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DIE TOTENGLOCKEN: Der Krimi-Klassiker!
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eBook297 Seiten4 Stunden

DIE TOTENGLOCKEN: Der Krimi-Klassiker!

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Über dieses E-Book

Die Bewohner des englischen Städtchens Westonbury werden von einem skrupellosen Erpresser terrorisiert. Oberst Graham will dem »Lauscher an der Wand« das Handwerk legen. Doch man kommt ihm zuvor: Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard kann nur noch feststellen, dass Graham mit Totenglocken - den Blüten des Roten Fingerhuts - vergiftet wurde...

Der Roman Die Totenglocken von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958 (unter dem Titel Roter Fingerhut).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum10. Sept. 2020
ISBN9783748757092
DIE TOTENGLOCKEN: Der Krimi-Klassiker!

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    Buchvorschau

    DIE TOTENGLOCKEN - Victor Gunn

    Das Buch

    Die Bewohner des englischen Städtchens Westonbury werden von einem skrupellosen Erpresser terrorisiert. Oberst Graham will dem »Lauscher an der Wand« das Handwerk legen. Doch man kommt ihm zuvor: Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard kann nur noch feststellen, dass Graham mit Totenglocken - den Blüten des Roten Fingerhuts - vergiftet wurde...

    Der Roman Die Totenglocken von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958 (unter dem Titel Roter Fingerhut).

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    DIE TOTENGLOCKEN

    Erstes Kapitel

    Der Polizei-Inspektor von Westonbury, Oberst a. D. Roderick Graham, trug ein düsteres Geheimnis mit sich herum. Das war besonders gefährlich für ihn, weil seine Gesundheit nach einem halben Menschenalter, das der Oberst in Indien verbracht hatte, sehr angegriffen war.

    Der Oberst saß allein im Esszimmer seines Hauses Chakrata Lodge, das auf einem Hügel lag, von dem man auf Westonbury hinabsehen konnte, und aß hastig sein Abendbrot. Er aß so unaufmerksam, dass er kaum wusste, was er verzehrte. Die Uhr auf dem Kamin verkündete die Zeit: dreiviertel neun. Er beendete sein einsames Mahl und trug den benutzten Teller in die Küche, wo er ihn auf ein Gestell unter dem Abwaschtisch stellte. Er tat das automatisch, denn er war ein ziemlich pedantischer Mensch und konnte den Anblick herumliegender schmutziger Sachen nicht vertragen.

    Als er wieder ins Esszimmer zurückkehrte, schob er die Schüssel mit Kompott und Vanillesoße, die seine Frau für ihn bereitgestellt hatte, beiseite, weil er keinerlei Appetit mehr hatte. Er trug sie dann zusammen mit dem noch unbenutzten Teller auf das Büfett. Das Tischtuch, das nur ein Ende des Tisches bedeckte, wurde nur gefaltet und in die Schublade der Anrichte gelegt. Jetzt holte der Oberst ein großes silbernes Tablett und stellte es mitten auf den Tisch. Auf dem Tablett waren zwei gutgefüllte Karaffen mit Whisky, zwei Flaschen Sodawasser, ein Wasserkrug und ein Dutzend Gläser, denn er erwartete gegen neun Uhr Besuch.

    Ein Blick zum Kamin zeigte ihm, dass das Feuer am Verlöschen war. Er brachte es mit dem Feuerhaken wieder zum Aufflammen und legte ein paar Schaufeln Kohle auf die Glut. Der Frühlingsabend war kühl, und er wollte es seinen Gästen gern gemütlich machen.

    Die Stühle standen schon um den Tisch herum - ein Stuhl an jedem Ende und drei weitere an jeder Seite des Tisches.

    Das Gesicht des Polizeidirektors war ernst, als er sich an den Kamin stellte und seine Pfeife stopfte. Er war ein hochgewachsener Mann von sechzig Jahren mit einem schneeweißen Schnurrbart und dünnem, eisengrauem Haar. Seine für gewöhnlich gesunde Gesichtsfarbe zeigte jetzt eine unnatürliche Röte. Leute, die ihn vor einem Jahr zum letzten Mal gesehen hatten, wären von der Veränderung seines Aussehens betroffen gewesen. Noch vor einem Jahr war er ein zufriedener, vergnügter Mensch gewesen; jetzt sah er verhärmt und erschöpft aus, und tiefe Falten zerfurchten sein Gesicht.

