Aus dem Nest gefallen: Sophienlust 341 – Familienroman
Von Susanne Svanberg
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Über dieses E-Book
Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
Der Ball flog geradewegs in eine Fensterscheibe. Es klirrte, ein sternförmiges Loch entstand, Glasplitter fielen herab. »Volltreffer«, murmelte Nick und pfiff dabei leise durch die Zähne. »Mensch komm, wir hauen ab«, keuchte der Unglücksschütze. »Warum hast du auch so fest zugeschlagen?« meinte sein Freund vorwurfsvoll. Hastig griff er nach dem abgelegten Pulli. »Glaubt ihr, daß die Scheibe davon wieder ganz wird?« fragte Fabian die beiden Jungen, die an diesem sonnigen Herbstnachmittag in Sophienlust zu Gast waren. Beide gingen mit Nick in eine Klasse. »Blöde Frage. Die Scheibe ist hin. Sicher gibt es gleich ein Theater. Wir verschwinden, und ihr versteckt euch am besten.« Ängstlich sah der Bub die Kinder von Sophienlust an. »Theater? Aber doch nicht hier!« »Sag' bloß, bei euch gibt 's für so etwas keine Strafe.
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Buchvorschau
Aus dem Nest gefallen - Susanne Svanberg
Sophienlust
– 341 –
Aus dem Nest gefallen
Hier könnten doch alles wieder gut werden...
Susanne Svanberg
Der Ball flog geradewegs in eine Fensterscheibe. Es klirrte, ein sternförmiges Loch entstand, Glasplitter fielen herab.
»Volltreffer«, murmelte Nick und pfiff dabei leise durch die Zähne.
»Mensch komm, wir hauen ab«, keuchte der Unglücksschütze.
»Warum hast du auch so fest zugeschlagen?« meinte sein Freund vorwurfsvoll. Hastig griff er nach dem abgelegten Pulli.
»Glaubt ihr, daß die Scheibe davon wieder ganz wird?« fragte Fabian die beiden Jungen, die an diesem sonnigen Herbstnachmittag in Sophienlust zu Gast waren. Beide gingen mit Nick in eine Klasse.
»Blöde Frage. Die Scheibe ist hin. Sicher gibt es gleich ein Theater. Wir verschwinden, und ihr versteckt euch am besten.« Ängstlich sah der Bub die Kinder von Sophienlust an.
»Theater? Aber doch nicht hier!« Fabian, ein schmächtiger mittelblonder Junge, schüttelte stolz den Kopf
»Sag’ bloß, bei euch gibt ’s für so etwas keine Strafe. In einem Kinderheim geht ’s doch noch viel strenger zu als sonst«. Nicks Klassenkamerad stand so da, daß er in der nächsten Sekunde flüchten konnte. Denn er war überzeugt, daß gleich jemand aus dem Haus kommen würde, um den Missetäter festzuhalten.
»Nicht bei uns«, mischte sich Irmela ein, das älteste Mädchen von Sophienlust. Sie fühlte sich seit vielen Jahren wohl hier. Am Spiel der Jungen hatte sie sich nicht beteiligt, war aber durch den Krach angelockt worden. »Es war doch nicht Absicht.«
»Natürlich nicht. Aber wer glaubt das?« Der junge Fußballspieler biß die Zähne zusammen. »Mein Vater würde jetzt ein schreckliches Donnerwetter vom Stapel lassen, und Ohrfeigen bekäme ich jede Menge.« Unwillkürlich duckte sich der Bub.
»In Sophienlust wird niemand geschlagen«, erklärte Henrik im Brustton der Überzeugung. Er war Nicks jüngerer Halbbruder, ein liebenswerter kleiner Bursche mit dichtem braunem Haarschopf und klugen grauen Augen.
»Ehrlich?« zweifelte der Junge aus Maibach. »Man hört doch immer so schlimme Geschichten von den armen Waisenkindern.«
»Wie das in anderen Heimen ist, weiß ich nicht. Aber hier ist es jedenfalls große Klasse. Vielleicht sogar schöner als in einer Familie, weil wir so viele sind…« Fabian sah beifallheischend zu Nick hinüber.
»Toll! Das hätte ich nicht gedacht. Es kommt ja tatsächlich niemand, um uns die Ohren lang zu ziehen.« Skeptisch sah der zweite Junge zum Portal des ehemaligen Gutshauses hinüber.
