Liebe, Raub und Leidenschaft
Von Marguerite Kaye
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Henrietta erwacht im Bett eines für seine Liebschaften berüchtigten Grafen - und würde sich am liebsten unter der Decke verkriechen. Vor ihr steht der schönste Mann, den sie je gesehen hat! Angeblich hat er sie gefunden, nachdem ein Einbrecher sie niederschlug. Aber kann ein Wüstling wie der Earl of Pentland ihr Lebensretter sein? Die Gouvernante ist überzeugt: Mit seinem verwegenem Blick hat er schon vielen Frauen das Herz gestohlen. Doch als sie plötzlich selbst des Diebstahls beschuldigt wird, kann nur er ihr helfen - und seine Methoden sind alles andere als schicklich …
Marguerite Kaye
Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit neun Jahren einen Wettbewerb in Poesie gewann. 30 Jahre später hatte sie mit einem Historical Roman den Durchbruch.
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Liebe, Raub und Leidenschaft - Marguerite Kaye
Marguerite Kaye
Liebe, Raub und Leidenschaft
IMPRESSUM
HISTORICAL MYLADY erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
© 2012 by Marguerite Kaye
Originaltitel: „Rake With A Frozen Heart"
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: Historical Romance
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADY
Band 552 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Alexandra Kranefeld
Fotos: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 03/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733762216
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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1. KAPITEL
Sussex, Mai 1824
Der Frühnebel begann sich gerade zu lichten, als er seinen prächtigen schwarzen Hengst nach Hause ritt. Er nahm die Abkürzung durch die Eibenallee, welche um die Gärten von Woodfield Manor führte. Frühsommerlicher Sonnenschein warf helle Strahlen durch die Bäume, und auf dem Gras funkelten die Tautropfen wie ein Meer winziger Diamanten. Der satte Geruch der frischen Erde mischte sich mit dem lieblichen Duft süßen Geißblatts, das sich an den Stämmen der stattlichen Eiben emporrankte. Ein herrlicher Morgen, der ohne Zweifel auch einen herrlichen Tag versprach.
Allerdings war der Hochehrenwerte Rafe St Alban, Earl of Pentland, Baron Gyle für diese Wunder der Natur und die Pracht, über die er herrschte, nicht empfänglich. Nachdem er auch diese Nacht kaum geschlafen und der schnelle Morgenritt ihn schwer erschöpft hatte, sehnte er sich einzig und allein danach, in Morpheus’ offene Arme zu sinken.
Sein Pferd zügelnd, sprang Rafe aus dem Sattel und sperrte das Gatter auf, durch das man über einen schmalen Pfad geradewegs zu den Stallungen gelangte. Der große, gut gebaute Mann und das stattliche Pferd, die Muskeln gestählt und die Sehnen gespannt, gaben ein beachtliches Paar ab. Beide waren – auf ihre jeweils eigene Weise – Paradebeispiele blaublütiger Abstammung, Wunderwerke der Natur in leibhaftiger Vollkommenheit. Trotz der schlaflosen Nächte strotzte Rafe geradezu vor Gesundheit. Seine Haut strahlte, sein tiefschwarzes Haar glänzte in der Sonne. Der Kurzhaarschnitt betonte seine hohen Wangenknochen, die von der Anstrengung eines halsbrecherischen Galopps nun etwas erhitzt waren, und selbst der dunkle, bläulich schimmernde Bartschatten unterstrich nur, wie markant sein Kinn war und wie weiß und makellos seine Zähne.
Einen byronschen Helden hatte eine junge Dame ihn einst in atemloser Ergriffenheit genannt. Ein Kompliment, das Rafe wie üblich mit einem zynischen Lachen abgetan hatte. Obwohl er dank seines Aussehens und seines nicht minder attraktiven Vermögens einer der begehrtesten Junggesellen des ton war, verprellten sein vernichtender Humor und die abwesende Art, wie er manchmal in die Luft starrte, selbst zu allem entschlossene Damen – was Rafe nur zupasskam. Schließlich hatte er nicht die geringste Absicht, sich ein zweites Mal in Fesseln legen zu lassen. Von der Ehe hatte er für dieses Leben genug. Und für das nächste gleich dazu.
