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Der Begierde Preis
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eBook323 Seiten4 Stunden

Der Begierde Preis

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Über dieses E-Book

Die schillernde Lokalprominente Clarissa von Eckberg ist ermordet worden, und Kriminalhauptkommissarin Juliane Franke findet sich gleich zu Beginn der Ermittlungen in einem bizarren Milieu wieder: Clarissa von Eckberg war eine Frau mit vielen Geliebten und Geldnöten, die zusammen mit ihrer Lebenspartnerin Lebenskunstseminare und Wellnesskurse abgehalten hat, in denen reichlich Champagner floss und die Massagen schnell intim wurden. Die Verdächtigen stapeln sich, die Lokalpresse fordert schnelle Ergebnisse, und die attraktive Leiterin des Kriminallabors möchte auch ab und zu verwöhnt werden ...
SpracheDeutsch
Herausgeberédition eles
Erscheinungsdatum5. Apr. 2016
ISBN9783956091704
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    Buchvorschau

    Der Begierde Preis - Toni Lucas

    Fotolia.com

    Sonntag

    Als das Telefon klingelte, spürte Juliane, wie Hennis kräftiger nackter Körper neben ihr erschrocken zusammenzuckte. Sie hörte ein unwirsches, halblaut gezischtes »Schhhh . . .« und schloss aus Hennis Bewegung, dass diese in der Dunkelheit nach Brille und Handy tastete.

    Gähnend öffnete Juliane die Augen. Die Dunkelheit um sie herum schien sie beide wie eine schwarze Samtdecke einzuhüllen. Nur von dem großen Giebelfenster fiel ein matter Lichtschimmer in den Raum.

    Juliane blinzelte angestrengt an die Deckenschräge, wohin Hennis Wecker ein leuchtend rotes 02:37 Uhr projizierte.

    »Das ist jetzt nicht wahr!« Murrend kuschelte sie sich enger an Henni und brummelte weiter: »Es ist Sonntag. Du hast frei. Und ich sowieso.«

    Davon unbeeindruckt meldete sich Henni mit angenehm dunkler, klarer Stimme: »Reuters, hallo!«

    Aus dem Hörer drang leises Gemurmel.

    Henni nickte verstehend und seufzte schließlich: »Ist gut. Bin gleich da. Gib mir ein paar Minuten für eine Zahnbürste und einen Tee.«

    »Boah . . . Ich träum das doch.« Ungehalten zog sich Juliane die Bettdecke bis über die Schulter, umschlang Henni fest mit ihrem rechten Bein und atmete tief durch. Sie roch den vertrauten Duft von frisch gewaschener Bettwäsche und Sex. Viel Sex, heftigem Sex, Sex, der noch nicht länger als eine Stunde her war. Nicht, dass Juliane Letzteres riechen konnte, aber erinnern konnte sie sich recht gut. Bei dem Gedanken daran musste sie kurz lächeln.

    Dann maulte sie: »Sag bloß, du musst zum Dienst?« Das letzte Wort ging in einem erneuten, herzhaften Gähnen unter.

    »Ja, min Deern. So sieht dat us«, gab Henni ebenfalls gähnend zur Antwort und küsste Juliane auf die Stirn. Dann knipste sie die Nachttischlampe an. »Ich muss nach Ahrenshoop. Wohl ein Unfall mit Todesfolge. Du kennst ja das Procedere. Schlaf noch ein bisschen.« Wieder gab es einen Kuss auf die Stirn, gefolgt von Hennis ironischem Hinweis: »Tja, loslassen müsstest du mich schon auch noch.«

    »Quatsch, bleib doch einfach hier. Tot ist tot. Der rennt doch nicht mehr weg.« Juliane griff noch fester zu.

    »Scherzkeks«, kam es zurück, begleitet von einem Schmunzeln. »Im Übrigen ist der der eine die, und ich habe Bereitschaft und nicht frei, wie du . . .« Ehe Henni den Satz beenden konnte, klingelte erneut das Telefon. Diesmal war es Julianes.