»Dafür mußt du allerdings den Fußball bei meiner Mutti abholen. Du brauchst keine Angst zu haben, aber entschuldigen solltest du dich schon.« Nick, der sich als künftiger Erbe von Sophienlust für alles, was hier geschah, verantwortlich fühlte, war die Sache peinlich. Schließlich hatte er die beiden Klassenkameraden eingeladen.
»Bei deiner Mutti? Sie verwaltet doch dieses Kinderheim. Nein, den Mut habe ich nicht. Kann ich denn nicht einfach zu eurer Köchin gehen oder zu einem Hausmädchen?« Der sonst recht vorlaute Bengel zog ängstlich die Nase kraus.
»Der Ball ist ins Biedermeierzimmer geflogen. Und dort ist im Moment meine Mutti.«
»Wir bekommen nämlich wieder ein neues Kind«, erklärte Heidi wichtigtuerisch. Die Kleine mit den blonden Schaukelzöpfen drängte sich zwischen Nick und Fabian. Von unten her musterte sie die großen Jungen mit schiefgelegtem Köpfchen.
»Uii, auch das noch!« stöhnte Nicks Schulkamerad. »Nee, du, wenn deine Mutti Besuch hat, gehe ich schon gar nicht zu ihr. Da warten wir lieber.«
»Und was machen wir in der Zwischenzeit?« Der zweite Gast scharrte mit seinen Sportschuhen ungeduldig auf dem Rasen.
»Jedenfalls wäre es ratsam, hier aus der Sichtweite zu verschwinden.« Unsicher sah der Unglücksschütze auf die vielen blanken Fensterscheiben von Sophienlust. Er glaubte noch immer nicht daran, daß er straffrei ausgehen würde.
Doch es tat sich nichts. Denise von Schoenecker, die das Heim verwaltete, war an derartige Zwischenfälle gewöhnt.
»Entschuldigen Sie«, meinte sie in ihrer charmanten Art, als der verirrte Fußball knapp vor ihren Füßen landete. »Wir sind sehr darauf bedacht, daß sich unsere Kinder frei und ungezwungen bewegen. Da gibt es auch manchmal kleine Mißgeschicke. Wir nehmen eine zerbrochene Fensterscheibe nicht tragisch. Es ist mir lieber, die Jungen toben, als daß sie bedrückt herumsitzen.«
»Das ist eine bewundernswerte Einstellung«, meinte Alfred Henning, der Denise gegenübersaß, überrascht.
Seine Frau Doris nickte voller Anerkennung. »Man hört ja viel von Sophienlust und davon, daß hier alles anders wäre als in herkömmlichen Heimen. Doch daß Sie so tolerant sind, hätte ich nie gedacht.«
Doris Henning musterte die sympatische Denise von Schoenecker voller Bewunderung. Sie fand, trotz der zweifellos enormen Arbeitsbelastung wirkte diese Frau jung, gepflegt und auffallend ruhig. Ihre Kleidung war sehr geschmackvoll, ihre Figur tadellos. Das aparte Gesicht wurde von schwarzem Haar umrahmt und von großen dunklen Augen beherrscht.
»Gerade weil man so viel Gutes über Sophienlust hört, wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie unsere kleine Franziska für etwa sechs Wochen bei sich aufnehmen könnten. Wie ich bereits am Telefon angedeutet habe, unternehmen wir eine Fotosafari. Ich bin Fotograf und hoffe, die Bilder gut verkaufen zu können.«
»Für ein zweijähriges Mädchen ist diese Reise leider zu strapaziös«, erklärte Doris Henning.
»Eigentlich sind wir belegt. Aber für sechs Wochen haben wir natürlich für ein kleines Mädchen immer Platz«, meinte Denise mit liebevollem Blick auf das Kind, das auf dem Teppich unbesorgt mit Bauklötzchen spielte. Franziska Henning war ein hübsches kleines Mädchen. Mit ihren großen blauen Augen und den braunen Ringellöckchen war sie dem Vater sehr ähnlich.
»Ich glaube, die Kleine wird Ihnen nicht viel Schwiegkeiten machen«, meinte Doris Henning mit einem etwas unsicheren Lächeln. »Fanny ist ein ruhiges, zufriedenes Kind. Sie schläft gern und lange und ißt alles, was auf den Tisch kommt.« Der kräftige Körperbau der Zweijährigen bestätigte diese Aussage.
»Es wird sicher keine Probleme geben«, erwiderte Denise zuversichtlich. Sie wußte, daß sich besonders die Mädchen von Sophienlust über ein Kleinkind riesig freuen würden.
