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DAS ROTE HAAR: Der Krimi-Klassiker!
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eBook322 Seiten4 Stunden

DAS ROTE HAAR: Der Krimi-Klassiker!

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Über dieses E-Book

Farley, ein romantischer Urlaubsort in Suffolk, ist aus seinem Dornröschen-Schlaf erwacht: Nach zwei mysteriösen Mordfällen beauftragt Scotland Yard Chefinspektor Bill Cromwell und seinen Assistenten Johnny Lister, ihren Urlaub abzubrechen.

Und Cromwell arbeitet verbissen an diesem schwierigsten Fall seiner Laufbahn...

Der Roman Das rote Haar von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum22. Nov. 2020
ISBN9783748765394
DAS ROTE HAAR: Der Krimi-Klassiker!

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    Buchvorschau

    DAS ROTE HAAR - Victor Gunn

    Das Buch

    Farley, ein romantischer Urlaubsort in Suffolk, ist aus seinem Dornröschen-Schlaf erwacht: Nach zwei mysteriösen Mordfällen beauftragt Scotland Yard Chefinspektor Bill Cromwell und seinen Assistenten Johnny Lister, ihren Urlaub abzubrechen.

    Und Cromwell arbeitet verbissen an diesem schwierigsten Fall seiner Laufbahn...

    Der Roman Das rote Haar von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    DAS ROTE HAAR

    Erstes Kapitel

    Chefinspektor Cromwell gönnte dem Green-Valley-Motel nur einen flüchtigen Blick. Aber dieser genügte.

    »Nein«, sagte er.

    Er stieß dies eine Wort mit empörter, unwiderruflicher Endgültigkeit hervor. Sein ohnehin meist übelgelauntes Gesicht war in noch grämlichere Falten gelegt als sonst. Die Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten. Die dichten, buschigen Augenbrauen waren über der Nasenwurzel finster zusammengezogen und bildeten ein unheilverkündendes V. Ein Bild des Unmuts, saß er in dem schnittigen Aston-Martin-Sportwagen, der gegenüber dem Motel am Straßenrand hielt.

    »Also hör mal, Old Iron!«, protestierte der elegante, junge Sergeant Lister, der neben ihm hinter dem Steuer saß. »Du machst ja ein Gesicht zum Fürchten! Man könnte meinen, du blicktest auf Sodom und Gomorrha. Nun verrate mir doch bloß mal, was dir an diesem idyllischen Plätzchen so missfällt?«

    »Alles«, knurrte Cromwell. »Es ist zu groß... zu luxuriös... zu modern. Ich ziehe es vor, meine vierzehn Tage wohlverdienten Urlaubs an einem ruhigen, naturverbundenen Ort, weitab vom Lärm und Getriebe der vielbefahrenen Straßen zu verbringen. Als du mir den Vorschlag gemacht hast, hier herauszufahren, dachte ich etwas Derartiges vorzufinden. Aber hier würde ich es ja nicht einmal aushalten, selbst wenn es mich keinen roten Heller kosten würde.«

    »Und der Fluss - ist der gar nichts?«

    »Doch, der sieht soweit schon ganz ordentlich aus... dagegen ist nichts einzuwenden«, musste der Chefinspektor widerwillig zugeben. »Er erinnert mich fast an einen Abschnitt der Themse, nicht weit von Windsor.«

    »Es heißt, dass es in diesem Gewässer ganz ausgezeichnete Brassen und Rotaugen geben soll. Sieh dich doch wenigstens erst einmal ein wenig um, Old Iron. Verurteile doch nicht alles von vorneherein in Bausch und Bogen.«

    Der hochgewachsene, hagere Beamte von Scotland Yard stieß lediglich ein unverständliches Brummen aus. Er war nicht zu Unrecht für seine Halsstarrigkeit bekannt und nicht leicht von einer vorgefassten Meinung abzubringen. Und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er sich sein Urteil bereits gebildet. Steifbeinig kletterte er aus dem, wie er nie zu betonen vergaß, höchst unbequemen Wagen und setzte sich in Richtung auf den Fluss in Bewegung. Als passionierten Sportangler zog ihn Wasser stets unwiderstehlich wie ein Magnet an.