    Die Standuhr in der Halle schlug feierlich neun; mit hellem Klingeln begleitete sie die Uhr auf dem Kaminsims. Gleichzeitig hörte Graham, wie ein Auto auf dem Kies der Auffahrt bremste. Er riss sich zusammen, als ob er sich für eine unangenehme Aufgabe wappnen wollte, und ging zur Haustür, als es läutete.

    Der Mann, der seinen chromglänzenden, schweren Wagen auf der anderen Seite der Auffahrt geparkt hatte, zog seine buschigen Augenbrauen hoch, während er die Stufen zum Portal heraufstieg.

    »Hallo, Graham! Was soll denn das heißen?«, fragte er verwundert. »Sie öffnen selbst die Tür? Damit verwöhnen Sie doch nur die Dienstboten, und sie sind, weiß Gott, heutzutage sowieso schon lässig genug...«

    »Millie hat heute ihren freien Abend«, unterbrach ihn der Polizeidirektor ungeduldig. »Kommen Sie nur herein, Lacey. Ich bin ganz allein, denn meine Frau und meine Tochter sind zum Essen zu Freunden nach Seven Oaks gefahren.«

    Sir Christopher Lacey, Herr auf Schloss Westonbury, war über den Hinweis seines Gastgebers auf Millie einigermaßen verwundert. War es möglich, dass die Grahams nur einen einzigen Dienstboten hatten? Er kam zu dem Schluss, dass sie noch weitere haben müssten, mindestens eine Reinmachefrau für das Haus und einen Mann für den Garten; aber diese Leute kamen wohl nur tagsüber und wohnten nicht im Haus.

    »Ein scheußlicher Anblick!«, rief Sir Christopher angeekelt.

    Ehe der überraschte Graham ihn fragen konnte, was er mit seiner Bemerkung meinte, wies Sir Lacey mit der Hand in das Tal hinab, wo die blitzenden Lichter der Stadt sich aus der samtigen Dunkelheit abhoben. Ein Gebäude strahlte besonders hell vom anderen Ende der Stadt herüber.

    »Sparrows scheußliche Fabrik!«, sagte der Baron angewidert. »Bei Tag ist sie eine Verschandelung der Landschaft, und bei Nacht ist sie noch schlimmer, weil man sie dann gar nicht mehr übersehen kann. Warum, zum Teufel, muss der Mann alle diese protzigen Lampen anzünden? Warum kann er nicht wie andere seinen Betrieb zu einer vernünftigen Zeit schließen?«

    Sir Christophers Vater und Großvater hatten - wie schon seine Vorfahren während der letzten paar hundert Jahre - im Ort die stolze Stellung des Grundherrn gehabt. Jetzt war er nicht mehr der erste Mann der Grafschaft; aber wenn auch die Zeiten sich geändert hatten, Sir Christopher hatte sich nicht mit ihnen gewandelt. Man hörte ihm an, dass er in Eton und Oxford erzogen worden war, und in seinem ganzen Benehmen waren sein Stolz und sein aristokratisches Selbstbewusstsein zu spüren. Er war noch einer der wenigen Aristokraten der alten Schule, die auf jede Art von Beruf und technischem Können mit Verachtung herabsahen.

    Er liebte Westonbury, und es schmerzte ihn tief, dass noch zu seinen Lebzeiten - er war fünfundfünfzig - die Stadt ihren einst berühmten malerischen Charme verloren hatte. Neue Verwaltungsgebäude, neue Schulen, neue Wohnblocks und - was das Schlimmste war - neue Fabriken waren wie Giftpilze in der Stadt selbst und besonders am Stadtrand aufgeschossen.

    »Man kann den Fortschritt nicht aufhalten, Lacey«, meinte der Oberst, als er auf die Verschandelung blickte. »Sparrow muss sehr gute Geschäfte machen, sonst würde er nicht eine Nachtschicht einlegen. Mir persönlich sind die vielen Lichter übrigens sympathisch, und ich würde Sparrows Fabrik auch nicht als Verschandelung bezeichnen. Sie ist schließlich ganz modern, gut angelegt und macht der Stadt nur Ehre.«

    »Ach, was!«, murmelte Sir Christopher.