„Gleich geschafft, mein Freund", murmelte er und tätschelte die erhitzte Flanke des Hengstes. Thor warf den stattlichen Kopf zurück und stieß dampfende Atemwolken durch die Nüstern. Offenbar strebte er ebenso sehnsüchtig seiner Schlafstatt entgegen wie sein Herr. Rafe beschloss, nicht wieder aufzusitzen und das kurze Stück zu laufen, streifte seinen Gehrock ab und warf ihn sich lässig über die Schulter. Da er nicht damit rechnen musste, zu so früher Stunde einer Menschenseele zu begegnen, war er ohne Hut, Weste und Krawattentuch aufgebrochen. Das weiße Leinen seines Hemds klebte ihm feucht am Rücken, sein Kragen war locker geöffnet und gab seine dunkel behaarte Brust frei.
Lautlos fiel das Gatter hinter ihnen ins Schloss, und Rafe drängte sein Pferd vorwärts. Thor jedoch stampfte mit den Hufen im Gras und schnaubte. Auf solche Spielchen hatte Rafe nun wahrlich keine Lust. Erneut zog er an den Zügeln, nun schon etwas heftiger, doch Thor rührte sich nicht und wieherte schrill.
„Was ist jetzt schon wieder?" Rafe ließ den Blick umherschweifen und suchte nach einem Fuchs oder einem Hasen, doch stattdessen erspähte er einen Schuh. Einen Damenschuh. Einen schmalen Lederschuh, an der Spitze etwas abgestoßen, verbunden mit einer in ausgesprochen praktische Wolle gekleideten, doch darum nicht minder wohlgeformten Wade. Rafe konnte sich einen leisen Ausruf nicht verkneifen, der eher seinen Unmut über die Störung denn seine Besorgnis zum Ausdruck brachte. Gemächlich befestigte er die Zügel am Gatter, bevor er an den Graben trat, um sich das Unglück anzuschauen.
Rücklings hingestreckt, tot oder tief bewusstlos, lag eine junge Frau, gekleidet in ein braunes Wollkleid mit Knöpfen, die sich bis zum Hals schlossen. Sie trug weder Hut noch Pelisse, und ihr rotbraunes Haar hatte sich gelöst und lag wie ein Fächer hinter ihr ausgebreitet, vom Grabenwasser getränkt, sodass es fast schwarz schien, wie ein düsterer Heiligenschein. Rafe strich das Gras beiseite, um ihr Gesicht besser sehen zu können, das ohne jede Farbe war, marmorblass und gespenstisch. Die Arme vor der Brust verschränkt, mutete sie wie eine prunklos gekleidete Grabfigur an. Einzig der schräg aus dem Graben ragende Fuß, der ihn überhaupt erst auf sie aufmerksam gemacht hatte, störte dieses Bild.
Seinen Rock beiseitewerfend, kniete Rafe am Ufer nieder und stellte verärgert fest, dass ihm Brackwasser in die Reitstiefel sickerte. Die Frau lag völlig still und reglos da, nicht einmal ihre Lider bewegten sich. Vorsichtig neigte er sich vor. Ein schwacher Atemhauch streifte seine Wange, verhieß eine erste Andeutung von Leben. Er griff nach ihrem Handgelenk und atmete erleichtert auf, als er einen schwachen, doch steten Pulsschlag spürte. Wer war sie? Und wie zum Teufel war sie in seinem Graben gelandet?
