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Im Visier des Stalkers
Im Visier des Stalkers
Im Visier des Stalkers
eBook383 Seiten5 Stunden

Im Visier des Stalkers

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Über dieses E-Book

"Vermisst du mich? Ich weiß, dass deine Eltern nicht zu Hause sind. Soll ich mal vorbeikommen?", flüstert die Stimme am Telefon. Erst glaubt Leonie, ein Mitschüler würde sich einen Scherz erlauben. Doch immer häufiger klingelt ihr Handy und immer heftiger bedroht sie der Fremde. Rund um die Uhr scheint er sie zu beobachten, denn er weiß stets, wo sie ist. Die Angst macht Leonie krank, aber was soll sie tun? Mit ihren Eltern sprechen? Die haben schon genug Sorgen mit ihrer jüngeren Schwester. Ihr Freund Jeroen rät ihr, den Stalker einfach zu ignorieren. Und Leonie hört auf ihn – bis der Unbekannte eines Tages droht, ihre Schwester umzubringen …
 
In diesem nervenaufreibenden Jugendroman verknüpft Helen Vreeswijk wieder einmal ihre eigenen Erfahrungen bei der niederländischen Kriminalpolizei mit einem kaum greifbaren, und doch erschreckend nahen Thema: Stalking. In diesem Thriller wird die anonyme Bedrohung plötzlich zur Gefahr und Angst zu einem ständigen Begleiter
SpracheDeutsch
HerausgeberLoewe Verlag
Erscheinungsdatum11. März 2019
ISBN9783732013357
Im Visier des Stalkers

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    Buchvorschau

    Im Visier des Stalkers - Helen Vreeswijk

    Helen Vreeswijk

    Im Visier

    des Stalkers

    Übersetzung aus dem Niederländischen

    von Sandra Knuffinke und Jessika Komina

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel 1 – Langsam setzte sich …

    Kapitel 2 – Um Viertel nach …

    Kapitel 3 – Nancy pfefferte ihre …

    Kapitel 4 – »Was soll das …

    Kapitel 5 – Als Nancy am …

    Kapitel 6 – Am Montag kam …

    Kapitel 7 – »Alles in Ordnung …

    Kapitel 8 – Er saß auf …

    Kapitel 9 – Leonie tippte Nancys …

    Kapitel 10 – Mit einem Klatschen …

    Kapitel 11 – Nancy stand an …

    Kapitel 12 – Mit beiden Händen …

    Kapitel 13 – Gegen Abend schaltete …

    Kapitel 14 – Es war am …

    Kapitel 15 – Den ganzen restlichen …

    Kapitel 16 – Seine Finger huschten …

    Kapitel 17 – Leonies Vater hatte …

    Kapitel 18 – Die Osterferien hatten …

    Kapitel 19 – Lex’ Fahrrad schoss …

    Kapitel 20 – »Er hat aufgehört …

    Kapitel 21 – Drei Tage nach …

    Kapitel 22 – Die Ferien waren …

    Kapitel 23 – Leonies Vater saß …

    Kapitel 24 – Hilflosigkeit und Angst …

    Kapitel 25 – Am Tag nach …

    Kapitel 26 – Die Uhr an …

    Kapitel 27 – Kommissar Van Buren …

    Kapitel 28 – Lex legte den …

    Kapitel 29 – »Willst du was …

    Nachwort

    Alle Titel von Helen Vreeswijk im Loewe Verlag

    Über die Autorin

    Weitere Infos

    Impressum

    1

    Langsam setzte sich der Koloss in Bewegung, die Ketten an seinem Fuß rasselten bei jedem Schritt. Seine massigen Arme sausten durch die Luft und die Axt verfehlte ihr Opfer nur um Haaresbreite. Die Brust des Ungetüms hob und senkte sich und ein Furcht einflößendes Gebrüll erfüllte die Nacht.

    Leonie und Nancy saßen dicht aneinandergedrängt auf dem Sofa und verfolgten fasziniert das Geschehen auf dem Fernsehbildschirm. Es war Freitag und die beiden Mädchen hatten sich zu ihrem allwöchentlichen DVD-Abend getroffen. Immer abwechselnd suchten sie einen Film aus und heute hatte sich Leonie für einen Horrorstreifen ab achtzehn entschieden. Der Film lief seit einer halben Stunde und war so gruselig, dass die Mädchen den Atem anhielten und unruhig auf dem Sofa hin und her rutschten. Gerade als das Monster mit einem entsetzlichen Brüllen die Axt auf sein Opfer niederkrachen lassen wollte, tönte eine kleine elektronische Melodie durch das Wohnzimmer. Mit einem erschrockenen Aufschrei fuhren die Mädchen zusammen.

