Lebkuchenherzen und Weihnachtsengel
Von Toni Lucas
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Buchvorschau
Lebkuchenherzen und Weihnachtsengel - Toni Lucas
Toni Lucas
LEBKUCHENHERZEN
UND
WEIHNACHTSENGEL
Eine weihnachtliche Geschichte
© 2013
édition el!es
www.elles.de
info@elles.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-090-5
Coverfoto:
© Tom – Fotolia.com
Samstag, der dreißigste November. Gedankenverloren hatte Caroline das Kalenderblatt abgerissen und schaute nun ein wenig irritiert auf die schwarze Zahl, die merkwürdig bedrohlich auf dem weißen Untergrund prangte.
Schon wieder war ein Jahr beinahe vorbei.
Schon wieder stand der erste Advent vor der Tür.
Der erste Advent. Das klang seltsam hart, irgendwie trutzig und abweisend, befand Caroline für sich, während sie den Kalenderspruch las: Frauen von heute warten nicht auf das Wunderbare – sie inszenieren ihre Wunder selbst. Katherine Hepburn
Schöner Gedanke, so philosophisch.
Caroline ließ sich auf einen der beiden Stühle ihrer chromblitzenden Küche sinken, zerknüllte das Blatt und starrte aus dem Fenster, hinaus in das trübe Grau dieses letzten Novembertages. Einzelne Schneeflocken kämpften sich wie in Zeitlupe durch dünne Nebelschwaden, während die Sonne blassgelb am Himmel stand.
Ein Wunder wäre es schon, wenn es in diesem Jahr weiße Weihnachten gäbe. Aber darauf hatte sie ja nun wirklich keinen Einfluss. Sie könnte höchstens ihre Fenster mit Kunstschnee aus der Dose dekorieren. Dann hätte sie wenigstens die Illusion von Winter.
Schnell verwarf Caroline diesen Gedanken, erinnerte sie sich doch daran, welche Anstrengungen es sie im vergangenen Jahr gekostet hatte, die Scheiben wieder sauber zu bekommen.
Mit nachdenklicher Geste strich Caroline das zerknüllte Blatt Papier in ihrer Hand glatt und las den Spruch erneut.
Was wäre denn wirklich ein Wunder?
Ein Wunder wäre es zum Beispiel, wenn ich es noch in diesem Jahr schaffen würde, mich nicht nur in eine Frau zu verlieben, sondern mit dieser eine feste Beziehung einzugehen.
Wenn der erste Advent eine Frau wäre, würde ich sie schon hereinlassen, philosophierte Caroline lächelnd vor sich hin.
Es war bereits das zweite Weihnachtsfest, das sie allein verbringen würde. Ihre Beziehung mit Nina war vor reichlich anderthalb Jahren auseinandergegangen. Unspektakulär. Ohne große Streitigkeiten, ohne Schlachten um die Habe, ohne tiefergehende Verletzungen.
Nach fünf Jahren hatte es einfach nicht mehr funktioniert, weder im alltäglichen Zusammenleben noch sexuell. Sie hatten sich das beide eingestehen müssen.
Ihre Beziehung war Caroline erschienen wie ein Luftballon, dem nach und nach die Luft ausging. Es gab keinen großen Knall, aber am Ende war von der ganzen Herrlichkeit nur noch ein schlaffes Etwas übriggeblieben.
Zurückgeblieben war auch ein Gefühl der Traurigkeit. Trauer darüber, einen Menschen, den sie einmal geliebt hatte, verloren zu haben, aber auch Trauer über die Zeit, die sie damit verbracht hatten, Unrettbares zu retten. Verlorene Zeit.
Caroline machte eine Handbewegung, als müsse sie eine lästige Mücke loswerden. Als diese Gedankenmücke nicht schnell genug verschwinden wollte, stand sie rasch auf und warf den Zettel in den Mülleimer.
Dabei betrachtete sie einen Moment lang ihr verschwommenes Spiegelbild im polierten Chrom der Abzugshaube. Freundliche, braune Augen musterten sie aufmerksam, studierten das ebenmäßige Gesicht mit der etwas zu spitzen Nase und dem energischen Kinn.
