sich die Gesellschaft in zwei Klassen. Herrscher und Dienende, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke.

    Yma, ein Mädchen aus der Unterschicht, hat sich hochgekämpft und könnte bald, zusammen mit ihrem Freund Adriel, zur Elite gehören. Sie ist Klassenbeste, sie ist gesund, sie gehorcht dem System.

    Doch Yma ist anders als die meisten Menschen. Sie kann Mitleid empfinden, und das ist in Vahvin verboten. Helfen ist Hochverrat.

    Auf ihrem Weg an die Spitze begegnet Yma dem geheimnisvollen Len. Sie folgt ihm und ihrem Herzen in den Untergrund, wo sie gemeinsam gegen das System kämpfen und Menschen in Not helfen. Doch wer den Pfad der Elite verlässt, begibt sich in Lebensgefahr. Yma und Len werden gefangen genommen und vor die Wahl gestellt: Tod in einem Vernichtungslager, oder Probanden für eine neu entwickelte Droge werden, die den Menschen ihr Mitgefühl nimmt.

    Yma gelingt die Flucht, weil Len sich für sie opfert. Er lenkt die Wachen auf dem Schiff ab, das sie beide ins Lager bringen soll. Mitten im offenen Meer schwimmend muss Yma hilflos zusehen, wie ihr Geliebter entschwindet, seinem sicheren Tod entgegen …

    Prolog

    Meine Lungen brennen und mein rasendes Herz schmerzt in der Brust. Noch immer höre ich seine Rufe.

    „Yma! Yma! Wo ist sie? Bitte helfen Sie ihr. Sie kann nicht schwimmen! Yma!"

    Doch seine Stimme ist nur in meinem Kopf. Len ist weit weg. Und mit jedem Zug, den ich schwimme, streben wir noch weiter auseinander. Es ist eine schier übermäßige Kraftanstrengung weiterzumachen, und das liegt nicht an dem kalten Wasser. Nicht an meiner nassen Kleidung, die mich schwer hinabzieht. Noch nicht einmal an meinen Muskeln, die zwar gut trainiert, aber durch die Tage meiner Gefangenschaft – wie viele Tage waren es? – steif und unbeweglich geworden sind. Es liegt an Len. An der magnetischen Anziehungskraft, die er auf mich ausübt. Schon länger, als es mir überhaupt bewusst war. Viel zu abgelenkt war ich von all dem Elend, das uns umgab. Das wir zu lindern versuchten. Kein Platz für romantische Gefühle. Und doch …

    Ich liebe dich, Len.

    Immer wieder hat es mich zu ihm hingezogen, ich habe alles riskiert, um ihm nahe zu sein. Um seinen Kampf, nein, um unseren Kampf zu kämpfen. Gegen das System, das so grausam die Schwachen und Kranken im Stich lässt. Das uns Mitgefühl und Hilfeleistungen bei Strafe verbietet. Es war die beste Zeit meines Lebens.

    Schwimm, Yma, schwimm. Nicht nachlassen.

    Wir haben geholfen. Wir haben Leben gerettet. Sie haben uns erwischt. Höre ich noch immer die Motoren des Bootes, das Len ins Gefangenenlager bringt, oder bilde ich mir das nur ein?

    Helfen Sie ihr! Sie kann nicht schwimmen!

    Er ist so klug. Wahrscheinlich hätten sie die Suche nach mir nicht so schnell aufgegeben, wenn Len nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre. Sie würden noch immer ihre Kreise ziehen und ziellos ins Wasser schießen. Stattdessen haben sie sich darauf verlassen, dass ich untergegangen und ertrunken bin.

    Die Muskeln meiner Arme erlahmen, viel schneller als ich es von meinem morgendlichen Schwimmtraining gewohnt bin. Kein Wunder. Die letzten Tage waren nicht gerade das, was man eine gute Vorbereitung auf mehrere Kilometer Freiwasserschwimmen nennen kann. Zu wenig Wasser, kaum etwas zu essen. Und die Folter.

    Als ich daran denke, fängt meine nackte Kopfhaut an zu brennen. Das Salzwasser sticht in den Wunden. Das Gesicht meines Peinigers erscheint vor meinem inneren Auge. Sein Lächeln, als er Strähne für Strähne meiner roten Haare um seine Finger wickelt, bevor er sie mir ausreißt. Sie vor meinem Gesicht baumeln lässt, damit ich sehen kann, dass Fetzen meiner Kopfhaut daran hängen. Mein Hals wird plötzlich eng. Verzweifelt ringe ich nach Luft, spüre eine Panikattacke heranrollen.