    »Welcher Idiot …«, schimpfte Leonie und griff genervt nach ihrem Handy, das auf dem Couchtisch lag. »Ja, Leonie hier?«

    Sie wies auf die Fernbedienung und bedeutete Nancy wild gestikulierend, dass sie den Film anhalten sollte. Eine plötzliche Stille erfüllte den Raum.

    »Hallo?«, fragte Leonie.

    Als Antwort kam ein schweres Keuchen vom anderen Ende der Leitung.

    »Hallo? Wer ist denn da?«

    Das Keuchen wurde zu einem lang gezogenen Ächzen und ging dann in Stöhnen über. Irgendjemand murmelte und zischte etwas Unverständliches vor sich hin.

    »Idiot«, blaffte Leonie ins Telefon. »Hast du nichts Besseres zu tun, du Penner?«

    Wütend legte sie auf und ließ sich wieder aufs Sofa fallen.

    »Wer war denn das?«, wollte Nancy wissen.

    »Keine Ahnung. Irgendjemand, der es anscheinend total witzig findet, sich nicht zu melden und dann nur blöd rumzukeuchen.«

    Nancy verdrehte die Augen. »Wetten, das waren Johan und Pieter?«, meinte sie. »Die starten doch auch in der Schule ständig so bescheuerte Aktionen. Letztens haben sie Hannekes Fahrrad in einen Baum gehängt!«

    »Mann, was für Spielkinder«, schnaubte Leonie. »Der Film war gerade so spannend und jetzt bin ich total raus. Spul mal ein Stückchen zurück, ja? Ich hol noch schnell was zu trinken.«

    »Johan und Pieter wissen, dass wir heute unseren Filmabend haben. Die können sich wahrscheinlich nichts Tolleres vorstellen, als uns zu nerven«, rief Nancy in Richtung Küche.

    »Äh, Leonie?«, rief sie einen Moment später und klang plötzlich aufgeregt. »Dein Handy klingelt schon wieder. Soll ich rangehen?«

    »Wird die Nummer angezeigt?«, fragte Leonie.

    Sie kam ins Zimmer gerannt und sah über Nancys Schulter auf das Display ihres Handys, das eine unbekannte Nummer anzeigte.

    »Hallo?« Nancy hielt sich das Telefon ans Ohr. »Hallo?«

    Sie war kurz davor loszulachen über Johans und Pieters blödes Spielchen. Sie rechnete fest damit, gleich Pieters Stimme zu hören, doch die krächzende Stimme, die sich schließlich meldete, war fremd: »Hol Leonie ans Telefon«, verlangte der Anrufer.

    Verstört streckte Nancy ihrer Freundin das Telefon hin. »Er will dich sprechen.«

    Leonie runzelte die Stirn und nahm seufzend das Telefon entgegen. »Mann, was wollt ihr denn? Ich find’s echt nicht mehr lustig«, schimpfte sie in den Hörer. »Könnt ihr uns nicht einfach in Ruhe lassen?«

    »Vermisst du mich?«, brummte eine fremde Stimme. »Ich weiß, dass deine Eltern nicht zu Hause sind. Willst du, dass ich mal vorbeikomme?« Der Fremde fing an zu stöhnen. Zuerst war es mehr ein leises Ächzen, aber dann wurde es immer lauter – ein rohes, primitives Geräusch.

    »Ihr seid echt so was von kindisch, Pieter. Oder bist du das, Johan?«

    Leonie wartete vergebens auf eine Antwort und das machte sie langsam wirklich wütend.

    »Wartet nur bis Montag, ihr Trottel. Mal sehen, ob ihr euch dann immer noch so lustig findet!« Sie drückte entschlossen auf Gespräch beenden und schaltete dann ihr Handy aus. »Solche Idioten!«, rief sie genervt und stapfte brummelnd in die Küche.

    »Die Stimme hat sich gar nicht nach Johan oder Pieter angehört«, bemerkte Nancy. »Die war doch viel tiefer, hattest du nicht auch den Eindruck?«

    »Ach, Quatsch«, antwortete Leonie, die mit zwei Gläsern Cola wieder ins Wohnzimmer kam und sich zu Nancy aufs Sofa setzte.