    Es war Samstagabend, Anfang Juni. Cromwell und sein stets gutgelaunter, junger Assistent hatten dienstfrei, und so hatte Johnny vorgeschlagen, diese kleine Spritztour nach Suffolk zu unternehmen. In wenigen Wochen stand der vierzehntägige Urlaub seines Chefs bevor, und Johnny hatte gemeint, das Green-Valley-Motel, kurz vor dem kleinen Marktflecken Farley, müsse genau das geeignete Domizil für Cromwell sein. Johnny hingegen plante, nach dem Festland hinüberzufahren, um wenigstens einmal reichlich Sonne aufzutanken. Die Idee, Tag für Tag am Ufer eines Flusses in Suffolk zu verbringen, womöglich noch in strömendem Regen, war nicht gerade das, was er sich unter einem Urlaub vorstellte.

    Irgendwann einmal hatte ein Freund das Green-Valley-Motel ihm gegenüber in höchsten Tönen gelobt. Und zumindest trug es, das konnte er schon vom Wagen aus beurteilen, seinen Namen zu Recht. Es lag inmitten einer zauberhaften, grünen Hügellandschaft. Im Lauf der letzten Jahre war es zu einem begehrten Ferienziel geworden. Vor allem in Anglerkreisen. Nach allem, was Johnny gehört hatte, musste der Besitzer ein umgänglicher und angenehmer Mann sein, der fast so berühmt und beliebt war wie sein Motel.

    Während Cromwell quer über die Straße auf den Fluss zu marschierte, steuerte Johnny seinen Wagen auf den riesigen Parkplatz vor dem Hauptgebäude. Das Haus war zweistöckig gebaut, grüne Fensterläden leuchteten auf der weißgekalkten Mauer. Über dem Eingang lag die große Terrasse, deren Säulen und Geländer von üppig wucherndem wildem Wein umrankt waren. Zwei, drei Wagen standen bereits in der Nähe des Portals. Die Chromteile und der gutgepflegte Lack blitzten und spiegelten im Sonnenschein, denn nur ausgesprochen wohlhabende Leute konnten es sich leisten, diesen exklusiven Ort zu besuchen. Hinter dem Hauptgebäude dehnte sich der kurzgeschorene, prachtvoll gepflegte grüne Rasen. Und beiderseits dieses parkartigen Gartens zogen sich in zwei Reihen die kleinen, individuell gebauten Bungalows hin. Jedes dieser winzigen stabil gebauten Häuschen besaß eine eigene Garage.

    »Tja, mein Sohn, gegen den Fluss ist nichts einzuwenden«, ertönte plötzlich hinter Johnny Cromwells sonore Stimme. »Man könnte fast sagen, er sieht verlockend aus. Tief und klar - es muss reichlich Fische geben.«

    »Komm, du alter Brummbär, lass uns wenigstens einen Moment hineingehen und etwas trinken«, schlug Johnny vor. »Es eilt ja nicht. Morgen ist Sonntag. Es genügt doch, wenn wir um Mitternacht zurück sind, und man fährt nicht einmal ganz zwei Stunden.«