    Diese zog sich die Bettdecke gänzlich über den Kopf und stieß ein dumpfes Stöhnen aus. Dann erschien ihr nackter Arm, tastete nach dem Telefon, und schließlich tauchte Julianes Kopf ebenfalls auf.

    »Franke. Wer stört?«, knurrte sie unwirsch in ihr Handy. »Oh, Kriminalrat Matthiesen!« Mit einem Ruck saß sie senkrecht im Bett. »Entschuldigung, aber . . . mmh, ja, schon klar. Aber wieso macht das denn nicht Stralsund? Das Kommissariat in Barth könnte doch . . . Ja, versteh schon. Bin gleich dort. Halbe Stunde vielleicht.«

    Henni, die dem Gespräch aufmerksam zugehört hatte, grinste breit, und ihre hellblauen Augen funkelten belustigt durch die Gläser ihrer eckigen, dunkelblauen Brille. »Na, auch den Jackpot geknackt?«, feixte sie und fuhr sich durch ihr stoppelkurzes blondes Haar.

    »Mmmh«, knurrte Juliane. »Ahrenshoop. War wohl doch kein Unfall – sagt zumindest Madame le Professeur

    »Na, wenn es Frau Professor Jahnke sagt, dann wird es wohl stimmen. Und wieso musst du dorthin? Du hast doch frei.« Henni schlug die Bettdecke zurück und schüttelte ihr Kissen auf, wobei ihr Blick fragend auf Juliane ruhte.

    Von dieser kam einen Augenblick lang nichts. Stattdessen hing ihr Blick an Hennis nacktem Körper. Mittelgroß, kräftig gebaut, mit fraulichen Kurven und recht üppigen Brüsten machte Henni eine ausgesprochen gute Figur. Kein Mensch nahm ihr ab, dass sie bereits zweiundvierzig war. Unter ihrer fraulichen Weichheit verbargen sich jedoch mehr trainierte Muskeln, als Juliane je haben würde, wie sie sich schon mehrfach neidlos eingestanden hatte. Überhaupt – Henni war alles, was man sich von einer Frau wünschen konnte: attraktiv, intelligent, witzig, charmant, handwerklich begabt. Weshalb diese Frau ausgerechnet mit ihr zusammen war, würde ihr wohl immer ein Rätsel bleiben. Juliane seufzte.

    »Jule? Alles gut bei dir?« Henni schlüpfte in ihre Hausschuhe – zwei kuschelige Schafe mit schwarzen Knopfaugen und brauner Nase, deren Plüschohren abstanden – und sah Juliane erneut fragend an: »Warum musst du gleich noch mal nach Ahrenshoop?«

    Juliane gab sich einen Ruck und blickte Henni in die Augen. »Ach so, ja, also eigentlich sind die aus Barth zuständig, aber die haben gerade eine Grippewelle. Und mein lieber Chef, der Herr Kriminalrat Matthiesen, meint, ich würde doch gleich um die Ecke wohnen.«

    »Der gute Herr Matthiesen.« Henni griente. »Was ist denn aber mit den anderen aus deiner Abteilung? Sollte Ehlers nicht Dienst haben?«

    »Sollte, aber bei seiner Frau haben die Wehen eingesetzt. Sie ist erst im siebenten Monat. Und Brandt ist noch an der Autoschieberbande dran. Der hat wirklich zu tun. Das verstehe ich schon. Außerdem«, Juliane machte eine vage Handbewegung, »Einbruch und eine Tote – das wird sich sicherlich schnell klären lassen. Matthiesen sagte was von massenhaften Spuren. Den Dilettanten fange ich doch im Handumdrehen.« Sie schwang die Beine nun ebenfalls aus dem Bett.

    »Na prima. Warum ich da noch hinfahre, wenn Matthiesen das schon alles weiß«, knurrte Henni, nun schon auf dem Weg zur Tür. »Ich gehe unten ins Bad. Willst du dann auch einen Tee?«

    Juliane schüttelte energisch ihre halblangen dunklen Locken. »Bloß nicht. Dein Gebräu bringt mich noch mal um. Ich brauche einen harmlosen Kaffee.«

    Zehn Minuten später standen die beiden Frauen in der gemütlichen kleinen Küche und schlürften Tee und Kaffee aus großen Pötten. Juliane trug Turnschuhe zu ausgeblichenen Jeans, dazu ein rotes Sweatshirt, das schon bessere Tage gesehen hatte. Sie hatte bereits ihren dunkelgrünen Parka übergeworfen und sich einen rot-hellbraun karierten Schal nachlässig um den Hals gewickelt. Die Nächte waren Anfang April noch ziemlich kühl.