    »Diese Schlaumeier haben bestimmt ein Taschentuch über den Hörer gelegt, damit die Stimme sich anders anhört. Denen werd ich am Montag was erzählen!«

    »Du kannst ja Jeroen auf sie ansetzen. Dann trauen die sich bestimmt nicht mal mehr, Piep zu sagen.«

    »Bist du verrückt? Jeroen lacht mich aus, wenn ich ihm mit so einer Kindergeschichte komme. Dann denkt er wahrscheinlich wirklich, dass ich ein dummes kleines Mäuschen bin.«

    »Dummes kleines Mäuschen?«, wiederholte Nancy. »Warum sollte er? Ihr zwei seid doch jetzt immerhin zusammen.«

    »Ja, seit drei Wochen schon«, bestätigte Leonie stolz, »aber genau darum geht’s ja. Ich hör mich schon.« Mit quietschiger Kinderstimme redete sie weiter: »Ein Junge aus meiner Klasse ist gemein zu mir. Hilf mir, bittebitte!«

    Nancy verzog beleidigt das Gesicht. Wenn man die Sache so betrachtete, klang ihre Idee wirklich ganz schön kindisch. Obwohl … Jeroen war schon achtzehn, über einsachtzig groß und noch dazu ziemlich muskulös. Der hätte Johan und Pieter ganz schön gezeigt, wo es langgeht.

    Nancy sah die zwei schon vor sich, wie sie sich stotternd bei Leonie entschuldigten, und fing an, übers ganze Gesicht zu grinsen. Sie fand die Vorstellung äußerst komisch, aber Leonie verstand irgendwie nicht mehr so viel Spaß, seit sie mit Jeroen zusammen war. Sie war jetzt immer so ernst und erwachsen, als hätte sie Angst, dass Jeroen sie mit ihren fünfzehn Jahren nicht interessant genug fand. Dass er sie für zu jung halten und deswegen mit ihr Schluss machen könnte. Und das wäre für Leonie die totale Katastrophe. Sie war nämlich bis über beide Ohren verliebt und hatte sich geradezu ein Bein ausgerissen, um Jeroen auf sich aufmerksam zu machen. Nancy war überzeugt, dass Jeroens Gefühle für Leonie nicht ganz so tief waren. Aber das behielt sie lieber für sich, schließlich wollte sie keinen Streit.

    »Wann siehst du Jeroen denn das nächste Mal?«, wechselte sie das Thema.

    »Morgen Abend im Club. Kommst du auch?«

    Nancy zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Wenn Jeroen da ist, hast du ja nie Zeit für mich. Dann steh ich immer nur blöd daneben.«

    »Soll ich Jeroen fragen, ob er seinen Bruder mitnimmt? Dann hättest du auch jemanden zum Unterhalten.«

    »Hast du sie noch alle?«, fauchte Nancy. »Lex ist echt nicht mein Typ.«

    »Wessen Typ soll der schon sein?«, grinste Leonie. »Mit den strähnigen Haaren und dieser Brille aus dem letzten Jahrhundert. Und das Gesicht erst … total voller Pickel!«

    »Nee, eine Schönheit ist er wirklich nicht, aber er könnte echt mehr aus sich machen.«

    »Er ist wirklich das komplette Gegenteil von Jeroen«, sagte Leonie und bei der Erwähnung von Jeroen wurde ihr Gesichtsausdruck schwärmerisch. »Komisch, oder? Man würde gar nicht auf die Idee kommen, dass die zwei Brüder sind.«

    »Na ja, aber nett ist Lex ja eigentlich schon.«

    »Nett«, schnaubte Leonie. »Nett ist Jeroen doch auch. Oder willst du damit etwa andeuten …«

    Nancy seufzte und machte eine wegwerfende Geste. »Komm, lass uns den Film weitergucken. Ich werde immer todmüde von deinen Geschichten über deinen ach-so-tollen Freund.«

    »Ist da etwa jemand neidisch?«, stichelte Leonie. Sie kuschelte sich an ihre Freundin und drückte auf die Fernbedienung. Das Ungeheuer mit der Axt erschien wieder schnaubend auf dem Bildschirm. »Du hast zu weit zurückgespult, jetzt …«

    Das Telefon auf der Anrichte klingelte. Die Mädchen sahen sich an und sprangen dann kreischend vom Sofa auf. Leonie war als Erste an der Anrichte und grapschte nach dem Hörer. »Ja, Leonie hier?«

    »Ich krieg dich schon noch, du Miststück! Glaub ja nicht, dass du mich einfach so ignorieren kannst. Ich komme, wenn du alleine bist. Und dann mach ich dich fertig, das verspreche ich dir!«

    Die wütenden Worte drangen aus dem Hörer ins Wohnzimmer. Die krächzende Männerstimme klang nun etwas jünger, aber es war unverkennbar dieselbe Stimme wie beim vorherigen Anruf.