    So gingen sie hinein. Und Johnny zumindest genoss die Harmonie der riesigen, gut aufgeteilten und mit wenigen Möbeln in erlesenem Geschmack eingerichteten Halle. Hier und da standen, mit wohldurchdachter Zufälligkeit, große, einladende Ledersessel. Davor kleine Tischchen mit einer Glasplatte darauf. Die Schmalseite dieses ansprechenden Raumes nahm eine lange, ebenfalls lederbezogene Bar ein, deren warme Beleuchtung versteckt oberhalb der Spiegel hinter den mit bunten Flaschen vollgesteckten Fächern angebracht war. Die vielfältigen, farbenfrohen Etiketten versprachen jeden nur erdenklichen Genuss. Eine Flügeltür stand weit offen und gab den Blick auf einen leeren Festsaal frei. Zwei der hohen Hocker vor der Bar waren besetzt. Andere Gäste unterhielten sich mit gedämpfter Stimme, gemütlich in die riesigen Sessel gekauert. Trotzdem war überall noch reichlich Platz. Es war ja auch noch früh am Abend.

    Ein Mann, ein wahrer Riese von ungefähr fünfzig Jahren, in sehr aufrechter Haltung, mit am Hals offenstehendem Sporthemd und beigen Gabardinehosen mit messerscharfer Bügelfalte kam hinter der Bar hervor auf sie zu. Das sonnengebräunte, freundliche Gesicht zierte ein enormer Schnurrbart.

    »Willkommen im Green Valley, meine Herren«, begrüßte er sie munter. »Mein Name ist Melrose. Falls Sie beabsichtigen sollten, zu bleiben - zurzeit ist genügend Platz. Die Saison hat noch nicht begonnen. Vor Mitte Juli ist hier nicht viel los.«

    »Wir hätten gerne etwas getrunken - das wäre alles. Im Augenblick jedenfalls«, gab Cromwell vorsichtig zurück. »Ihr Fluss gefällt mir. Ich wusste bisher gar nicht, dass es hier in Suffolk ein so prächtiges Gewässer gibt.«

    Dem Chefinspektor war sofort klar, dass er den Besitzer Godfrey Melrose, Captain a. D., vor sich hatte. Mehr als einmal war ein Foto von ihm in der Anglerzeitung, die der Chefinspektor regelmäßig las, gebracht-worden. Denn Captain Melrose war in gewisser Weise so etwas wie eine Berühmtheit. Er war gleichermaßen als Sportfischer wie als Gastronom eine anerkannte Persönlichkeit. Die Küche im Green-Valley-Motel war einzigartig. Und so kam  es, dass die Leute aus allen Teilen des Landes nach dieser stillen Ecke Suffolks strömten, um hier ihren Urlaub zu verbringen.

    Melrose hatte das Motel kurz nach dem Krieg erbaut. Nach und nach hatte er dann dies und jenes hinzugefügt und es so langsam vervollkommnet. Ursprünglich war es für die durchreisenden Autofahrer gedacht und für deren Bedürfnisse eingerichtet gewesen. Wie ja schon das Wort Motel besagte. Aber im Lauf der letzten fünf Jahre war die Kunde des erlesenen Komforts, der erstklassigen Verpflegung und des gepflegten Services so weit gedrungen, dass sich die Gäste mehr aus Dauer- und Ferienbesuchern als aus flüchtig einkehrenden Touristen zusammensetzten. Und nicht alle, die unter dem gastfreien Dach einkehrten, waren unbedingt begeisterte Angler.

    Der saure, düstere Gesichtsausdruck des berühmten Kriminalbeamten, der allgemein als Ironsides bekannt war, hatte sich erstaunlich besänftigt. Und als er schließlich einen der Barhocker erklomm, konnte man seine Miene fast als menschlich bezeichnen. Johnny Lister war über diesen auffälligen Wechsel höchst erfreut. Ein gut aussehender junger Mann stellte die gewünschten Getränke vor sie hin.