    Ich drehe mich auf den Rücken und breite die Arme aus. Konzentriere mich auf meine Atmung und versuche, das Bild meiner Skalpierung zu vertreiben. Es ist vorbei. Ich lebe und bin, so merkwürdig es sich anhört, frei. Freier als Len, der auf dem Weg in ein Gefängnis ist, in dem man die Insassen auf grausame Art und Weise langsam verhungern lässt. Als Strafe für ihre Sünde. Diese Sünde heißt Mitgefühl.

    Der Gedanke an den todgeweihten Len trägt nicht dazu bei, meine Panik zu mildern. Ich sehe hinauf in den strahlendblauen Himmel. Die Sonne scheint auf mich herab, ich kann ihre Wärme spüren, obwohl es hier im Wasser eisig kalt ist. So entsetzlich kalt. Ich schließe die Augen, konzentriere mich ganz auf das helle Rot hinter meinen Lidern und auf die Kraft der Sonnenstrahlen. Wie ein Stück Treibholz schwebe ich im Wasser, sanft geschaukelt von den Wellen. Mein Atem wird ruhiger. Ich hebe den Kopf. Das Boot ist schon lange nicht mehr zu sehen. Bis zum Festland ist es nicht mehr weit. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich tun werde, wenn ich dort angelangt bin.

    1

    Zwei Monate später:

    Der kühle Satinstoff der Bettdecke fühlt sich gut an auf meiner Haut. Ich räkele mich behaglich und schlinge den Arm um den Mann neben mir. Lege meine Wange an seinen nackten Rücken. Die morgendlichen Sonnenstrahlen scheinen durch das Oberlicht direkt auf uns herab, anscheinend habe ich gestern Abend mal wieder vergessen, die Rollläden zu schließen. Ich kann nur hoffen, dass Adriel davon nicht wieder maximal genervt ist. Er ist ja so ein Morgenmuffel. Ich richte mich halb auf und schaue durch die gläserne Tür auf unsere Dachterrasse. Erfreue mich an den leuchtenden Regenbogenfarben der Blumen, die in Kübeln auf den hölzernen Dielen stehen. Ein wirklich paradiesisches Stückchen Erde, das da direkt vor unserem Schlafzimmer auf uns wartet. Mitten in dem Blumenmeer ein kleiner Tisch und zwei Stühle, eine Einladung zu einem gemütlichen Frühstück zu zweit bei Sonnenaufgang.

    Ich höre ein lautes Gähnen und beschließe, dass es vielleicht tatsächlich noch ein bisschen zu früh ist, um aufzustehen. Stattdessen lasse ich mich zurück in die Laken fallen, kuschele mich an den warmen Körper neben mir und streichele sanft über seinen nackten Rücken.

    Er stöhnt. Nicht wohlig, sondern schmerzerfüllt. Erschrocken ziehe ich die Hand zurück. Starre auf die langen, roten Striemen.

    „Oh mein Gott, es … es tut mir leid", stammele ich, als die Haut plötzlich an mehreren Stellen aufzuplatzen beginnt. Hellrotes Blut fließt über seinen Rücken, sickert in die hellblaue Bettwäsche.

    „Oh mein Gott, wiederhole ich, rolle mich blitzschnell auf die Seite und angele nach meiner Arzttasche, die griffbereit neben dem Bett steht. „Ganz ruhig, halb so schlimm, das haben wir gleich, murmele ich, während ich mit fliegenden Fingern nach Gaze und Verbandszeug suche. Aber in der Tasche befindet sich nur Werkzeug: Schraubenzieher, Klemmleuchten, Steckschlüssel, Lötkolben und Spitzzange. „Was zum Teufel …", frage ich, während ich mich noch immer durch die Tasche wühle.

    Der Mann dreht sich zu mir um und ich starre ihn an. Fassungslos.

    „Was machst du denn hier?"

    „Ich versuche zu schlafen, gibt er zurück. „Wann wirst du endlich begreifen, dass du mich nicht vor acht Uhr ansprechen sollst?

    „Du redest schon genauso wie Adriel", schmolle ich, obwohl mein Herz plötzlich vor Freude schneller zu schlagen beginnt.