»Sie nehmen uns eine große Sorge ab, Frau von Schoenecker. Keinem anderen hätten wir unser Töchterchen anvertraut. Nun können wir unbesorgt reisen.« Alfred Henning atmete hörbar auf. »Sie erwähnten am Telefon, daß Sie Impfpaß, Geburtsurkunde und Krankenschein brauchen. Hier sind sämtliche Unterlagen.«
»Fannys Kleider habe ich in einem Koffer im Wagen. Soll ich…« Doris Henning erhob sich.
»Sie können die Sachen der Betreuerin unserer Kleinen, Schwester Regine, übergeben. Wenn es Sie interessiert, zeige ich Ihnen das Haus.« Auch Denise war aufgestanden.
»Selbstverständlich interessiert es uns«, versicherte Doris Henning etwas zu rasch. Sie hob ihr Töchterchen hoch, das sich nur ungern von den Spielklötzchen trennte.
Denise zeigte ihren Gästen die Schlaf- und Waschräume, den großen Speisesaal, das Musikzimmer, das Eisenbahnzimmer, dem Bastelraum und den Wintergarten mit den prächtig gedeihenden tropischen Pflanzen. Der kleinen Franziska gefiel besonders der große farbenprächtige Papagei Habukuk, der dort auf seiner Stange saß und die Eintretenden krächzend begrüßte.
Als Denise ihre Gäste schließlich verabschiedete und Schwester Regine die kleine Franziska in ihre Obhut nahm, wartete Nicks Schulkamerad bereits auf sie. Mit gesenktem Kopf trat er vor die jugendliche Schirmherrin von Sophienlust.
»Ich war’s«, stammelte er und
wurde vor Verlegenheit und Scham rot.
»Die Sache mit dem Fußball, nicht wahr?« Denise unterdrückte ein amüsiertes Lächeln. Der reuige Sünder tat ihr leid.
»Es war keine Absicht. Ich werde auch die Scheibe bezahlen.« Der Junge biß sich verlegen die Unterlippe wund.
»Das wird dein Taschengeld ganz schön belasten.« Denise musterte ihren Gesprächspartner. Er war groß und kräftig und in einem Alter, in dem man ihm eine leichte Arbeit zumuten konnte. »Möchtest du dir etwas verdienen?« Aus psychologischen Gründen hielt sie es nicht für angebracht, den Vorschlag zur Wiedergutmachung des Schadens abzulehnen. Sie wollte dem kleinen Schuldner aber helfen, die Einlösung des Versprechens zu erleichtern.
»Ja, gern!« Die Augen des Schülers blitzten erfreut auf.
»Wir haben rings um Sophienlust eine Menge Obst auf den Bäumen, das geerntet werden muß. Unser Justus ist nicht mehr der Jüngste. Es fällt ihm schwer, auf die Bäume zu klettern. Vielleicht könntest du ihn unterstützen. Über den Stundenlohn unterhalten wir uns noch.«
»Spitze«, murmelte der junge Fußballspieler überwältigt. »Das mach’ ich natürlich gern.«
»Dürfen wir auch?« fragte jetzt Nick, der das Gespräch aus einiger Entfernung belauscht hatte. Neben ihm drängten sich Fabian und Henrik.
»Nur die Großen dürfen auf die Leiter. Die Kleinen können die Äpfel vom Boden auflesen.«
»Warum?« erkundigte sich die kleine Heidi, die ebenfalls zugehört hatte.
»Weil es sehr gefährlich ist, auf die Bäume zu klettern. Man kann leicht herunterfallen.«
Gern beantwortete Denise die vielen Fragen, die Heidi stellte. Es gehörte zu ihren Grundsätzen, für die Kinder immer Zeit zu haben.
*
Sei dem Tod ihres Mannes hatte Hildegard Ertel dieses lähmende Entsetzen nicht mehr gefühlt. Das war vor sechsundzwanzig Jahren gewesen. Ihr Leben war nicht leicht gewesen, aber noch in ruhigen, geordneten Bahnen verlaufen.
Jetzt war es, als zerstöre die Nachricht aus dem Telefon die Weltordnung, als müsse im nächsten Moment das Chaos über die Menschheit hereinbrechen. Im Unterbewußtsein erwartete die Rentnerin, daß sich der Himmel verfinstere, daß die Welt mit unvorstellbarem Bersten untergehe.
»Hören Sie noch?« fragte die Stimme aus dem