    »Mein Sohn Peter«, stellte Melrose vor. »Er ist mir bei der Geschäftsführung behilflich, und meine Frau hat die Küche unter sich. Sie wird auch gleich erscheinen. Nein, Sir, bitte stecken Sie Ihr Geld wieder ein. Der erste Drink geht auf meine Rechnung. Eine Sitte meines Hauses.«

    »Außerordentlich freundlich, Mr. Melrose«, meinte Cromwell dankend. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich etwas umsehe, bevor ich zu einem Entschluss komme? Ich angle hin und wieder auch. Und Ihr Fluss gefällt mir, muss ich schon sagen. Ich bin nämlich auf der Suche nach einem gemütlichen Plätzchen, wo ich Anfang Juli meinen vierzehntägigen Sommerurlaub verbringen kann.«

    Melrose lachte belustigt auf. Um seine Augen tanzten tausend Lachfältchen.

    »Wenn es Ihnen um das Fischen geht, brauchen Sie nicht länger zu suchen«, bemerkte er trocken. »Anfang Juli, sagten Sie?« Er lächelte bedeutungsvoll. »Das ist genau der Zeitpunkt, zu dem wir unseren jährlichen Wettbewerb abhalten. Hätten Sie nicht Lust, daran teilzunehmen? Allerdings muss ich gleich erwähnen, dass ich für Anfang nächsten Monats so gut wie ausgebucht bin.«

    Er verließ sie, um weitere Neuankömmlinge zu begrüßen. Offensichtlich Leute hier aus der Gegend. Denn das Green-Valley-Motel stellte auch für die sogenannten Spitzen der hiesigen Gesellschaft den erklärten Anziehungspunkt dar. Es war ihnen im Lauf der Zeit zur Gewohnheit geworden, abends auf ein Glas und ein Schwätzchen hier hereinzuschauen.

    »Wenn das Essen so gut ist, wie es allgemein gerühmt wird, Old Iron, sehe ich mich schon meine eigenen Pläne über den Haufen werfen und ebenfalls hier einkehren«, äußerte Johnny. »Ich bin zwar kein Angler, aber ich habe auf dem Fluss ein paar nette kleine Segelboote vertäut gesehen. Sicher tut sich auch in dieser Richtung einiges hier. Das Ganze scheint mir mehr oder weniger ein Familienbetrieb zu sein. Und so etwas ist meist eine gute Sache.«

    Cromwell sagte nichts dazu. Er hörte mit halbem Ohr auf die joviale, fast herzliche Unterhaltung zwischen Mr. Melrose und den Ortsansässigen. Der Riese mit dem auffallenden Schnurrbart war wirklich ein Typ für sich. Und alle, die hereinkamen, grüßten ihn mit vergnügten Sticheleien, die er prompt und schlagfertig erwiderte.

    Cromwells und Johnnys Gläser waren leer, so standen die beiden auf und schlenderten gemächlich durch den leeren Saal, um dann durch die offenstehenden französischen Fenstertüren in den weitläufigen Garten hinauszutreten. Die sich langsam rot verfärbende Sonne tauchte die Anlage mit ihrer Blumenpracht in ein unwirkliches, flammendes Licht. Nirgendwo war ein Blättchen Unkraut zu sehen, und auf dem kurzgeschorenen Rasen ging es sich wie auf einem weichen Teppich. Die gesondert stehenden, untereinander verschiedenen Bungalows, jeder mit seiner eigenen Garage, sahen mehr wie Villen im Miniaturformat denn Unterkünfte eines Motels aus. Durch die Fensterscheiben schimmerten buntgemusterte, bäuerliche Gardinen. Auf jeder der verschiedenfarbig gestrichenen Türen stand eine Zahl.

    Eine dieser Türen stand offen, und Cromwell benutzte die Gelegenheit, einen Blick in das Innere zu werfen. Was er sah, befriedigte ihn ungemein. Der Raum war schlicht und doch zugleich gemütlich eingerichtet. Die zweckentsprechenden Möbel waren aus teuren Hölzern, die Bezüge stofflich und farblich ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Breite, einladende Doppelbetten füllten die eine Wand fast aus. An jeder Seite gab es einen Nachttisch mit einer aus alten Messingleuchtern montierten Lampe darauf. Das Bad war hellgrün gekachelt und bis ins letzte komplett ausgestattet.