    Er ist hier. Len ist hier.

    „Das hier ist ja auch sein Bett", gibt er zu bedenken.

    „Du hast recht. Das ist seltsam."

    Wir sehen beide auf das riesige Schlafmöbel, in dem wir liegen, und in dem sich mittlerweile ein kleiner See aus Lens Blut gebildet hat. Dunkelrot und klebrig. Er streckt die Hand aus und taucht sie in die rote Flüssigkeit. Tiefer und immer tiefer. Sein Handgelenk verschwindet, dann sein Ellenbogen. Wenn er nicht aufhört, wird er gleich kopfüber hineinstürzen. Als er seine Schulter eintaucht, hebt er den Kopf und sieht mich von unten herauf an. In seinen schönen, dunkelgrünen Augen wechseln sich Angst und Wut in rascher Folge ab.

    „Was ist denn los?, fragt er. „Willst du mich nicht retten?

    „Hey, was ist? Kommst du endlich?"

    Erschrocken fahre ich hoch. Vor dem dreistöckigen Etagenbett, in dem ich in der Mitte schlafe, steht Maya, eine meiner Mitbewohnerinnen. Sie trägt bereits ihren blauen Arbeitsoverall und sieht reichlich genervt aus. In der Hand hält sie die grobe Decke aus grauer Wolle, die sie mir weggezogen hat. Ihre übliche Art, mich zu wecken.

    „Ich frage mich, was du ohne mich machen würdest, brummt sie und lässt die Decke einfach auf den Boden fallen. „Ich bin doch nicht dein Kindermädchen.

    Es ist nett, dass sie mich weckt, egal auf welche Weise, und egal, wie schlecht gelaunt sie dabei ist. Es ist eine Art der Fürsorge, wie man sie selten antrifft. Hier, wo ich gelandet bin. Und eigentlich auch sonst überall.

    „Danke", sage ich. Automatisch fährt meine Hand als erstes hoch zu meinem Kopf. Zu der schwarzen Wollmütze, die ich trage. Tag und Nacht. Ich vergewissere mich, dass sie gut sitzt. Und alles verbirgt, was darunter ist und mich als jemanden enttarnen könnte, der in Schwierigkeiten steckt, um es mal milde auszudrücken. An einigen Stellen befinden sich kleine Krater zwischen den noch immer kurzen Stoppeln. Ich frage mich, ob dort jemals wieder Haare wachsen werden.

    „Was ist, stehst du jetzt auf? Kann mir aber eigentlich auch egal sein."

    „Ja, ich stehe auf. Danke, dass du mich geweckt hast", wiederhole ich noch einmal und klettere etwas mühsam aus dem Bett. Mein Traum klebt noch immer an mir wie flüssiger Teer und beherrscht meine Gefühlswelt.

    Was ist denn los? Willst du mich nicht retten?

    „So tief und fest schlafen wie du würde ich auch gerne mal", sagt Maya. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und beobachtet mich dabei, wie ich mich umziehe. Oder vielmehr, wie ich mich anziehe. Den Arbeitsanzug ziehe ich einfach über die Sachen, in denen ich schlafe. Im Gegensatz zu Mayas ist mein Overall grün. Und passt hervorragend zu meinen Katzenaugen, wie mir einer der Vorarbeiter einmal gesagt hat. Dann hat er mir an den Hintern gefasst. So ist das hier.

    Ich verzichte darauf, Maya zu sagen, dass sie sich meinen Schlaf - und vor allem meine Träume - ganz sicher nicht wünscht, als es in ihren hellblauen Augen in dem dunklen Gesicht zu glitzern beginnt. „Diesen Len, von dem du immer träumst, würde ich zu gerne mal kennenlernen", sagt sie.

    Ich kann nicht verhindern, dass ich bei der Nennung seines Namens zusammenzucke.

    „So wie du immer stöhnst und schreist, scheint der´s dir ja echt gut zu besorgen."

    Ich beiße mir auf die Unterlippe. Soll sie glauben, was sie will. Solange sie nur nicht die Wahrheit kennt.

    „Irgendwie kann ich sogar verstehen, dass du morgens nicht aufwachen willst. Ihr Ausdruck verändert sich, wird weicher. „Ist doch ein Scheißleben, das wir hier führen. Jetzt komm schon. Sonst fahren sie ohne uns.

    „Ja. Ich komme."

    Im Rausgehen wendet sie sich nochmal um.