    »Glaubst du etwa, du kannst mir Angst machen, du Trottel?«, sagte Leonie provozierend. »Mann, du bist ja echt krank. Traust dich nicht mal, deinen Namen zu sagen, du Waschlappen.«

    Der Unbekannte fluchte, verhaspelte sich und legte auf.

    »Das war er wieder«, murmelte Leonie. Auf einmal fühlte sie sich unbehaglich. »Ich glaube nicht, dass das Johan und Pieter sind. Die haben meine Festnetznummer gar nicht.«

    Leonie setzte sich aufs Sofa. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie sich von irgendetwas einschüchtern ließ. Normalerweise hatte sie vor gar nichts Angst und hielt mit ihrer Meinung selten hinterm Berg. Eine Eigenschaft, die ihre Lehrer bisweilen in den Wahnsinn trieb. Gleichzeitig sorgte das aber dafür, dass sie bei ihren Mitschülern ziemlich beliebt war. Eine Trendsetterin, die mehr oder weniger den Modestil der ganzen Schule bestimmte. Im Hinblick auf Haarfarbe, Klamotten oder trendige Accessoires gab sie den Ton an und kreierte immer wieder neue wilde Looks. Sie war kaum zu übersehen, mit ihren halblangen Haaren, die sie immer in den ausgefallensten Tönen färbte, den leuchtend grünen Augen und dem Nasenpiercing. Sie war fröhlich, schlagfertig und liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Freunde hatte sie in Hülle und Fülle, von denen jedoch kaum jemand etwas über ihre Familie wusste. Sie sprach selten über ihr Zuhause, nicht, weil sie sich schämte, sondern eher aus einem Schutzreflex heraus. Ihre Familie war eben ein bisschen anders und nicht alle konnten das so akzeptieren. Leonie war die älteste Tochter von Ina und Gerjan Vanstraten und sie hatte noch eine jüngere Schwester. Kara war sieben Jahre alt und hatte das Down-Syndrom. Für ihr Alter war sie viel zu klein, hatte zu kurze Arme und Beine und schielte ein wenig. Oft lugte ihre Zungenspitze zwischen den Lippen hervor, vor allem dann, wenn sie nachdachte. Außerdem war sie etwas schwerhörig und hatte einen Herzfehler. Wegen ihrer gesundheitlichen Probleme besuchte Kara nur an zwei Tagen in der Woche die Grundschule. An den anderen Tagen blieb sie zu Hause und wurde von ihrer Mutter unterrichtet. Hin und wieder ging sie auch für einen Nachmittag oder ein Wochenende in eine Einrichtung für Kinder mit ähnlichen Behinderungen, damit ihre Mutter ein wenig Zeit für sich hatte.

    Die Familie Vanstraten wohnte in einem Mietshaus am Stadtrand von Den Haag. Das Haus gehörte zu jenen lang gestreckten Wohnblocks, die nach dem Krieg wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Es sah ein bisschen aus wie ein Schuhkarton, der in drei Etagen unterteilt war. Jeder Block war in einer anderen Farbe angestrichen, ein vergeblicher Versuch, dem Ganzen zumindest einen Hauch von Individualität zu verleihen. Zwischen zwei Gebäuden befand sich jeweils ein Garten zur gemeinschaftlichen Nutzung, in dem sich neben einem Klettergerüst auch ein Sandkasten befand, der jedoch von den Katzen aus der Nachbarschaft zu einem überdimensionalen Katzenklo umfunktioniert worden war.

    Leonies Vater war jetzt schon seit zwanzig Jahren bei der städtischen Müllabfuhr. Und jeden Freitagabend arbeiteten ihre Eltern außerdem als Reinigungskräfte in einem großen Bürogebäude in der Innenstadt. An diesen Abenden übernachtete schon seit Jahren Leonies beste Freundin Nancy bei ihr zu Hause.