    »Gar nicht so übel«, brummte Cromwell vor sich hin. »Da ließe es sich zur Not schon aushalten.«

    Ein solches Lob aus seinem Munde war eine außerordentliche Seltenheit.

    Gemächlich schlenderte er nun zum Fluss hinunter und nahm den zuverlässig aussehenden, gut gebauten Steg in Augenschein. Drei Motorboote lagen daran vertäut. Ganz zu schweigen von den vielen kleinen Segeljollen. Weiter unten auf dem Fluss kreuzten etliche dieser wendigen kleinen Boote hin und her. Nicht weit entfernt von Cromwell hielten es die passionierten Angler in unerschütterlicher Geduld aus. Der Fluss kräuselte sich in winzigen Wellen. Ein Anblick, der Cromwells Seele ausgesprochen Wohltat.

    »Na - zu viel versprochen?«, erkundigte sich Johnny Lister.

    »Schon gut - es besteht nicht der geringste Grund, gleich diesen Ton anzuschlagen«, schnaubte sein Chef unwillig. »Eins zu null für dich, Johnny. Es gefällt mir immer besser hier. Ich könnte mich fast daran gewöhnen. Doch ich möchte betonen, dass es vor allem der Fluss ist, der es mir angetan hat. Die grauenhafte, supermoderne Aufmachung des Haupthauses werde ich dann wohl in Kauf nehmen müssen. Da, sieh dir doch nur dies Wasser an!« Seine Augen funkelten begeistert. »Ich kann es kaum abwarten, mein Angelzeug hier zu haben.«

    Sie kehrten in die Halle zurück, machten es sich in zwei Sesseln bequem und bestellten noch zwei Martinis. Es bestand keine Eile, nach London zurückzufahren. Cromwell beschloss, frühestens in einer Stunde zu starten. Die weitläufige Halle begann sich nach und nach zu füllen, und es interessierte ihn, was für Leute sich hier samstagabends zusammenfanden.

    Er brauchte nicht lange, um das zu ergründen. Die Tür ging unablässig, und im Grunde waren es immer die gleichen drei Typen von Menschen, die hereinströmten. Wohlhabende Geschäftsleute aus Farley, schwere, kräftige Bauern mit gutmütigen Gesichtern in Begleitung ihrer Frauen, aristokratisch aussehende, hagere Gestalten, häufig mit scharf geschnittenen Pferdegesichtern, der Landadel aus der näheren Umgebung. Alle wurden von Godfrey Melrose freundlich und aufmerksam begrüßt. Und es tat wohl, die warme Atmosphäre der freundschaftlichen Verbundenheit zu sehen.

    Cromwell schätzte, dass heute Abend noch getanzt werden würde, denn die meisten Damen kamen im Cocktailkleid. In kurzen oder langen, leichten, hellen, oft geblümten Sommerkleidern. Die Herren hatten es sich dagegen bequem gemacht, sie trugen zumeist Flanellhosen und dazu Sporthemden mit offenem Kragen. Jetzt war Mrs. Melrose hinter der Bar aufgetaucht. Sie ging ihrem Sohn zur Hand - eine kräftige, gesunde, gut aussehende Frau, mit hervorragendem Geschmack gekleidet und mit einem Minimum an Make-up. Der Chefinspektor gewann, nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte, den Eindruck, dass sie wohl mehr von diesem Gefechtsstand aus regierte und alles, was um sie herum vorging, im Auge behielt, als dass sie sich selbst betätigt hätte. Zwei junge Burschen in kurzen weißen Jäckchen servierten jetzt die Getränke. Das Ganze wirkte in seiner unkomplizierten Fröhlichkeit eher wie eine kleine Gesellschaft in einem gepflegten Landhaus als eine mit Gästen gefüllte Hotelhalle. Jeder schien hier jeden zu kennen. Gedämpft und vergnügt plätscherte die Unterhaltung dahin. Plötzlich fiel es Bill Cromwell auf, dass allgemeines Schweigen eintrat. Neugierig drehte er sich um.