Rafe stand auf, nahm zerstreut die Grasflecken auf seinen Breeches wahr, welche seinem Kammerdiener Laute der Missbilligung entlocken würden, und überlegte, was zu tun war. Am einfachsten wäre es, zum Haus zurückzukehren und zwei Stallburschen nach ihr zu schicken. Er betrachtete die reglose Gestalt, zog die Stirn in Falten. Nein. Was immer sie hier zu suchen hatte, er konnte sie nicht guten Gewissens so liegen lassen. Wie Ophelia sah sie aus. Und wie ihr Fuß so seltsam verloren aus dem Graben ragte, das gab ihr etwas unglaublich Verletzliches. Und so schwer konnte sie kaum sein. Wozu zwei Männer schicken, wenn er ein Pferd hatte? Mit einem resignierten Seufzer machte Rafe sich daran, sie aus ihrem nassen Bett zu heben.
„Danke, Mrs Peters, das wäre alles. Ich lasse Sie rufen, wenn ich weiterer Hilfe bedarf."
Die Worte drangen von fern, wie durch einen dichten Nebel, als wäre ihr Kopf in ein mittelalterliches Folterwerkzeug gespannt. Stöhnend versuchte Henrietta, sich an die Stirn zu fassen, doch ihr Arm verweigerte ihr den Dienst und lag schwer auf ihrer Brust. Ein stechender, irrlichternder Schmerz zwang ihr die Lider auf, doch die bunten Farbwirbel, die auf einmal vor ihr tanzten, ließen sie die Augen gleich wieder schließen. Nun fühlte es sich an, als würde mit einem Schmiedehammer auf ihren Schädel eingeschlagen. Es war unerträglich.
Wohltuende Kühle senkte sich auf ihre Stirn, der Schmerz ließ ein wenig nach. Wonach roch es hier? War das Lavendel? Als sie es nach einer Weile erneut versuchte, konnte sie den Arm heben. Die Hand auf die feuchte Kompresse gedrückt, öffnete Henrietta abermals die Augen. Alles drehte sich und verschwamm. Schnell schloss sie die Lider, presste sie fest zusammen und atmete tief durch. Nachdem sie bis fünf gezählt hatte, versuchte sie den Sirenengesang der Bewusstlosigkeit zu überhören, der sie mit sanfter Stimme lockte. Dann öffnete sie entschlossen die Augen und blickte sich um.
Gestärkte Laken. Daunenkissen. Zu ihren Füßen eine Bettflasche. Über ihr ein Baldachin aus feinstem Damast. Sie lag in einem Bett – doch wo? Das Zimmer war ihr gänzlich unbekannt. Im Kamin brannte ein helles Feuer, die Vorhänge waren zugezogen, doch durch einen schmalen Spalt schien Licht herein. Alles war unglaublich modern und elegant, die Wände in einem blassen Gelb, die Vorhänge in einem dunkleren Goldton gehalten. Wieder nahte eine Welle elender Übelkeit heran. Nein, sie durfte sich in so makelloser Umgebung nicht vergessen. Henrietta fasste all ihren Willen und setzte sich auf.
„Sie sind wach."
Sie fuhr zusammen. Eine tiefe, dunkle Stimme. Verführerisch. Und unüberhörbar männlich. Halb hinter dem Bettvorhang verborgen, hatte sie ihn nicht sogleich bemerkt. Henrietta wich zurück und zog sich die Decke bis übers Kinn, wobei sie feststellte, dass sie nur ihre Unterkleider am Leib trug! Die Kompresse fiel herab auf die seidene Bettdecke. Das dürfte Flecken geben, dachte Henrietta zerstreut. „Wenn Sie näher kommen, schreie ich!"
„Halten Sie sich nicht zurück, erwiderte er lakonisch, „denn wer weiß, ob ich mich bislang zurückgehalten habe?