    Nancy Drenth wohnte zwei Straßen weiter. In einem ebensolchen Häuserblock mit dem gleichen Garten, dem gleichen Klettergerüst und dem gleichen Katzenklo. Nancy lebte dort mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihren drei Brüdern: dem neunzehnjährigen Martin, dem siebzehnjährigen Paul und dem zwölfjährigen Sjon. Ihr Vater arbeitete in einer Bäckerei und ihre Mutter im Büro. Nancy selbst war fünfzehn, ein kleines bisschen mollig und hatte kurze blonde Haare, dunkelbraune Augen und ein Gesicht voller Sommersprossen. Seit sie vierzehn war, trug sie eine Zahnspange, was sie entsetzlich fand. Nancy und Leonie waren schon seit dem Kindergarten befreundet und nahezu unzertrennlich. Jede war das komplette Gegenteil der anderen und das war es, was ihre Freundschaft so eng und besonders machte. Schon in der Grundschule hatten sie immer nebeneinandergesessen und heute saßen sie nebeneinander in der Klasse 9a des Rembrandt-College.

    Nancy war ein ruhiges, unauffälliges Mädchen, dem das Lernen leichtfiel. Sie hatte kein so loses Mundwerk wie Leonie, gab den Lehrern niemals Widerworte und zog selten die Aufmerksamkeit der Jungen auf sich. Sie trug keine engen Oberteile oder Röhrenjeans, allerdings mehr, weil ihre Mutter dagegen war – unter dem Vorwand, dass dies bei Nancys Figur einfach unvorteilhaft sei. Tief im Herzen war Nancy deshalb manchmal ein bisschen neidisch auf ihre beste Freundin. Sie hatte längst nicht so viele Freiheiten wie Leonie und fühlte sich überbehütet. Zum Beispiel durfte sie sich nicht die Haare färben; ihre Mutter ging jedes Mal fast an die Decke, wenn Nancy dieses Thema auch nur anschnitt. Nach einem Piercing brauchte sie gar nicht erst zu fragen. Und sie wollte nicht wissen, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie einen Jungen anschleppte. In der Schule wurde Nancy nur akzeptiert, weil sie die beste Freundin von Leonie war, und das war ihr sehr wohl bewusst. Zu Anfang des Schuljahrs gab es immer ein paar, die sich Nancy als Zielscheibe für ihre Lästereien und dummen Sprüche aussuchten. Aber Leonie sorgte mit ihrer scharfen Zunge jedes Mal schnell dafür, dass die Lästermäuler verstummten. Nancy fühlte sich sicher unter Leonies Schutz und dieses Gefühl wollte sie unter keinen Umständen aufs Spiel setzen. Darum gab sie sich in der Schule nicht ganz so viel Mühe. In Klassenarbeiten machte sie absichtlich Fehler, um ihre Noten auf demselben Level zu halten wie Leonie. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, für einen Wechsel aufs Gymnasium geprüft zu werden. Ein Leben ohne Leonie konnte sie sich gar nicht vorstellen, sie brauchte ihre beste Freundin einfach.

    Der Club war ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche – hier konnte man mit Freunden einen trinken und hin und wieder trat auch mal eine Band auf. Damit keine Anwohner vom Lärm belästigt wurden, befand sich das weiß gestrichene Backsteingebäude etwas außerhalb des Wohnviertels. Es war ein fester Kern von Jugendlichen, die jedes Wochenende im Club herumhingen. Dann und wann kam ein neues Gesicht hinzu, wenn es mal wieder jemand geschafft hatte, sich von Muttis Rockzipfel loszureißen, und manchmal blieb einer von den »Alten« weg, wenn ihm das Backsteinhaus plötzlich zu eng erschien.

    Es war Samstagabend und im Club war ungewöhnlich wenig los. Das lag wahrscheinlich an der Kirmes, die sie gerade in der Innenstadt aufgebaut hatten, denn die zog immer eine ganze Menge Leute an.

    Jeroen stellte sein Glas auf den Tisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Mann, ist das öde hier«, maulte er. »Es ist schon fast zehn und kein Schwein ist da. Wo sind die denn alle?« Er zerpflückte einen Bierdeckel in kleine Fetzen und sah gelangweilt in die Runde.