Erste kleine Fältchen um Augen und Mundwinkel zeigten, dass Caroline in ihrem bisherigen Leben eindeutig mehr gelacht als die Stirn gerunzelt hatte.
Das braune Haar war in einem losen Zopf gebändigt. Auf dem ausgewaschenen Sweatshirt verblasste der der Schriftzug Superwoman.
Caroline hatte das Sweatshirt schon lange wegwerfen wollen. Irgendwie war es ihr peinlich, es zu tragen. Doch es war ein Geschenk einer Kollegin, die sie einmal heftig umschwärmt hatte, mit der sie jedoch nie zusammengekommen war.
Caroline hegte noch immer Gefühle für sie, die sie nicht so recht definieren konnte. Aus diesem Grund brachte sie es auch nicht fertig, das Shirt wegzuwerfen.
Mit einem versonnenen Lächeln löste sich Caroline von ihrem Spiegelbild.
Eigentlich freute sie sich auf Weihnachten. Sie mochte die Atmosphäre auf den Weihnachtsmärkten, diesen Duft nach Zimt, Bratwürsten und Glühwein. Das freundlich blinzelnde Licht der Lichterketten, das ewige Dudeln der Weihnachtslieder. All das schuf eine so heimelige Atmosphäre, dass Caroline sich stets in die Geborgenheit ihrer Kindheit zurückversetzt fühlte.
Sie würde auch ihre Wohnung dekorieren. Nicht so fanatisch, wie das einige ihrer Kollegen taten, die sogar Buch darüber führten, an welcher Stelle welcher Engel, welcher Bergmann und die Schwibbögen genau zu stehen hatten.
Nein, sie würde viele Kerzen und hier und da ein paar Weihnachtsfiguren aufstellen sowie einen Weihnachtsstrauß schmücken. Kurz vor Weihnachten gönnte sie sich möglicherweise auch einen Baum, aber darüber würde sie später entscheiden.
Natürlich würde sie Plätzchen backen. Mindestens vier Sorten. Die meisten davon würden mit Sicherheit wieder in den Mägen ihrer Kollegen landen, aber das war ja nicht das Schlechteste.
Von plötzlichem Elan beflügelt, eilte Caroline in ihr Schlafzimmer, um die große Kiste mit dem Weihnachtsschmuck vom Schrank zu holen.
Gerade als sie die Trittleiter aufstellte, klingelte es.
»Ja, bitte?«, staunte sie in die Gegensprechanlage. Sie hatte weder etwas bestellt, noch erwartete sie eine größere Briefsendung oder gar Besuch.
»Paketdienst«, beschied ihr eine freundliche Männerstimme.
Zögernd drückte Caroline den Summer und machte sich auf, dem Boten entgegenzugehen. Immerhin wohnte sie im dritten Stock dieses ansehnlichen Altbaus, da hielt sie das einfach für eine höfliche Geste.
Auf halber Strecke traf sie dann auch wie gewöhnlich auf den Paketboten, der ihr gutgelaunt aber in Eile ein Päckchen in die Hand drückte und sich das quittieren ließ.
Als er freundlich grüßend verschwand, hinterließ er kleine schmutzig-braune Pfützen auf den Stufen.
Neugierig begutachtete Caroline das gelbe Päckchen in ihrer Hand, von dessen Deckel ihr ein Weihnachtsmann fröhlich zuwinkte.
Milla Borowski, Rebhuhnweg 35, 06120 Halle stand da in seltsam unvertrauter Schrift.
Milla Borowski! Als Caroline diesen Namen las, wurde ihr so schwindelig, dass sie nach dem Treppengeländer greifen und sich auf die Stufen setzten musste.
Milla Borowski. Wie lange hatte sie diesen Namen schon nicht mehr gehört. Wie lange hatte sie schon nicht mehr an sie gedacht?