    »Donnerwetter!«, entfuhr es Johnny Lister begeistert.

    Ein bezauberndes junges Mädchen stand in der Tür zur Halle. Ihr helles, perlendes Lachen und ihre strahlenden Augen mussten jeden sofort gefangen nehmen. Bescheiden, aber mit bezwingendem Charme begrüßte sie jetzt Mr. Melrose. Volles, dunkles Haar fiel ihr bis auf die schmalen Schultern. Ihr Gang war elastisch und graziös. Das Tanzkleid mit dem weiten, schwingenden Rock wirkte trotz des betont schlichten Schnittes als wäre es eine Robe von Dior oder Hartnell. Der junge Peter Melrose kam sofort hinter seiner Bar hervor. Sie gab ihm zur Begrüßung einen stürmischen Kuss.

    »Bei Gott, unsere Gillian Hartley ist wirklich ein zauberhaftes Geschöpf!«, murmelte ein Mann bewundernd, der am Tisch neben Ironsides und Johnny saß. Er war sich offenbar nicht bewusst, wie weit seine dröhnende Stimme trug, oder meinte, sie gesenkt zu haben. »Dies Mädchen hat etwas an sich, was einem jedes Mal das Blut in Wallung bringt, wenn man sie sieht, wie? Sie kommt mir immer vor wie die personifizierte Jugend und Frische.«

    »Ausgezeichnet formuliert, Sir Malcolm«, stimmte sein Gegenüber zu. »Jugend und Frische, das ist der richtige Ausdruck. Sie ist nicht nur bildhübsch, von ihr scheint geradezu eine mitreißende Vitalität auszuströmen. Und tüchtig ist sie obendrein auch noch. Fragen Sie mal den Pastor.«

    Sir Malcolm Gregg, Herr auf Schloss Farley, kicherte, dass seine Schultern bebten.

    »Peter ist ein kluger Bursche, was?«, meinte er. »Der weiß schon was er an ihr hat. Einen Riesendusel hat der Junge. Ist aber auch ein feiner Kerl. Kenne ihn schon, seit er in den Windeln gelegen hat. Nebenbei bemerkt war sein Vater während des Krieges in meinem Regiment. Ein ausgezeichneter Soldat!«

    »Verdammt noch mal, es war schon das große Los für Farley, dass Melrose gleich nach Kriegsende das Ding ausgerechnet hier gebaut hat«, sagte der andere. »Bis dahin war es ein gottverlassenes Nest.«

    Sir Malcolm runzelte die Stirn.

    »Ja, ruhig war es schon«, gab er zu bedenken. »Aber vergessen Sie nicht, dass Farley einer der schönsten Flecken Suffolks ist. Wo finden Sie sonst noch solche prachtvollen alten Fachwerkhäuser? Also, wenn Sie mich fragen, so ist Farley noch bedeutend schöner als das vielgerühmte Lavenham. In gewisser Hinsicht jedenfalls.«

    Cromwells Interesse wurde durch das auffällige Benehmen eines jungen Mannes mit erhitztem Gesicht und in die Stirn fallendem, wirrem, braunem Haar, der soeben die Halle betreten hatte, abgelenkt. Die Augen des Neuankömmlings überflogen die Anwesenden. Offenbar sucht er ungeduldig nach jemand. Dann blieb sein Blick an Gillian Hartley hängen, und seine Stirn runzelte sich finster. Nein, eigentlich galt sein grimmiges Starren nicht dem Mädchen, sondern vielmehr Peter Melrose, der beredt auf Gillian einsprach und dabei ihren Arm umfasst hielt. Wenn Cromwell noch nie im Gesicht eines Menschen den Ausdruck erbitterter, blinder Eifersucht beobachtet hätte, hier war er nicht zu verkennen. Doch dann wurde seine Aufmerksamkeit abermals abgelenkt. Ein schlankes, zierliches junges Mädchen mit leuchtend blondem Haar, das unweit von ihnen an einem Tisch gesessen hatte, sprang plötzlich auf und stürzte auf den immer noch in der Nähe der Tür stehenden, erhitzten jungen Mann zu. Ihre blauen Augen strahlten ihm geradezu entgegen.                          