    Ihr eigenes Desinteresse für Kleidung und Mode stand im krassen Gegensatz zu Hennis ausgesuchtem Geschmack. Das wurde Juliane wieder einmal klar, als sie Henni musterte, während sie ihren Kaffee schlürfte. Henni wirkte wie einem Modekatalog für die norddeutsche Powerfrau entsprungen. Zwar trug sie ebenfalls helle Jeans, doch diese waren zweifelsfrei sündhaft teuer gewesen. Aus ihrem dunkelblauen Pullover lugte ein schneeweißer Hemdkragen hervor. Außerdem hatte sie sich ein rotes, mit weißen Ankermotiven bedrucktes Tuch um den Hals geschlungen. An den Füßen trug sie kniehohe Lederstiefel mit großen Schnallen an den Seiten. Ihr kurzes blondes Haar lag, als hätte sie jedes einzeln aufgereiht. Da stand nichts ab oder wagte sich gar zu wirbeln. Wie Henni das in der kurzen Zeit geschafft hatte, blieb wohl auch eines der ungeklärten Geheimnisse der Menschheit.

    Verlegen fuhr sich Juliane durch ihr eigenes Haargestrüpp, das sich wieder einmal erfolgreich gegen die Bürste gewehrt hatte. Eigentlich fand sie Hennis lässig-eleganten Look einfach zum Niederknien. Doch zum Anhimmeln war sie gerade zu müde.

    Sie stellte ihren Schietwetter-Pott, in dem sogar der Flutstand eingezeichnet war, noch halbvoll in die Spüle. Hennis Kapitän gesellte sich dazu.

    »Fährst du mit mir, oder nimmst du deinen?«, erkundigte sich Henni wie nebenher.

    Juliane schüttelte den Kopf. »Ich nehme meinen. Ich muss später noch ins Büro und vielleicht noch mal in meiner Wohnung vorbei.«

    »Okay. Wenn du hier wohnen würdest, hättest du es einfacher, aber . . .«

    »Nicht jetzt, Henni!«, fuhr Juliane ihr unwirsch dazwischen, besann sich aber und ergänzte mit einem schwachen Lächeln: »Ich freue mich wirklich über dein Angebot. Und ich überlege es mir. Bestimmt. Lass mir einfach Zeit.« Ihre grünen Augen sahen Henni so flehentlich an, dass diese wortlos nickte.

    Weiterhin schweigend traten sie hinaus in die feuchte Kühle der Aprilnacht. Henni warf einen prüfenden Blick in den Kofferraum ihres knallroten Jeep Renegade, ob sie auch wirklich alle notwendigen Utensilien dabeihatte. Zufrieden brummend drehte sie sich dann zu Juliane um, gab ihr einen kleinen Kuss und meinte: »Bis nachher. Soll ich Bescheid sagen, dass du gleich kommst?«

    »Nee, lass mal. Das merken sie schon auch so.« Juliane war es noch immer ein wenig unangenehm, wenn ihre Kollegen mitbekamen, dass Henni und sie ein Paar waren. Gerade an Tatorten. Wobei es natürlich mehr als praktisch war, einen heißen Draht zur Kriminaltechnik zu haben. Aber gerade das hatte ihr der eine oder andere schon mal spöttisch unter die Nase gerieben, wenn sie ihre Ergebnisse zufällig schneller hatte als ein Kollege. Auf Sprüche wie »Na, wieder mit der KT im Bett gewesen, um an die Ergebnisse zu kommen?« konnte sie gut verzichten.

    Während Henni in ihrem Jeep die ungepflasterte Auffahrt von ihrem reetgedeckten Bauernhaus zur Straße hinaufjagte, dass die Steine nur so zur Seite spritzten, lenkte Juliane ihren kleinen, silbernen Golf vorsichtig hinterher. Er hatte schließlich schon genug Beulen.