»Alles in Ordnung, Frau Stein?«
Der junge Anwalt aus dem vierten Stock wollte eigentlich an ihr vorbei die Treppen hinunter. Er blieb jedoch stehen und musterte sie besorgt.
»Ja, klar. Alles gut. Hat Sie noch nie eine Überraschung umgehauen?«, erkundigte sich Carolin mit einem kleinen Lächeln, das den jungen Mann zu verwirren schien.
»Doch, doch, natürlich«, stotterte er überlegend, gab dann jedoch zu: »Allerdings noch nie buchstäblich.«
Caroline rappelte sich hoch, fühlte sich jedoch nicht in der Verfassung, sich tiefgründiger mit ihm darüber zu unterhalten. Äußerst dringend musste sie wissen, was in dem Päckchen war. »Tja, das war heute auch meine Premiere. War gar nicht so schlimm. Sie sollten das ruhig mal versuchen.« Sie lächelte ihn charmant an, klemmte sich das Päckchen unter den Arm und eilte die Treppe nach oben, während der Anwalt ihr verblüfft nachsah.
~*~*~*~
Zurück in der Wohnung warf Caroline die Tür mit einem Fußtritt ins Schloss, dass es nur so krachte. Dabei starrte sie noch immer gespannt auf das Päckchen, als ob sie nicht sicher sei, ob es Gutes oder Schlechtes enthielt.
Währenddessen überschlugen sich ihre Gedanken nur so.
Milla Borowski. Wie hatte sie diesen Namen nur vergessen können! Wie zum Teufel konnte man die Frau vergessen, die man zum ersten Mal geküsst hatte?
Caroline eilte ins Wohnzimmer, legte das gelbe Päckchen hastig auf den Couchtisch, um sich dann in die hinterste Ecke des großzügig geschnittenen Raumes hin zu einer großen, hölzernen Truhe zu begeben.
Ihre Erinnerungstruhe.
Bevor sie den Geist aus der Flasche, respektive das Geheimnis aus dem Päckchen ließ, musste sie unbedingt sichergehen, dass Milla wirklich die Frau war, an die sie sich erinnerte.
Lächelnd strich Caroline über das dunkle Holz der Truhe. Wie lange hatte sie die schon nicht mehr geöffnet? Sie enthielt all die kleinen und größeren Dinge, die Caroline niemals wegwerfen würde.
Vorsichtig drehte sie den altertümlichen Schlüssel in dem großen, handgeschmiedeten Schloss. Dann hob sie den schweren Deckel an, der mit einem leisen Quietschen nachgab.
Da lag sie schon vor ihr, ihre Vergangenheit. Bunt durcheinandergewürfelt fanden sich alte Ausweise, Medaillen, Urkunden, Milchzähne im Holzkästchen, ein alter Bär, halbblind und so abgeliebt, dass er kaum mehr Fell besaß, Briefumschläge mit vergilbten Fotos, zwei Handpuppen, eine handgeschnitzte Schleuder, ein Stoffsäckchen mit blanken Kieselsteinen, ein Glas mit Ostseemuscheln, ein abgewetzter Radiergummi und vieles mehr.
Eine Schatztruhe, die den dumpfen Geruch nach trockenem Holz und altem Papier verströmte, ein staubiges Portal in die Vergangenheit. Genau das, was Caroline jetzt brauchte.
Vorsichtig tauchte sie ein in dieses Universum des Erinnerns und zauberte schließlich ein altes Fotoalbum hervor. Es hatte einen dunkelgrünen Einband, auf dem in Silber die Zahl 1992-1993 prangte. Zwischen den Seiten lugte Seidenpapier hervor, lose Fotos drohten herauszurutschen.
Beinahe andächtig öffnete Caroline das Album und musste unwillkürlich lächeln. Auf der ersten Seite stand in sichtlich bemühter Schönschrift: Meine letzten beiden Schuljahre – Das Abitur! Darunter klebte ein Foto ihres Abiturkurses. Achtzehn junge Leute in seltsam unmoderner Kleidung, mit Frisuren,