    »Die sind alle auf der Kirmes, das weißt du doch. Vielleicht kommen sie ja später noch«, erwiderte Leonie. »Oder willst du lieber auch dahin?«

    Jeroen zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, du findest Kirmes blöd?«, wunderte sich Jeroen und versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

    »Ist doch auch zu zweit mal ganz nett hier«, entgegnete Leonie. » Deine Freunde müssen ja nicht die ganze Zeit um uns herumhängen.«

    »Meine Freunde? Ich sehe inzwischen selbst Nancy öfter als meine eigenen Freunde. Wundert mich übrigens, dass sie jetzt nicht hier ist.«

    »Lass uns nicht streiten«, sagte Leonie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. Sie schlang die Arme um seine Taille. »Deine Leute kommen bestimmt noch.«

    Ungeduldig schüttelte er sie ab und stand auf. »Ich geh mal eben aufs Klo«, verkündete er und stapfte davon.

    Leonie seufzte und nippte an ihrer Cola. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Jeroen genervt von ihr war. Er war immer so schnell auf hundertachtzig. Lag das an ihr oder war er einfach immer so? Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Mit einem erleichterten Grinsen durchwühlte sie ihre Tasche nach dem Telefon. Das waren bestimmt die anderen, um zu sagen, dass sie jetzt in den Club kamen.

    »Ja, hier ist Leonie?«

    »Was machst du gerade?«, fragte eine krächzende Männerstimme. »Triffst du dich schon wieder mit diesem Loser? Hab ich euch beim Knutschen gestört, du Schlampe?«

    Leonie blinzelte verwirrt und stand langsam auf.

    »Komm ja nicht auf die Idee aufzulegen«, drohte der Anrufer.

    »Was willst du von mir, du Perverser?«, zischte Leonie.

    »Was denkst du denn? Ich hab dich viel mehr verdient als dein mickriger kleiner Freund. Ich will deine Brüste streicheln und dich küssen und …«

    »Wenn du so ein super Typ bist, dann verrat mir doch mal deinen Namen. Oder noch besser, ich verrate dir, wo ich bin, dann kannst du direkt vorbeikommen.«

    »Ich weiß, wo du bist. Du bist mit diesem Waschlappen im Club. Du hast ein kurzes rotes Kleidchen an, aus dessen Ausschnitt deine Titten fast rausfallen.«

    Leonie schnappte nach Luft und sah sich panisch um. Es war, als glitte ihr ein Eiswürfel den Rücken hinunter. Woher wusste der Scheißkerl, was sie anhatte? Saß er vielleicht irgendwo hier im Club in einer Ecke? Ihr Blick flog über die Tische, sie versuchte, in jeden dunklen Winkel des Raumes zu spähen, aber sie sah niemanden, der auffällig wirkte. Zumindest sah sie niemanden, der telefonierte. Der Unbekannte lachte triumphierend.

    »Da guckst du, was? Ich weiß alles, du Schlampe: was du machst, was du isst, mit wem du zusammen bist, was du anhast … Ich beobachte dich die ganze Zeit und bei der nächsten günstigen Gelegenheit schnapp ich mir dich. Hast du gehört? Dreckige Schlampe!«

    Die Verbindung wurde unterbrochen. Entsetzt starrte Leonie noch eine Weile auf das Telefon in ihrer Hand.

    »Wer war das?«, hörte sie Jeroen fragen. Er setzte sich und quittierte ihr bleiches Gesicht mit einem Stirnrunzeln. Er darf es nicht wissen, dachte Leonie gehetzt und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Das klingt doch total kindisch …

    »Nancy. Sie kommt heute nicht«, antwortete sie so beiläufig wie möglich.

    In dem Moment ging die Tür auf und Nancy betrat den Club.

    Leonie wäre am liebsten im Boden versunken. Sie sah von Nancy zurück zu Jeroen und ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren auf der Suche nach einer Ausrede.

    Schließlich hob sie mit einem dümmlichen Grinsen die Schultern, stürmte auf die überraschte Nancy zu und zerrte sie mit sich in eine Ecke.

    »Er hat wieder angerufen«, flüsterte sie panisch.

    Nancy sah Leonie verwirrt an und schüttelte fragend den Kopf.

    »Der Typ von gestern! Der so gestöhnt hat.«

    Endlich fiel der Groschen. Nancy riss die Augen auf. »Schon wieder? Was wollte er denn?«

    »Keine Ahnung. Aber es war echt unheimlich, der wusste genau, was ich anhabe und dass ich im Club bin.«

    »Im Ernst?«

    »Ja! Und Jeroen wollte wissen, wer da am Telefon war. Darum hab ich ihm gesagt, du wärst es gewesen, um mir zu sagen, dass du nicht mehr kommst. Denk dir schnell irgendwas aus, sonst bin ich total blamiert!«

    »Ich soll mir was ausdenken?« Entgeistert starrte Nancy ihre Freundin an. Du bist es doch schließlich, die ihren Freund anlügt, dachte sie bei sich, hatte aber nicht den Mut, es laut auszusprechen.