„Oh!, entfuhr es ihr, doch klangen seine Worte eher belustigt als bedrohlich. Nun verstand Henrietta gar nichts mehr. Sie blinzelte verwirrt. Und dann, als ihr Blick sich langsam klärte, schluckte sie. Vor ihr stand der wohl schönste Mann, denn sie je erblickt hatte. Groß, dunkelhaarig und geradezu unanständig gut aussehend. Ein wahrer Adonis. Die kurzen nachtschwarzen Haare gaben den Blick frei auf einen Kopf, der tadellos symmetrisch war. Geschwungene Brauen, mandelförmige Augen von einem ganz wunderlichen Blau – oder war es Grau? Wie der Himmel in stürmischer Nacht. Unrasiert und in Hemdsärmeln, brachte sein leicht zerzauster Aufzug nur noch besser zur Geltung, wie vollkommen er war. Sie merkte, dass sie ihn offen anstarrte, aber sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. „Wer sind Sie? Und was um alles in der Welt machen Sie hier … in diesem Schlafzimmer? Mit mir?
Rafe erlaubte sich, die Schöne in Nöten zu betrachten, wie sie sich am Laken festklammerte, als hinge ihr Leben daran, und wie sie ihn musterte, als hätte er nicht nur seinen Frackrock abgelegt, sondern stehe völlig nackt vor ihr. Der Gedanke stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Er konnte nicht widerstehen, sein Spiel mit ihr zu treiben. „Ich habe keine Vorstellung davon, was wir in diesem Schlafzimmer tun. Sie vielleicht?"
Henrietta rang nach Atem. Das Offensichtliche wäre schockierend … und doch seltsam verlockend. Sie trug nur ihre Unterkleider. Und er schien sich gerade anzuziehen. Oder auszuziehen? War das sein Ernst? Hatten sie … hatte er? Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, doch sie schloss die Augen. Nein! Sollte sie sich ausgerechnet an das nicht mehr erinnern können? Nicht dass sie eine genaue Vorstellung davon gehabt hätte, aber gewiss hätte sie es nicht so schnell vergessen. Ihn hätte sie ganz sicher nicht vergessen.
Wahrscheinlich neckte er sie nur. Oder? Verstohlen sah sie ihn an. Ihr Blick traf geradewegs auf seinen. Rasch wandte sie sich ab. Nein. Griechische Götter stiegen nicht vom Olymp herab, um pummelige junge Damen zu verführen, denen das Haar wie Rattenschwänze vom Kopf baumelte und die rochen – Henrietta schnüffelte dezent, und ja, es ließ sich nicht leugnen –, als hätten sie in Brackwasser gebadet. Doch was war geschehen?
Als er seinen Blick dort ruhen ließ, wo sie das Laken unter ihrem Kinn festklammerte, spürte Henrietta das Blut in ihre Wangen schießen. Wie er kurz die Brauen hochzog, als sein Blick dem ihren begegnete, das hatte genügt. Es kam ihr vor, als hätte sie eine Prüfung nicht gemeistert, die sie mit Bestnote bestehen wollte. Angriffslustig reckte sie das Kinn. „Wer sind Sie?"
Wieder hob er die Brauen. „Sollte ich diese Frage nicht Ihnen stellen? Immerhin sind Sie ein Gast – wenngleich ein ungebetener – in meinem Haus."
„Ihr Haus?"
„Ganz genau. Mein Haus. Mein Schlafzimmer. Mein Bett. Rafe wartete, doch zu seiner Überraschung schien die junge Dame fürs Erste genug davon zu haben, das verhuschte Mäuschen zu spielen. „Sie befinden sich auf Woodfield Manor
, ließ er sie wissen.
„Woodfield Manor! Aber das war doch das große Landgut, das an jenes ihrer Dienstherrin grenzte! Und dann war er … „Du liebe Güte, dann sind Sie der Earl?
„In der Tat, der bin ich. Rafe St Alban, Earl of Pentland, stets zu Ihren Diensten." Rafe deutete eine Verbeugung an.