    »Guten Abend, Roy!«, begrüßte sie ihn atemlos.

    Er würdigte sie kaum eines Blickes.

    »Bezaubernd siehst du heute Abend wieder aus, Peggy«, murmelte er mit fadenscheiniger Bewunderung. Merkbar nichts als reine Höflichkeit. Und damit ging er davon.

    Das blondhaarige junge Mädchen erblasste. Dann, gleich darauf, kroch helle Röte ihren langen, gebogenen Hals empor und überflutete ihr ovales, fast noch kindliches Gesicht. Schweigend sank sie wahllos auf einen zufällig in der Nähe stehenden Sessel. Cromwell, dem selten etwas entging, sei es nun bemerkenswert oder vielleicht auch vollkommen unwichtig, verspürte fast so etwas wie Mitleid mit der Kleinen. Mein Gott, war sie enttäuscht! Er hätte dem stämmigen jungen Mann am liebsten ein paar um die Ohren gegeben, dass er sie so behandelte.

    »Nanu, du machst ja so ein verärgertes Gesicht, Old Iron?«, erkundigte sich Johnny neugierig.

    »Ach, nichts Besonderes«, grollte Cromwell. »Ich habe mich nur über etwas, was da eben vor sich gegangen ist, geärgert.«

    »Eh? Ich habe gar nicht bemerkt, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hätte.«

    »Das, mein Sohn, glaube ich dir aufs Wort.«

    Das junge Mädchen, welches der kräftige Jüngling mit Peggy angeredet hatte, war jetzt eifrig mit ihrer kleinen, silbernen Puderdose beschäftigt. Völlig unnötigerweise fuhr sie sich mit der Quaste über ihre Nasenspitze. Dabei blickte sie verstohlen um sich. Offenbar beschämt und ängstlich, ihr Schmerz könne allgemein aufgefallen sein. Ihr zart geschwungener Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

    Es war charakteristisch für Cromwell, dass er sich jetzt umwandte und den Mann am Nebentisch, den sein Freund Sir Malcolm tituliert hatte, ansprach.

    »Wer ist diese blondhaarige Kleine?«, erkundigte er sich.

    »Oh, Sie meinen Peggy Anderson?«, gab der andere zurück, nicht unangenehm berührt durch das Interesse eines völlig Fremden. Das brachte die freundliche Atmosphäre, die hier herrschte, mit sich. »Sie ist die Tochter von Dr. Anderson«, fügte er aus freien Stücken noch hinzu.

    »Und der junge Bursche, der gerade eben mit ihr gesprochen hat?«

    »Das ist Roy Campbell, vom Tal-Hof.« Sir Malcolm gluckste leise vor sich hin. »Für Roy sind wir alle Luft, das versichere ich Ihnen. Er sieht nichts weiter als Gillian Hartley. Er ist bis über beide Ohren in sie verliebt, der arme Junge. Arme Peggy. Sie kennt Roy, solange sie denken kann - sie sind zusammen zur Schule gegangen -, und wir wissen alle, dass es ihr schwer zu schaffen macht. Armes Kind, dabei bemerkt Roy überhaupt nicht, dass sie da ist.«