    „Ach übrigens, Winona. Das muss dir nicht peinlich sein. So ist das nun mal, wenn man mit zwölf Mädels in einem Zimmer pennt. Da gibt es keine Geheimnisse."

    Ich nicke und kontrolliere ein letztes Mal den Sitz meiner Mütze. Greife nach meinem Beutel. Verdränge den Schmerz, der jedes Mal in mir aufflammt, wenn mich jemand mit meinem neuen Namen anspricht.

    Denn es ist der Name meiner toten Mutter.

    Ich bin Yma.

    Ich stöhne und schreie im Schlaf, weil ich gefoltert wurde. Weil man den Mann, den ich liebe, dem Tod geweiht hat. Weil er mich in meinen Träumen wieder und wieder um Hilfe bittet, die ich ihm nicht geben kann.

    Yma ist tot. Untergetaucht. Wenn sie mich finden, muss ich sterben, so wie Len. Sie werden mich verhungern lassen. Oder sie werden Bruak damit beauftragen, mein Leben zu beenden. Schneller als der Hungertod. Aber vermutlich so langsam wie möglich. Ich kann nur hoffen, dass Maya unrecht hat. Dass ich mein Geheimnis bewahren kann.

    2

    Draußen vor dem riesigen Betonklotz, in dem sich das Wohnheim befindet, warten schon die Busse. Und Hunderte von Menschen in Arbeitsanzügen. Sie haben unterschiedliche Farben, für jeden Arbeitsschritt eine andere. Dunkelrot, orange, blau, türkis, grün. Es ist ein buntes Gewusel, das so gar nicht zu der kargen, grauen Umgebung passt, in der wir uns befinden. Ein paar knorrige Bäume, krumm gewachsen, in trockener, steiniger Erde, die links und rechts die breite, endlos erscheinende Straße säumt. Die Sonne geht gerade erst auf. Es ist kalt. Fröstelnd schlinge ich beide Arme um mich. Während die Menschen in die Busse drängen, gehe ich zu dem Kaffeehäuschen neben der Haltestelle. Juri, der Besitzer, scheint der einzige zu sein, der heute Morgen nicht nur hellwach, sondern auch gut gelaunt ist.

    „Guten Morgen", sagt er und grinst mich an.

    „Guten Morgen", gebe ich zurück und krame in meinem Beutel nach einem Geldschein.

    „Kaffee?", fragt er unnötigerweise, denn etwas Anderes

    gibt es bei ihm nicht zu kaufen. Einfach nur Kaffee. Aus der Filtermaschine. Schwarz und scheußlich. Sehnsuchtsvoll gestatte ich mir einen kurzen Gedanken an das Café Bohème in meinem früheren Wohnblock. Wo ich im Luxus gelebt habe, bevor alles den Bach runterging. Alleine die unterschiedlichen Kaffee-Kreationen, von Cold Drip über Dargona bis hin zu Mélange füllten dort eine ganze Speisekarte. Und erst das Frühstücksgebäck. Croissants, Zimtschnecken, belegte Panini, Bananabread. Mein Magen knurrt so laut, dass wahrscheinlich sogar Juri es hören kann.

    „Na?", fragt der ungeduldig.

    „Ja, natürlich. Was denn sonst?", gebe ich im gleichen

    Tonfall zurück und werfe einen besorgten Blick in Richtung Haltestelle, wo nur noch zwei Busse stehen.

    Er reicht mir einen dampfenden Pappbecher. „Wohl bekomms!"

    „Ich fürchte nicht", sage ich und gebe ihm einen zerknitterten Schein. Zwei Creds. Ein absoluter Wucher für die Plörre, die er uns andreht. Aber wie überall regelt auch hier die Nachfrage das Angebot und Juri verdient sich vor den Arbeiterunterkünften jeden Morgen eine goldene Nase.

    Ich nehme den Becher entgegen, will mich schon abwenden, als ich es mir anders überlege.

    „Ich nehme noch einen", sage ich und schiebe schweren Herzens einen weiteren Schein über den Tresen.

    Die Kaffeebecher vorsichtig in den Händen balancierend, um nicht einen einzigen Tropfen der widerlichen und doch so kostbaren Flüssigkeit zu verschütten, gehe ich so schnell wie möglich zu dem einzigen noch verbleibenden Bus, in den gerade die letzten Arbeiterinnen einsteigen. Die hintere Tür schließt sich bereits und ich eile nach vorne zum Fahrer.