    In Ahrenshoop war die angegebene Adresse relativ leicht zu finden. Die Villa Seeblick stand auf einem Hügel hinter der Düne unweit des Ortseinganges. Vor ihren Toren herrschte bereits hektisches Gewimmel – zumindest für diese frühe Morgenstunde.

    Juliane stellte ihren Golf ein wenig abseits ab. Dann blieb sie stehen, um das vertraute, aber doch merkwürdig surreal erscheinende Gewusel zu betrachten. Das Blaulicht zweier geparkter Polizeiwagen sandte beharrlich seinen flackernden Schein in die Dunkelheit. Eine Gruppe von etwa zehn Neugierigen drängte sich am Absperrband. Einige der Gaffer trugen Bademäntel über ihren Pyjamas. Offensichtlich hatte sie das Blaulicht wie Nachtfalter aus den Betten gelockt.

    Juliane sah Hennis Jeep mit geöffneter Heckklappe innerhalb der Absperrung stehen, daneben zwei weitere Fahrzeuge der Kriminaltechnik. Drei Gestalten in den unvermeidlichen weißen Kapuzenoveralls, auf deren Rücken bedrohlich schwarz der Schriftzug POLIZEI prangte, schleppten Koffer und Gerätschaften die Toreinfahrt hinein. Juliane versuchte auszumachen, welcher der drei Aliens Henni war, doch es gelang ihr nicht.

    »Juliane! Gut, dass du da bist. Ich habe schon gewartet.« Polizeihauptmeister Hinnerk Clasen, ein Mittvierziger mit gutmütigem Lächeln und einer Uniform, die stets so exakt saß, dass es Juliane beinahe Unbehagen bereitete, war unbemerkt an sie herangetreten.

    »Hinnerk, schön, dich zu sehen«, begrüßte sie den hünenhaften Mann mit einem Lächeln und ehrlicher Freude. Sie hatte mit Hinnerk schon bei einigen Fällen zusammengearbeitet. Dabei hatte er sich als kompetent und vertrauenswürdig herausgestellt, etwas, das sie nicht über alle Kollegen sagen konnte. Sie schielte auf den Notizblock, den er in den Händen hielt. »Hast du schon was für mich?«

    »Klar doch. Also, die Tote heißt Clarissa von Eckberg . . .«

    Juliane pfiff leise durch die Zähne. »Auch das noch. Blaues Blut zum Blaulicht. Jetzt wird mir mal wieder jeder die Hölle heißmachen, damit die vornehmen Kreise hier nicht unnötig beunruhigt werden.« Sie verzog verächtlich die Mundwinkel.

    »Du musst mich schon ausreden lassen«, beschwerte sich Hinnerk. »Eigentlich heißt sie Karla Eggert. Dreiundvierzig. Sie hat die Villa Seeblick vor etwa zehn Jahren gemeinsam mit einer Geschäftspartnerin gekauft – Letztere hat sie übrigens auch gefunden. Seitdem veranstalten sie hier Lebenskunst-Seminare.« Beim letzten Wort schaute Hinnerk Juliane prüfend an, so als sei er sich nicht ganz sicher, ob ausgerechnet sie etwas mit diesem Begriff anfangen könne.

    Doch Juliane verzog keine Miene, machte lediglich: »Aha.«

    Dozierend fuhr Hinnerk fort: »Du weißt schon – Ayurveda, Tantra, Schwitzhüttenbesuche, Baumumarmen und so was.«

    »Baumumarmen?« Juliane zog die Augenbraue hoch. »Du veralberst mich doch.«

    »Nein, gar nicht. Steht in einem ihrer Flyer. Meine Frau wollte mal einen Ayurvedakurs belegen. Hatte sich dann aber erledigt, als sie die Preise gesehen hat.« Selbst im Halbdunkel konnte Juliane sein erleichtertes Lächeln sehen.

    »Weißt du den Namen ihrer Geschäftspartnerin?«, erkundigte sie sich beiläufig.