Der Earl! Sie befand sich tatsächlich im Schlafgemach eines berüchtigten Grafen – und nun war ihr auch klar, und zwar sehr klar, warum er einen so skandalösen Ruf hatte. Henrietta klammerte sich ans Betttuch und hätte es sich am liebsten über den Kopf gezogen, um sich in den daunenweichen Tiefen des Plumeaus zu verkriechen. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mylord, sagte sie. „Ich bin Henrietta Markham.
Mit einem Mal wurde ihr der Aberwitz der Situation bewusst, und sie verspürte den völlig unangebrachten Drang, laut zu lachen. „Sind Sie ganz sicher, dass Sie der Earl sind? Denn ich meine … Aber nein, wenn Sie es sagen, wird es schon so sein."
Ein leises Zucken spielte um seine Mundwinkel. „Ich bin mir ziemlich sicher, wer ich bin. Was lässt Sie glauben, ich könnte es nicht sein?"
„Nichts. Nur … nun, ich hätte nicht gedacht … Sie wissen schon, bei Ihrer Reputation …" Henrietta merkte, wie sie abermals rot wurde.
„Welche Reputation?" Natürlich wusste er ganz genau, was sie meinte, aber es würde ihn sicher amüsieren, wenn sie es in eigene Worte fasste. Sie hatte etwas an sich, das ihn reizte. Er wollte sie schockieren, sie aus der Fassung bringen. Vielleicht lag es an ihren großen Augen, ihrem klaren Blick? Ihre Augen waren braun. Wie Zimt. Oder eher wie Kaffee? Nein, auch nicht. Schokolade vielleicht?
Rafe machte es sich auf der Bettkante gemütlich. Henrietta Markham blickte erstaunt, doch sie schrak nicht zurück, wie er es erwartet hätte. Es war genau so viel Platz zwischen ihnen, dass es zu viel und gleichzeitig nicht genug war. Unter dem Laken sah er ihre Brüste sich rascher heben und senken.
Sie war nicht, was man gemeinhin als schön bezeichnen würde. Ein paar Zoll zu klein geraten und beim besten Willen nicht gertenschlank. Zwar war ihre Haut hell und makellos, ihr Mund dagegen zu breit, ihre Brauen zu gerade und ihre Nase nicht gerade genug. Nun jedoch, da sie wieder etwas Farbe im Gesicht hatte und die Ähnlichkeit mit der marmornen Grabfigur sich verloren hatte, war sie … nein, definitiv nicht schön, aber auf recht beunruhigende Weise attraktiv. „Wie, Miss Markham? Um Worte verlegen?"
Henrietta fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie kam sich vor wie ein Mäuschen, mit dem der Kater sein Spiel trieb. Lässig saß er auf der Bettkante, schlug ein Bein übers andere. Lange Beine. Würde sie so auf der Bettkante sitzen, reichten ihre Füße gewiss nicht bis zum Boden. Sie war es nicht gewohnt, so nah bei einem Mann zu sitzen. Schon gar nicht im Bett, am Bett, auf dem Bett. Wo auch immer. Es war … Sie bekam kaum noch Luft. Angst hatte sie eigentlich keine, jedoch fühlte sie sich durchaus ein wenig eingeschüchtert. Was hatte er vor? Sie setzte sich auf, widerstand dem Impuls, sich am anderen Ende des Betts in Sicherheit zu bringen, und rang andererseits mit dem Wunsch, ihm näher zu sein. Gefährlich nah. Doch sie durfte ihn nicht die Oberhand gewinnen lassen. „Sie wissen doch ganz genau, dass Sie berüchtigt sind", sagte sie mit einigermaßen fester Stimme – und war stolz auf sich.
„Berüchtigt weswegen?"