    „Nicht zumachen. Ich komme schon. Ich steige die Stufen hoch. „Danke. Und guten Morgen, sage ich zu dem Busfahrer, der mich aus blutunterlaufenen Augen ansieht. Entweder hat er zu viel getrunken oder er ist todmüde. Vermutlich sogar beides. Schöne Aussichten, wenn man bedenkt, dass wir für die nächste Stunde auf Gedeih und Verderb seinen Fahrkünsten ausgeliefert sind. Ich blicke hinunter auf die Becher in meiner Hand und zögere nur eine Sekunde. Dann halte ich ihm den Kaffee entgegen.

    „Hier. Für Sie."

    Er starrt erst das dampfende Getränk und dann mich an. Seine Augenbrauen ziehen sich über der Nasenwurzel zusammen.

    „Was soll ‘n das?", fragt er.

    „Ich würde gerne heil ankommen. Also nehmen Sie schon", sage ich.

    Er zuckt mit den Achseln, greift nach dem Becher und nimmt einen Zug. Schüttelt sich.

    „Scheußlich."

    „Was Sie nicht sagen."

    Er trinkt trotzdem weiter und sieht tatsächlich ein bisschen frischer aus. Das hoffe ich jedenfalls. Ich erwarte keinen Dank und könnte darauf wohl auch lange warten. Stattdessen gehe ich die Bankreihen entlang bis nach hinten durch, während sich der Bus in Bewegung setzt. Ich sehe in müde Gesichter, die über den farbenfrohen Krägen ihrer Anzüge noch blasser und durchscheinender wirken als ohnehin schon. Wie erwartet sitzt Maya in der letzten Reihe. Der Platz neben ihr ist leer. Ich setze mich, ohne dass sie mich eines Blickes würdigt, und sehe auf den Becher in meiner Hand. Er war eigentlich für Maya bestimmt, als Dankeschön, weil sie mich geweckt hat. Mit einiger Mühe widerstehe ich der Versuchung, ihn trotzdem für mich zu behalten, und reiche ihn ihr.

    „Hier. Für dich."

    Sie greift danach wie eine Ertrinkende. Leert den Becher zur Hälfte in nur einem Zug. Verzieht nicht einmal das Gesicht. Nein, stattdessen tritt ein Ausdruck des Entzückens in ihre Augen. Als hätte sie gerade den ersten Schluck eines Bohème-Spezial genommen, jenem Mocca mit Vanillearoma und aufgeschlagener Sojasahne, den ich früher so gerne getrunken habe. „Ah. Das tut gut. Und was ist mit dir?"

    „Ach! Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bekomme sowieso nur Bauchschmerzen von dem Gesöff.

    Sie zieht die Augenbrauen in die Höhe und nimmt einen weiteren Schluck. „Ich frag mich echt, wie du Mimose es bis hierher geschafft hast, sagt sie. Es klingt nicht abwertend. Sondern ehrlich erstaunt. „Wovon du alles Bauchweh und Dünnschiss bekommst.

    Ich verziehe das Gesicht. „Ich habe einen empfindlichen Magen, das ist alles."

    „Empfindlicher Magen? Sie schüttelt ungläubig den Kopf. „Wer kann sich denn bitte sowas leisten? Man muss doch froh sein, wenn man überhaupt was zu Fressen hat.

    Da hat sie allerdings recht. Hier muss man darüber tatsächlich froh sein. Ich beginne, in meinem Beutel zu kramen und finde einen zerquetschten Müsliriegel, den ich vorsichtig aus seiner Verpackung pule und mir stückchenweise in den Mund schiebe. Als ich Mayas Blick auf mir spüre, wende ich mich zu ihr um.

    „Ist irgendwas?"

    Sie schüttelt den Kopf. „Nein, nichts. Es ist nur …. Sie legt die Stirn in Falten und scheint angestrengt nachzudenken. Dann zuckt sie mit den Schultern. „Weiß auch nicht. Irgendwie hab ich immer das Gefühl, du gehörst hier gar nicht her. Alleine wie du diesen Müsliriegel isst. Oder wohl eher verspeist. Sie grinst. „Voll etepetete."