    Hinnerk nickte. »Sicher.« Er blätterte in seinem Block. »Constanze Spangenberg. Das ist hier eine ganz alte Familie. Die findest du übrigens sogar drüben auf den Grabsteinen der alten Schifferkirche.«

    »Was du so alles weißt . . .« Juliane schüttelte ehrlich verwundert den Kopf. »Gehen wir rein?« Sie machte sich daran, unter der Absperrung durchzukriechen, die Hinnerk ihr galant anhob. Dann stutzte sie. »Wer ist das denn?« Sie wies auf eine junge Frau in Polizeiuniform, die plötzlich winkend auf sie zugestürmt kam.

    »Oh . . .« Hinnerk schien etwas peinlich berührt. »Das ist Frauke Ott, also Polizeimeisterin Ott. Sie hat noch ein bisschen Welpenschutz.« Verlegen kratzte er sich an seinem perfekt rasierten Kinn.

    Frauke Ott blieb außer Atem vor ihnen stehen und sprudelte hervor: »Polizeihauptmeister Clasen, ich habe die Namen aller Schaulustigen.« Sie wedelte mit ihrem Block und wirkte ziemlich aufgeregt. »Soll ich jetzt draußen bleiben oder mit hineingehen?«

    »Ihre erste Tote?«, erkundigte sich Juliane ein wenig amüsiert.

    »Ja«, platzte es aus Frauke Ott heraus, wobei sie so heftig nickte, dass ihr die Schirmmütze über die dunkelbraunen Augen rutschte. Als sie sie verlegen zurückschob, konnte Juliane sehen, dass dunkle Röte ihr Gesicht überzog.

    Dann aber schien Frauke einzufallen, dass sie einer Zivilperson wohl keine Rechenschaft schuldig war. Sie legte die Stirn in Falten und hob ein wenig unwirsch an: »Aber das . . .«

    »Frauke«, schaltete sich Hinnerk ein, ehe sie weiterreden konnte, »das ist Kriminalhauptkommissarin Franke. Sie wird jetzt übernehmen. Du bleibst hier und passt auf die Leute auf. Klar?«

    »Klar.« Fraukes Begeisterung hielt sich hörbar in Grenzen. Enttäuscht trollte sie sich zurück auf ihren Posten.

    Juliane durchschritt die große Toreinfahrt beinahe mit Ehrfurcht. Sie registrierte die Gegensprechanlage mit Kamera, die in einen der beiden wuchtigen weißen Torpfeiler eingelassen war. Auch bemerkte sie den Stacheldraht auf der weißen Mauer, die das Anwesen umgab.

    Die Auffahrt zur Villa im italienischen Stil oben auf dem Hügel hatte etwas Hochherrschaftliches. Links und rechts des Weges wechselten sich sorgfältig gestutzte Buchsbäume in Kugelform mit beinahe schon monströs wirkenden Marmorschalen ab. Darin blühten offenbar bereits erste Stiefmütterchen, doch das war in der Dunkelheit nur zu erahnen. Das Knirschen der kleinen weißen Kieselsteine unter Julianes Turnschuhen und Hinnerks Stiefeln hallte gespenstisch durch die Nacht.

    Von der Auffahrt führte eine breite Freitreppe hinauf zu dem säulenumstandenen Eingang. Die Tür stand offen. Ein weiterer Streifenpolizist, den Juliane nicht kannte, hielt Wache. Sie hielt ihm ihren Dienstausweis vor die Nase.

    »KHK Franke. Moin, moin.«

    Er legte grüßend die Hand an die Mütze und fragte dienstbeflissen: »Brauchen Sie Handschuhe?«

    Juliane wehrte freundlich lächelnd ab: »Danke, hab schon«, und zog ein Paar aus der Innentasche ihres Parkas. Dann wandte sie sich an Hinnerk. »Wo ist sie?«

    »Drüben im Wohnzimmer. Ich bring dich hin.«

    »Das hört sich ja nach einer längeren Reise an«, griente Juliane.

    »Wart’s ab«, orakelte Hinnerk. »Ist drüben im Ostflügel.«

    »Ah, im Ostflügel, verstehe.« Juliane bewegte unbehaglich den Kopf hin und her. Das hier war so gar kein vertrautes Pflaster für sie.