    »Jetzt hab dich nicht so«, fuhr Leonie sie an. »Ich helf dir auch so oft aus der Patsche.«

    Nancy hob spöttisch die Augenbrauen. »Ach ja? Wann denn? Ich kann mich gar nicht …«

    »Los jetzt«, blaffte Leonie und schob Nancy ungeduldig auf Jeroen zu.

    Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Jeroen sah Nancy an und sie fühlte, wie ihr Gesicht anfing zu glühen. Wenn sie irgendetwas gar nicht konnte, dann war das lügen.

    »Das war nur ein Scherz«, stammelte sie. »Ich fand’s irgendwie witzig …«

    »Ja, wow, wir kugeln uns vor Lachen. Deine Witze sind echt die besten«, antwortete Jeroen zynisch. Er nahm einen Schluck von seinem Bier und sah zum x-ten Mal auf die Uhr. Leonie warf ihrer Freundin hastig einen Handkuss zu und ließ sich wieder auf den Stuhl neben Jeroen fallen.

    Gegen elf Uhr füllte sich der Club langsam und Jeroens Laune besserte sich mit jeder Person, die durch die Tür kam. Sogar als sein Bruder Lex sich mit an ihren Tisch quetschte, grinste er fröhlich. Der Club war erfüllt von Gelächter und Gejohle.

    Nur Leonie war still. Mit aller Macht versuchte sie, das Telefonat aus ihren Gedanken zu verdrängen. Vergeblich. Immer wieder hörte sie die heisere Stimme: Ich beobachte dich die ganze Zeit …

    2

    Um Viertel nach zwölf fuhren Leonie und Nancy zusammen mit dem Fahrrad nach Hause. Leonie hatte den restlichen Abend gegrübelt und nach schlagfertigen Antworten gesucht, die sie dem unbekannten Anrufer um die Ohren hauen würde, wenn er sich noch mal meldete. Aber der gefürchtete Anruf blieb aus.

    »Du bist so still«, bemerkte Nancy. »Ist es wegen dem Typen am Telefon? Hast du Angst?«

    Leonie schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Angst«, murmelte sie, doch ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.

    »Doch, hast du. Ich seh’s dir doch an. Warum gehst du nicht zur Polizei?«

    »Weil das total übertrieben wäre. Der hört bestimmt von selbst wieder auf.«

    »Also ich finde das alles ziemlich unheimlich. Und du auch, gib’s doch zu.«

    »Ich hab Kopfschmerzen«, erwiderte Leonie und das war noch nicht mal gelogen. »Lass mich einfach mal in Ruhe damit.«

    Nancy biss die Zähne zusammen. Es kränkte sie, dass Leonie sich ihr nicht anvertrauen wollte. Sie waren doch schließlich beste Freundinnen. Schweigend radelten sie durch die nächtlichen Straßen, bis sie sich an der gewohnten Kreuzung voneinander verabschiedeten.

    »Sorry wegen eben«, entschuldigte sich Leonie noch schnell. »Ich fühl mich einfach nicht so gut.«

    Nancy lächelte versöhnlich. »Schon okay. Sei vorsichtig, ja?«, rief sie noch über die Schulter.

    Leonie sah ihr erschrocken nach, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie das letzte Stück alleine weiterfahren musste. Es war zwar nicht weit, dafür aber stockdunkel, und plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Dabei hatte Jeroen doch noch gefragt, ob er sie mit dem Rad nach Hause begleiten sollte. Warum hatte sie nicht einfach Ja gesagt? Fieberhaft sah sie sich immer wieder nach allen Seiten um und versuchte, die Umgebung möglichst genau im Blick zu behalten. So fest sie konnte, trat sie in die Pedale. Schneller und schneller. Ihre Beine schmerzten vor Anstrengung. Schließlich bog sie in die Straße ein, in der sie wohnte, und sprang vor dem Hauseingang, ohne abzubremsen, vom Fahrrad. Sie zögerte. Normalerweise brachte sie ihr Fahrrad in den Keller, doch das schien ihr jetzt keine gute Idee zu sein. Alles war so dunkel und still. Eilig schob sie das Kabelschloss zwischen den Speichen hindurch, rastete das Schloss ein und rannte zur Haustür, die wie immer nicht abgeschlossen war. Nachdem sie die Treppe hinaufgestürmt und erleichtert die Wohnungstür hinter sich zugedrückt hatte, schob sie keuchend den Vorhang an dem kleinen Fenster in der Tür zur Seite und spähte ins Treppenhaus. Niemand war ihr gefolgt. Ein hysterisches Lachen drang aus ihrer Kehle. Warum ließ sie sich bloß dermaßen verrückt machen? Das war doch alles nur halb so wild.

