Nie allein
Von Kurt Scharf
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Kurt Scharf
geboren 1954; Studium am Leipziger Literaturinstitut (1978 bis 1981); lebt in Wolgast
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Buchvorschau
Nie allein - Kurt Scharf
Mir entgeht,
ich vergesse:
nichts.
Inhalt
Wandlung
Was über Grahl
Zeitungsmeldungen 1995
Unsere Straße
Licht-Raum
Tagebuch
Tierisch
Nachtschicht
Ab Dezember
Später
Wandlung
Dazwischen Land
Während Wellenbrecher
Gischt
verschäumen
bei Windstärke Sechs
in der Mecklenburger
Bucht,
liegt
hingegen
der Saaler Bodden
sonnig silberglatt.
Wandlung
Ich bin das Blatt
am Winterbaum,
ich schwebe matt
aus deinem Traum
und liege dort
für lange Zeit
an diesem Ort
solang es schneit.
Wenn Sommer wird
und alles hell
in Wärme flirrt,
eventuell
entdeckst du mich
im Waldgeschatt.
Da warte ich,
als neues Blatt.
Oktober-Okto
Viel Braun, kein Grün, und etwas Rot,
und Gelb; naja, ein Farbenangebot
vom Herbst im schönen deutschen Wald,
und ist es auch ein wenig kalt,
ich wandre gerne hin und wandre her.
Zwar, der Mantel (weil zu schwer) stört mich sehr,
doch kommt ja bald die Zeit der kurzen Hemden
im Frühling wieder. Mein Befremden:
dass ich nicht weiß, ob er auch mich erreicht.
Storch
Nach langem Zug
die letzte Phase –
in flachem Flug
über die Straße.
Zum alten Nest
mit müden Schwingen –
die Sonne lässt
es ihn gelingen.
Gruß vom Worte-Finder!
Er heimst die Zeilen ein,
sendet sie geschwinder
als je zuvor ins Sein.
Gruß vom Wort-Entferner!
Er streicht die Zeilen aus,
macht das noch viel gerner,
wird ein Gedicht daraus.
1992, Deutschland
Wir können nichts begreifen.
Das Leid der Fremden hier
kann uns nur wenig streifen
und ist nicht unser Bier.
Wir sind es nicht, die fliehen.
Wir haben unser Haus,
ein Bett, das wir beziehen,
und sehen glücklich aus.
Und wenn wir uns mal streiten
(auch das kommt manchmal vor),
geht es um Kleinigkeiten,
so zwischen Tür und Tor.
Wir stehen voll im Leben,
und leben gut dabei.
Die andern, die daneben,
die sind uns einerlei.
Der Würfel fällt verschieden,
so wird es immer sein.
Wir wollen unsern Frieden.
Und den für uns allein.
Seitwärts
Ich bitte dich, lies dieses hier,
lies dieses hier, ich bitte dich,
bei hellem Licht, bei hellem Licht.
Und seitwärts soll die Sonne sein,
die Schatten wirft, die Schatten wirft,
bei hellem Licht die Schatten wirft
auf dieses hier.
Ich bitte dich.
Heute
Das Boot verließ den Hafen,
erzeugte Wellenschlag.
Die Wellen aber trafen
im Wassergrenzbereich
gleich
auf dünnes Eis.
Und leis
zwitscherte der Fluss.
Ein Berber erzählt
Ich war zum Wasser
grade runter
und wusch mir das Gesicht
im Fluss. Kommt da
ein Kerl daher
so früh am Morgen
und fragt mich doch,
ob ich es auch
trinken täte
zur Not.
Ich sag ihm drauf
(und trockne meine Hände),
ich wäre gewiss
ein Freund der Natur,
doch so weit nun wieder
ginge meine Liebe
nicht.
Tod
Mir werden fehlen
die windgeborgnen
Stunden
am Fluss,
der Blick hinaus
wird fehlen.
Mir werden fehlen
die blattverbundnen
Brüder
im Wald,
der stille Baum
wird fehlen.
Mir werden fehlen
die sanfterhobnen
Augen
des Bergs,
der Schattenwurf
wird fehlen.
Turniertanz
Die sich,
Automaten gleich,
mit gefrornem
Grinsen
bewegen
über das Parkett –
ich hoffe,
jene Damen
sind nicht
so angespannt
nachts danach
im Bett.
Trendnotiz
Drauf zu achten künftig:
die steigende Tendenz
der Beischlaf-Frequenz
der Frauen um die Fünfzig,
statistisch erwiesen,
wird etlichen Herrn,
den Fünfzig unfern,
das Leben arg vermiesen.
Es sei denn, sie wählen
die ruhige Natur
jüngrer Damen nur,
die Seelen sich zu stählen.
Gespräch
Wie ist dein Lageplan?
Ich habe keinen.
Woher kommst du?
Ich weiß es nicht.
Wem willst du dich offenbaren?
Vielleicht nur dir.
Wohin gehst du?
Das frag ich dich.
Probe
Hört man sich
mit eines andren Stimme,
wird erst gut,
was man gesagt,
wird erst schlecht,
was man gesagt,
wird erst hörbar,
was man niemals sagte
oder fragte.
Meinungsaustausch
Deine Bilder mag ich nicht,
sagt der Literat.
Dein Lied behagt mir nicht,
sagt der Maler.
Dein Roman gefällt mir nicht,
sagt der Komponist.
Fragt der Komponist:
Mein Lied behagt dir nicht?
Fragt der Maler:
Meine Bilder magst du nicht?
Fragt der Literat:
Mein Roman gefällt dir nicht?
Mein Roman gefällt mir nicht,
klagt der Literat.
Meine Bilder mag ich nicht,
klagt der Maler.
Mein Lied behagt mir nicht,
klagt der Komponist.
Irrtümer
Die Perle war zum Greifen nah,
so nah, dass doppelt sie im roten Licht
des Raums erschien. Zu dicht, zu dicht;
zugleich so weit entfernt wie die
Osterinsel und was sich darauf
sinnend-wartend findet: Gestalten,
hutbestülpt. (Selbst die sind nicht,
was sie uns zu zeigen scheinen:
von ihrem Dasein überzeugt
und frei – ist doch der Steinbruch
ihnen nah, so nah, zum Greifen nah.)