    Sie durchquerten die große Eingangshalle, von der eine weitere breite Treppe nach oben führte. Rechts davon erstreckte sich ein geräumiger Gang in den Ostflügel, wo sie schließlich zum Wohnzimmer kamen.

    Das heißt, Wohnzimmer war ein ziemlich prosaischer Ausdruck für das, was Juliane nun vor sich sah: einen hohen Saal über zwei Etagen mit Kaminecke, Sitzecke und Treppe hinauf zum Schlafzimmer im zweiten Stock, von wo aus man von einer Art Balkon das gesamte Zimmer überblicken konnte. Durch die riesige Fensterfront dämmerte langsam der Morgen herein. Man konnte sogar schon einzelne Gischtkämme des Meeres sehen. Juliane war durchaus beeindruckt.

    Doch das währte nur kurz. Ihre Aufmerksamkeit wurde mit professioneller Routine von den im Raum verteilten Gestalten in Weiß angezogen. Diese wuselten um ein Epizentrum herum, das sich offensichtlich nahe dem Kamin befand.

    Juliane durchmaß den Raum – und stand vor der Toten. Clarissa von Eckbergs Körper lag seltsam verdreht gegen einen schweren, marmornen Couchtisch gelehnt. Der Kopf hing seitlich nach links unten geneigt. Das hellblonde Haar war blutdurchdrungen. Einzelne Strähnen hingen beinahe bis zum Boden hinab. Die Arme lagen weit abgestreckt links und rechts vom Körper. Das rechte Bein ragte nach vorn, und an der Zehenspitze baumelte ein Schuh an einem einzelnen Riemen. Er hatte den wohl höchsten Bleistiftabsatz, der Juliane je untergekommen war. Der andere Schuh lag unweit des linken Beines, das leicht angewinkelt war. Die Tote trug ein weißes, togaähnliches Gewand, das Juliane kurz an eine verunglückte Taube denken ließ. Sie holte tief Luft.

    Über der Toten kniete Frau Professor C. Jahnke, ihres Zeichens Rechtsmedizinerin am Rostocker Institut für Rechtsmedizin. Die Endfünfzigerin lehrte hauptsächlich an der Universität, ließ es sich jedoch nicht nehmen, regelmäßig an Tatorten aufzutauchen. Realitätenschau nannte sie das gelegentlich.

    »Ah, Juliane! Sie hat man also heute auch aus dem Bett geholt.« Frau Professor Jahnke musterte Juliane mit wachem Blick, als wolle sie überprüfen, ob diese schon aufnahmefähig sei. Juliane war nicht überrascht, dass Professor Jahnke sie mit Vornamen ansprach. Sie war dafür bekannt, bei anderen gern auf jegliche Titel und Nachnamen zu verzichten. Wehe jedoch dem, der selbiges bei ihr wagte. Es sollte schon Kollegen gegeben haben, die daraufhin wochenlang auf ihre Obduktionsergebnisse hatten warten müssen.

    »Moin, moin, Frau Professor. Sieht ja gar nicht gut aus. Wie lange liegt sie denn wohl schon da?«

    »Nun . . .« Professor Jahnkes feingeschnittenes Gesicht verzog sich zu einem süffisanten Lächeln. »Ich bin zwar nicht das Orakel von Delphi, aber der Lebertemperatur nach zu urteilen, ist sie wahrscheinlich seit etwa sechs Stunden tot.«

    »Okay. Also starb sie gegen zehn?«, rutschte es Juliane heraus.