    Es war zwei Uhr morgens, als der Klingelton ihres Handys sie aus dem Schlaf riss. Leonie stützte sich auf die Ellbogen und setzte sich im Bett auf. Schläfrig sah sie sich im Zimmer um. Sie blinzelte nach dem Wecker, während sie mit einer Hand nach ihrem Handy auf dem Fußboden tastete. Dann ließ sie sich wieder nach hinten in die Kissen sinken und hielt sich das Telefon ans Ohr.

    »Ja?«, murmelte sie verschlafen.

    Seine Stimme traf sie wie ein Eimer kaltes Wasser ins Gesicht.

    »Na, habt ihr schön geknutscht? Bestimmt habt ihr es auch miteinander getrieben, oder? Du Schlampe!«

    Leonie sprang aus dem Bett und knipste das Licht an. Verstört starrte sie auf das Display ihres Handys, als ob dort jeden Moment das Gesicht des Unbekannten erscheinen würde. Die tiefe, raue Stimme redete weiter.

    »Dreckige …«

    Wut kochte in ihr hoch und sie schrie gegen seine drohende Stimme an: »Du bist echt krank, weißt du das eigentlich? Total gestört. Du …«

    »Halt’s Maul!«, brüllte er zurück. »Heute im Club hattest du nicht so eine große Klappe. Ich hab dich doch gesehen mit diesem Loser und seinen Freunden.«

    Leonie schnappte nach Luft. »Mich gesehen? Du lügst doch!«

    »Meinst du? Pass mal auf: Du hast den ganzen Abend an der Tischdecke rumgefriemelt und dein Loserfreund hat ohne Ende gesoffen. Und dann seid ihr nach draußen gegangen und habt rumgeknutscht und … Mann, du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass der dich liebt, und trotzdem lässt du ihn ran?«

    »Ich lass ihn überhaupt nicht …«

    »Und ob!«, schrie der Anrufer. »Du hast doch auch alle seine Freunde schon rangelassen. Jeden einzelnen dieser Deppen. Ja, gib’s doch nur zu. Du machst doch sowieso mit jedem rum! Du … du …« Der Unbekannte fing an zu stottern und die Verbindung wurde unterbrochen.

    Wie betäubt ließ sich Leonie auf die Bettkante sinken. All die schlagfertigen Antworten, die sie sich noch vor ein paar Stunden zurechtgelegt hatte, waren vergessen. Er hatte sie im Club gesehen und war ihr anscheinend sogar nach draußen gefolgt, als Jeroen und sie sich davongeschlichen und an der Hintertür ein bisschen herumgeknutscht haben. Wo hatte er sich nur versteckt? Drinnen – am Fenster? Draußen – hinter einem Baum oder in einem Auto? Vielleicht hatte er später Nancy und sie ja sogar bis nach Hause verfolgt und wusste nun, wo sie wohnte. Oder war das etwa gar kein Fremder, sondern jemand, den sie kannte? Und der ihre Adresse kannte? Das Herz hämmerte ihr wie wild gegen die Rippen und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Was sollte sie denn jetzt nur tun? Wer war der Kerl? Leonie rieb sich mit den Fingerspitzen über die Schläfen. Rasende Kopfschmerzen machten das Denken unmöglich. Sie kroch wieder unter die Decke und kniff fest die Augen zu. Eines wusste Leonie ganz sicher: Der Kerl war komplett verrückt. Was wollte der Verwirrte bloß von ihr? Am besten gar nicht mehr dran denken. Ja, das schien ihr für den Moment die beste Lösung zu sein: Sie würde das alles ignorieren! Das alles war gar nicht passiert. Doch so einfach war das nicht. Noch Stunden später drehte und wälzte Leonie sich in ihrem Bett herum und versuchte, in den Schlaf zu finden. Vergeblich.

    Der Regen prasselte auf seine schmalen Schultern. Den Kragen hochgeschlagen, versuchte er, sich so tief wie möglich in seiner Jacke zu verkriechen. Seit einer halben Stunde stand er schon so

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