    Cromwell war Sir Malcolm für seine geschwätzige Auskunft sehr dankbar. Er reagierte überaus sensibel auf alle menschlichen Unterströmungen, und die geballten Wolken der Leidenschaft standen - wollte man diese friedliche Halle damit vergleichen - am klaren blauen Sommerhimmel wie eine düstere Drohung. Peter Melrose, der ganz in seine Unterhaltung mit Gillian Hartley vertieft schien, machte einen nervösen und unruhigen Eindruck. Sein Vater, der gerade ein paar weitere Neuankömmlinge mit stets gleichbleibender jovialer Herzlichkeit begrüßte, konzentrierte, das war nicht zu verkennen, im Grunde genommen sein Interesse auf den Sohn. Und nun marschierte Roy Campbell mit gesenktem Kopf auf die dicht umlagerte Bar zu. Sein Gesicht trug einen mürrischen, verdrossenen Ausdruck.

    »Alles höchst interessant, Johnny«, murmelte der aufmerksame Chefinspektor leise. »Sogar in einem verschlafenen Nest wie diesem gärt es unter der ruhigen Oberfläche. Man muss nur eine Antenne dafür haben.« Er seufzte tief auf, als er dem verständnislosen Blick seines Assistenten begegnete. »Schon gut. Lassen wir das. Ich hatte im Moment vergessen, dass du von Natur aus mit Blindheit geschlagen bist.«

    »Wovon, zum Teufel, redest du überhaupt?«

    Ironsides sparte sich eine Antwort. Es wollte ihm kaum gelingen, seine Augen von der sprühend lebhaften, bildhübschen Gillian Hartley abzuwenden. Er musste sich eingestehen, dass er im stillen der Bemerkung Sir Malcolm Greggs vollkommen zustimmte. Selten hatte er ein junges Mädchen gesehen, das derart Jugend und Frische verkörperte. Es war lange her, dass ein weibliches Wesen den trockenen, griesgrämigen Chefinspektor so beeindruckt hatte. Dieses Mädchen hatte irgendetwas an sich, das einem das Herz höher schlagen ließ. Sie unterhielt sich immer noch mit Peter Melrose. Nichts schien außer ihm auf dieser Erde für sie zu existieren. Sie strahlte ihn mit einem verhaltenen Feuer an, das über ihrem ganzen Wesen lag.

    Roy Campbell stand an der Bar und starrte sie aus brennenden Augen an.

    Es kam Cromwell, dessen Aufmerksamkeit jetzt ganz gefesselt war, so vor, als ob die Lebhaftigkeit des schwarzhaarigen Mädchens Peter Melrose beunruhigte, wenn nicht gar in Verlegenheit versetzte. Sie sprach mit temperamentvollen Gebärden, ohne jede Rücksichtnahme auf die Umsitzenden, auf ihn ein, und ihr helles Lachen übertönte sogar das summende Stimmengewirr in der Halle. Cromwell sah sich nach dem zarten, blonden Geschöpf um. Lautlos fluchte er in sich hinein. Peggy Anderson sah entsetzlich verlassen und verzweifelt aus.

    In diesem Augenblick wandte sich Mr. Melrose von den Gästen, mit welchen er sich eben unterhielt, ab und sagte etwas zu seinem Sohn. Dieser nickte, entschuldigte sich offenbar bei Gillian Hartley und eilte davon. Roy Campbell reagierte blitzschnell. Er schoss auf Gillian zu und ergriff heftig ihren Arm.

    »Ich muss mit dir sprechen«, drängte er ungestüm.

    »Roy, bitte, nimm Vernunft an. Hier geht es doch nicht.«

    »Gut, dann irgendwo anders?«

    »Nein. Und lass meinen Arm los, bitte.«

    »Ich denke gar nicht daran«, widersprach er leidenschaftlich. Sein Gesicht war vor Wut dunkelrot. »Nicht, bevor ich mit dir gesprochen habe. Wer weiß, vielleicht ist dies meine letzte Chance.«

    Er hielt ihren Arm weiter umklammert und zerrte sie fast aus der Halle in den leeren Ballraum hinüber. Cromwell, der die beiden die ganze Zeit über gespannt beobachtet hatte,

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