    Professor Jahnke wiegte vage den Kopf. »Wahrscheinlich zwischen neun und zehn. Sehen Sie«, sie zeigte mit dem behandschuhten Zeigefinger auf die Handgelenke der Toten, »mit irgendwem hatte sie wohl eine Auseinandersetzung. Jemand hat sie dort und dort gepackt.«

    »Und dann geschubst? Sie ist ausgerutscht und auf den Tisch geknallt.« Juliane beugte sich nun ebenfalls über die Tote. »Genickbruch?«

    Professor Jahnke nickte. »Vermutlich.«

    »Könnte es nicht auch ein Unfall gewesen sein? Die beiden streiten sich, Frau von Eckberg rutscht aus – bei diesen Schuhen würde mich das nicht wundern –, der andere lässt sie vor Schreck los, und zack, Exitus?«

    »Also, meine liebe Juliane. Spekulieren mag ja Ihr Metier sein. Meins nicht. Schauen Sie mal hier.« Professor Jahnke nahm dem Kopf der Toten vorsichtig in beide Hände und hob ihn leicht an. »Was sehen Sie?«

    »Würgemale?« Juliane fühlte sich wie eine Schülerin in der Prüfung.

    »Genau. Und hier?« Frau Professor hob ein Augenlid der Toten.

    »Petechiale Blutungen?«

    Ein Nicken gab ihr recht.

    »Also hat sie jemand erwürgt und dann gegen den Tisch geworfen? Seltsam. Eigentlich legen die Täter ihre Opfer danach einfach ab. Weshalb diese Wut? Könnte der Täter auch eine Frau gewesen sein, so vom Kraftaufwand her?« Juliane sah Frau Professor Jahnke fragend an.

    »Möglich, aber eher ungewöhnlich. Außerdem habe ich da noch etwas für Sie.« Professor Jahnke legte der Toten den Kopf wieder sanft auf den Boden. Dann deutete sie auf den Hinterkopf. »Sehen Sie das hier? Hier hat ihr jemand einen Hieb verpasst. Irgendwas Schweres, Scharfkantiges.«

    »Drei mögliche Todesursachen? Das hatte ich aber lange nicht. Muss ja ein Heidenlärm gewesen sein.« Juliane rieb sich nachdenklich mit dem Zeigefinger den Nasenrücken. »Sonst noch was?«

    »Das war’s fürs Erste. Den Rest erfahren wir wie immer erst im Sektionsaal.« Die Rechtsmedizinerin erhob sich mit verblüffender Behändigkeit und streifte sich die Kapuze ab. Als sie stand, wurde Juliane zum wiederholten Male bewusst, wie zierlich diese taffe Frau eigentlich war. Ihr aschblondes Haar war im Nacken zu einem dicken, straffen Zopf gebunden. Der durchdringende Blick ihrer grau-grünen Augen zeugte von einem unbändig starken Willen, dem man besser nicht in die Quere kam.

    »Danke Ihnen«, beeilte sich Juliane deshalb zu sagen. »Ich warte dann auf Ihren Bericht.«

    Als Professor Jahnke ihre Sachen zusammenpackte, kamen die Kollegen mit der Bahre für den Abtransport der Toten herein. Rasch machte sich Juliane auf, um sich bei Henni nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Sie fand sie oben im Schlafzimmer, wo sie gerade dabei war, Fenster und Türklinken abzupinseln.

    »Und? Habt ihr schon was?«, fragte Juliane, wohl einen Tick zu laut. Erschrocken fuhr Henni herum.

    »Weib! Musst du dich so anschleichen? Sei froh, dass ich hier nichts kaputtgemacht habe.« Sie deutete mit dem Pinsel auf einen gerade frisch abgeklebten Fingerabdruck.

    »’Tschuldige. Aber ernsthaft, habt ihr irgendwas gefunden, womit die Tote einen kräftigen Schlag abbekommen haben könnte?«

    Henni schüttelte den Kopf, was in ihrer Schneemannmontur eher merkwürdig aussah und noch dazu raschelte. »Auf dem Couchtisch stand eine Kanne und eine Tasse Tee. Roch merkwürdig. Wohl irgendein Kräutermix. Sonst nichts. Nur jede Menge Fingerabdrücke.«

    »Und hier oben?« Juliane wies auf das karg eingerichtete Schlafzimmer, dessen Ausstattung sie erst jetzt richtig wahrnahm. Im vorderen Teil fand sich lediglich ein riesiges, rundes Bett, an dessen Seiten gläserne Nachttische standen. Zwei der Kopfkissen war schwarz bezogen, zwei weiß. Der obere Teil des Lakens war ebenfalls schwarz, der untere weiß. Der Bettbezug selbst war grau-weiß gestreift.