„Nun, es heißt … Henrietta zögerte. Normalerweise war sie nie um Worte verlegen. Auf seinen Breeches waren Grasflecken. Ob sie irgendetwas mit ihrer heiklen Situation zu tun hatten? Als sie merkte, dass er ihren unverhohlenen Blick auf seine Beine bemerkte, errötete sie und fuhr rasch fort. „Es heißt, dass Sie … nun ja. Gewiss ist es alles Unsinn, denn Sie können unmöglich so schlimm sein, wie man sich erzählt. Auf jeden Fall sehen Sie nicht so aus, wie ich mir einen … einen … vorgestellt hätte.
„Wie was sehe ich nicht aus?", fragte er.
Henrietta schluckte. Es gefiel ihr nicht, wie er sie ansah. Als ob er gleich lachen wollte. Oder auch nicht. Es war abschätzend, das war das Wort. Sie hatte das Gefühl, abgeschätzt und für gering befunden zu werden – und schalt sich sogleich für ihre törichten Gedanken, ihre törichte Reaktion auf seine Nähe. Aber er war einfach so überwältigend männlich, und dann saß er ihr viel zu nah, hier auf diesem Bett, so nah, dass ihre Haut allein von seiner Nähe zu kribbeln begann. Am liebsten würde sie ihn von der Bettkante stoßen. Oder wäre das nicht nur ein Vorwand, um ihn zu berühren? Dieses rabenschwarze Haar, das so kurz war. Und dabei gewiss seidenweich. Anders als seine Bartstoppeln, die sicher hart und kratzig wären. „Ein Wüstling", platzte sie heraus, nun völlig verwirrt von ihren überbordenden Gedanken.
Das hatte gesessen. Der Earl stand entrüstet auf. „Wie bitte?"
Henrietta blinzelte verwirrt, vermisste schon jetzt seine Nähe, seine Wärme und war doch erleichtert, zumal seine Miene sich mit einem Schlag verändert hatte. Kälter, distanzierter, als hätte er eine Mauer zwischen ihnen gezogen. Zu spät ging ihr auf, dass es nicht gerade taktvoll war, jemandem ins Gesicht zu sagen, dass er ein Wüstling war. Auch dann nicht, wenn er tatsächlich einer war. Warum konnte sie nur nie den Mund halten?
„Bitte klären Sie mich auf, Miss Markham – wie genau sieht ein Wüstling aus?"
„Genau weiß ich es nicht, aber wahrscheinlich nicht annähernd so gut wie Sie, erwiderte Henrietta und sagte einmal mehr das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam. „Und älter
, fuhr sie fort, da sie sein Schweigen nicht ertragen konnte. „Und unmoralischer. Verlebt und verkommen. Wenngleich ich gestehen muss, nicht genau zu wissen, wie Verkommenheit eigentlich aussieht, nur dass Sie nicht so aussehen. Verkommen, meine ich", schloss sie, als sie merkte, dass sie ihn mit ihren Worten keineswegs beschwichtigt sondern eher brüskiert hatte.
„Ich bin beeindruckt, Miss Markham, sagte er süffisant. „Sprechen Sie aus Erfahrung?
Er stand mit einer Schulter an den Bettpfosten gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Wie breit seine Schultern waren! Breit und muskulös. Ob er boxte? Wenn ja, musste er gut sein, denn sein Gesicht zeigte keine Blessuren. Ihr Gesicht befand sich indes auf Augenhöhe mit seiner Brust. Die auch breit und muskulös aussah, soweit sie das unter seinem Hemd erkennen konnte. Sein Bauch war flach, sehr flach, eigentlich gar kein Bauch.