    „Ich will einfach lange etwas davon haben", verteidige ich mich, während mir gleichzeitig heiß und kalt wird. Denn sie hat ja recht. Ich gehöre nicht hierher. Nach Ansicht der Regierung gehöre ich ins Gefängnis. Und wenn mich nach zwei ganzen Monaten immer noch ein Müsliriegel verraten kann, dann sollte ich wirklich an mir arbeiten.

    „Und wie du hier mit Geschenken um dich schmeißt, fährt Maya fort und hält zum Beweis ihren Becher hoch, „das ist doch nicht normal.

    „Kann ich ja auch demnächst sein lassen, sage ich brüsk. „Und im Übrigen schmeiße ich nicht mit Geschenken um mich. Ich wollte mich bloß bei dir bedanken.

    Schon wieder dieses Blitzen in ihren Augen.

    „Weil du mir den Arsch gerettet hast, füge ich deshalb hinzu und komme mir gleichzeitig vor wie ein Kind, das allen Mut zusammennimmt, um seine Eltern mit dem Ausruf „Kacka zu schockieren. Die Wirkung bleibt aus. Maya grinst nur wissend und nickt.

    „Ja, ja, sagt sie. „Schon klar.

    Um kurz vor sieben halten wir vor den Fabrikhallen des RGE-Konzerns, strömen durch das Tor im das Gelände umgebenden Gitterzaun in Richtung Eingang. Schnelle Schritte, so, als könnten wir es kaum erwarten, endlich unsere Arbeit anzutreten. Aber das ist nur die Gewohnheit. Hier bei RGE steht ständig jemand hinter einem, um zur Eile anzutreiben. Schneller, los, mach schon, hopp hopp, nicht einschlafen! Irgendwann geht es einem in Fleisch und Blut über, sich ständig und überall zu beeilen. Sogar auf dem Weg zum Klo. Gerade auf dem Weg zum Klo. Selbst da drin, wo man ganz für sich alleine ist, treibt man sich selbst zur Eile an. Denn Zeit ist Geld. Nicht unser Geld, nein. Aber das Geld des Arbeitgebers. Und ihm sind wir alle ausgeliefert.

    Der Arbeitgeber. RGE, eine Unterfirma ausgerechnet von Universo, dem Unternehmen, für das ich früher gearbeitet habe. Als ich noch ein aufstrebendes Mitglied der Elite war. Was für eine Ironie des Schicksals. Damals habe ich im Assessment-Center mit den klügsten Köpfen über neue Designs und Features für immer neue Produkte gebrainstormt. Smartpads, Laptops, Wearables. Heute löte ich Bauteile auf Motherboards für genau diese Produkte. Jeden Tag. Den ganzen Tag.

    Ich erwische meine Beine dabei, wie sie ihre Schritte beschleunigen, obwohl mein Kopf etwas ganz anderes sagt. Dasselbe wie jeden Morgen.

    Ich will da nicht rein. Lass uns abhauen, Yma. Ich kann da nicht noch einmal rein.

    Wie jeden Tag zwinge ich die aufmüpfigen Gedanken nieder. Gehe zu den anderen Arbeiterinnen, deren Anzüge die gleiche Farbe haben wie meiner, reihe mich ein, verschwinde in diesem grünen Organismus, der seine Individuen verschluckt. Im Gleichschritt betreten wir das Produktionswerk. Endlose Reihen von Arbeitsplätzen mit Stühlen davor. Grelle Neonröhren an den Decken und Wänden. Keine Fenster, auch keine Ventilation. Der Gestank nach Luft, die schon viel zu viele Male von viel zu vielen Menschen geatmet wurde, und nach Chemikalien aus den Arbeitsprozessen riecht. Ich beiße die Zähne zusammen und setze mich an meinen Platz. Die Schicht beginnt sofort.

    3

    Das Schlimmste an der Arbeit ist die Eintönigkeit. Dieselben Handgriffe, immer wieder. Platine zurechtlegen, Bauteil in die entsprechende Öffnung stecken, löten, stecken, löten, stecken, löten, nächste. Zurechtlegen, stecken, löten, stecken, löten, stecken, löten, nächste. Zurechtlegen, stecken, löten, stecken, löten, stecken, löten, nächste. Die Gedanken schweifen beinahe sofort ab, ob man will oder nicht. Allerdings hat so ein Lötkolben eine Temperatur von ungefähr 380 Grad. Eine gewisse Konzentration auf die Tätigkeit ist von daher ratsam, wie ich zu Beginn mehr als einmal schmerzhaft lernen musste. Mittlerweile

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