    »Wow«, entfuhr es Juliane, »muss ja ein Vermögen gekostet haben.«

    »Mhm, so um die fünftausend. Das ist ein Shogazi. Damit hatte ich auch mal geliebäugelt.«

    »Das ist nicht dein Ernst! Wieso hast du Abstand genommen?« Juliane legte den Kopf schief wie ein neugieriger Vogel. »Am Preis hat es ja sicherlich nicht gelegen.« Es klang kein bisschen ironisch.

    »Nein, aber es hätte nicht in mein Schlafzimmer gepasst. Wir hätten dann immer drumherum krauchen müssen. Außerdem hatte ich Bedenken, dass ich nachts die Orientierung verliere. Weißt du noch, damals, als wir in diesem Turmzimmer das runde Bett mit Baldachin hatten? Wie hieß die Burg gleich?« Henni zog nachdenklich die Nase kraus und schmunzelte spitzbübisch.

    »Henni!«, rügte Juliane ein wenig peinlich berührt. Sie konnte sich ebenfalls sehr gut erinnern. Aber doch nicht hier! An einem Tatort! Sie räusperte sich. »Sagst du mir vielleicht was zur Spurenlage?«

    »Klar doch. Also, Spermaspuren gibt es schon mal keine. Dafür aber – Überraschung, Überraschung . . .«

    »Vaginalflüssigkeit?«, fiel ihr Juliane ins Wort.

    »Genau.« Erstaunt hob Henni eine Augenbraue. »Woher weißt du das?«

    »Ist keine große Kunst, wenn man bedenkt, dass sie eine Geschäftspartnerin hat. Irgendwas Interessantes in den Schränken?« Juliane deutete mit dem Kinn auf die weißen Sideboards an den Wänden.

    »Nein, meist nur das Übliche. Unterwäsche et cetera. Die Garderobe der beiden ist dort drüben im Ankleidezimmer. Da sind die anderen gerade dabei.«

    »Und was ist das Unübliche?«, hakte Juliane interessiert nach.

    »Na, ich würde nicht sagen unüblich.« Henni ging hinüber zu einem Sideboard und zog eine der Schubladen auf.

    »Oh! Das. Verstehe. Nein, das ist wirklich nicht so unüblich.« Fast ärgerte sich Juliane, dass sie rot geworden war. Dass sich in der Schublade ein paar Sextoys, Gleitgel und ein Harness befanden, darauf hätte sie auch selbst kommen können.

    Unschlüssig drehte sie sich um ihre eigene Achse und ließ ihre Blicke noch einmal durch das Zimmer schweifen. »Und sonst gibt es nichts?«

    »Ich weiß ja nicht, was du erwartet hast«, gab Henni zurück, »aber nein, gar nichts. Wenn man davon absieht, dass diese Wohnung ein klitzekleines bisschen zu groß und so gemütlich wie eine Bahnhofshalle ist, gibt es hier bisher nichts Auffälliges. Aber das will ja nichts heißen.«

    Juliane nickte gedankenverloren. Wie gern hätte sie einen simplen Raubmord gehabt, mit einem Täter, der so trottelig gewesen war, sequenzenweise DNS zu hinterlassen und seine Fingerabdrücke auf jede erdenkliche Türklinke zu stempeln. »Ich geh dann mal wieder nach unten.«

    Henni brummte nur kurz zustimmend und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

    Unten im Wohnzimmer hatte das geschäftige Treiben der weißen Overalls ein Ende gefunden. Vermutlich waren sie nun alle im Rest des Ostflügels verteilt. Lediglich Hinnerk Clasen stand wartend neben der Tür.

    Juliane ging auf ihn zu. »Hinnerk, weißt du, wo Constanze Spangenberg ist? Ich würde ihr doch gern schon mal die eine oder andere Frage stellen.«

    »Sie ist in einem der Gästezimmer im Westflügel. Muss wohl ziemlich durch den Wind sein.« Hinnerk Clasen drehte seine Schirmmütze zwischen den Händen. »Ist

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