Henrietta nagte an ihrer Unterlippe und versuchte, sich nicht einschüchtern zu lassen. An seine Hemdbrust gewandt, wollte sie nicht sprechen, aber sie musste sich fast den Hals verrenken, um in seine Augen blicken zu können – die jetzt schiefergrau waren, nicht blau. Wieder schluckte sie, versuchte, sich zu erinnern, was er sie eben gefragt hatte. Wüstlinge, genau. „Aus Erfahrung, ja. Oder ich meine, nein, natürlich nicht persönlich. Meines Wissen bin ich noch keinem Wüstling begegnet, aber meine Mutter hat immer gesagt … Henrietta verstummte. Gewiss wüsste Mama es nicht zu schätzen, wenn ihre Vergangenheit ausgebreitet würde. „Ich habe die Folgen wüsten Treibens mit eigenen Augen gesehen
, sagte sie stattdessen, was etwas dürftig klang, geradezu kleinlaut. Aber kein Wunder, dass sie um Worte verlegen war, wenn er wie ein Racheengel vor ihr stand. „Im Armenhaus unserer Gemeinde", setzte sie nach.
„Wenn Sie andeuten wollen, ich hätte landauf, landab eine Spur illegitimer Sprösslinge hinterlassen, dann täuschen Sie sich. Und zwar gewaltig", beschied er ihr.
Henrietta wollte vor Scham im Boden versinken. Nichts dergleichen hatte sie andeuten wollen – zumindest nicht über ihn im Besonderen. Aber nur weil sie in seinem Fall nichts dergleichen gehört hatte, hieß das ja nicht, dass … Aber nein, sein Zorn war echt. Gewiss sagte er die Wahrheit. „Wenn Sie das sagen, gestand sie ihm widerwillig zu. „Ich wollte keineswegs andeuten …
„Das haben Sie aber, Miss Markham. Eine Unterstellung, die ich weit von mir weise."
„Nun, bei Ihrer Reputation lag die Vermutung eben nah", versuchte sie sich, ganz entgegen ihrer Gewohnheit, zu rechtfertigen.
„Man sollte sich vor Vermutungen hüten, ehe man sich nicht der Fakten vergewissert hat."
„Welcher Fakten?"
„Wie Sie ganz recht bemerkt haben, finden Sie sich hier in meinem Bett, in Ihren Unterkleidern, und doch wurden Sie weder geschändet noch entehrt."
„Ach nein? Ich meine, nein, natürlich nicht! Wollen Sie damit sagen, dass Sie kein Wüstling sind?"
„Ich lasse mich nicht dazu herab, meinen Charakter zu verteidigen – auch nicht vor Ihnen, Miss Markham", sagte Rafe, nun nicht länger belustigt, sondern zutiefst erzürnt.
Ein Frauenheld mochte er wohl sein, wenngleich er den Begriff verabscheute, aber bei Weitem kein Wüstling. Die Vorstellung, bar aller Verantwortung Kinder zu zeugen, allein auf die eigene Erfüllung bedacht, war ihm zuwider. Er fühlte sich bei seinen Liaisons verpflichtet, gewisse Regeln einzuhalten. Sein wüstes Treiben, wie sie es nannte, beschränkte sich auf Frauen, die nach denselben Regeln spielten und nichts weiter von ihm erwarteten. Seine Begegnungen waren körperlicher, nicht emotionaler Natur. Unschuldige Frauen, selbst wenn sie halb nackt in seinem Bett lagen und große Augen machten, hatten daher wenig zu befürchten. Nicht dass er vorhatte, dies dieser bestimmten Frau mitzuteilen.
Henrietta wusste nicht recht, was sie von seiner zornigen Antwort halten sollte. Wenn er wirklich der Wüstling war, als der er gemeinhin galt, weshalb nahm er dann solchen Anstoß an ihren Worten? Es war doch bekannt, dass alle Wüstlinge unmoralische Gesellen waren, verkommen, verantwortungslos, verworfen …
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Ein Wüstling mochte er sein, doch er hatte nicht … Konnte es daran liegen, dass sie ihm nicht reizvoll genug war? Ein ernüchternder Gedanke! Und lächerlich noch dazu. Als ob es ihr etwas ausmachte, dass dieser berüchtigte Wüstling sie der Verführung nicht für wert erachtete. Womit sie wieder beim Thema war. „Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Ich meine, in dieses Bett?"
„Ich fand Sie bewusstlos. Erst dachte