    Er folgte dem Oberst ins Haus, als ein zweiter Wagen sich näherte. Graham führte seinen Gast ins Esszimmer.

    »Was, zum Teufel, soll das bedeuten, Graham?«, fragte Sir Christopher, als er die Whiskykaraffen und die vielen Gläser auf dem Tisch sah. »Als Sie mich anläuteten, sagten Sie etwas von einer dringenden Konferenz. Wie viele Menschen erwarten Sie denn, um Gottes willen? Dabei haben Sie womöglich noch gar nicht zu Abend gegessen.«

    Der Gedanke schien ihm geradezu Entsetzen einzuflößen. Aber Graham konnte ihm versichern, dass er sein Essen, das ihm seine Frau auf einer Wärmplatte zurechtgestellt hatte, bereits verzehrt habe.

    »Mein Gott! Aufgewärmtes Essen!«, murmelte Sir Christopher noch viel entsetzter als zuvor.

    Der Neuankömmling, den Graham einließ, war der Arzt Dr. Howard Small, ein untersetzter, vergnügter Mann in den Fünfzigern. Er war bei seinen Patienten äußerst beliebt, obwohl er im Ruf stand, es als Mediziner manchmal an der erforderlichen Gewissenhaftigkeit mangeln zu lassen. Er war, schon seit er die Praxis von seinem Vater übernommen hatte, der Hausarzt der Grahams. Er war schon bei Jacqueline Grahams Geburt zugegen gewesen und wurde mehr als Freund der Familie denn als Arzt betrachtet. Er hatte die Modernisierung von Westonbury durchaus begrüßt, denn obwohl mit der Vergrößerung der Stadt eine ganze Anzahl junger Ärzte sich hier niedergelassen hatte, war seine eigene Praxis ebenfalls gewachsen. Anders als Sir Christopher, beobachtete er daher mit Befriedigung, wie sich Westonbury aus einer verschlafenen Kleinstadt zu immer größerer Bedeutung entwickelte. Ihm gefielen die vielen Neubauten und die Fabriken, die überall am Rande der Stadt errichtet worden waren.

    »Was gibt es denn hier Geheimnisvolles, Roddy?«, fragte er vergnügt, als er dem Oberst die Hand schüttelte und ihm prüfend ins Gesicht sah. »Hm... Ihr Aussehen gefällt mir gar nicht - viel zu rot im Gesicht. Haben Sie etwa meine Warnung in den Wind geschlagen und Portwein getrunken?«

    »Ich habe schon ein ganzes Jahr lang keinen Portwein mehr angerührt«, erwiderte Graham gutmütig. »Aber warum, zum Teufel, müssen Sie immer den Arzt hervorkehren? Sehen Sie mich doch nicht an, als ob Sie mich im nächsten Augenblick auffordern wollten, Ihnen die Zunge herauszustrecken. Ich bin vollkommen in Ordnung!«

    »Nein, viel zu rot im Gesicht«, wiederholte Small kopfschüttelnd. »Aber vielleicht sind Sie jetzt erregt. Um was handelt es sich denn bei dieser Konferenz? - Guten Abend, Lacey.« Er schüttelte Sir Christopher die Hand. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auch hier sind.«

    Sein Ton hatte jede Herzlichkeit verloren. Er hatte nichts für Lacey übrig und gab sich keinerlei Mühe, seine Abneigung zu verbergen. So schwiegen denn die beiden Männer, als der Polizeidirektor das Zimmer verließ, um die Tür aufs Neue zu öffnen.

    Die Auffahrt sah jetzt wie ein Parkplatz aus, denn gleichzeitig waren drei Besucher angekommen. Geläutet hatte allerdings nur Oberinspektor John Parry von der Polizei in Westonbury, ein hochgewachsener, gutaussehender Mann von fünfundvierzig Jahren, mit militärisch straffer Haltung. Die anderen, die ihre Wagen jetzt am Rand der Auffahrt parkten, waren Pastor Horace Nettlefold, der Schriftsteller Reginald Paige und der große, vierschrötige Fabrikant William Sparrow.

    »Ich habe eigentlich gar keine Zeit für so etwas übrig, Oberst - stecke bis über den Hals in Arbeit -, aber da Sie ja Polizeidirektor sind, dachte ich, dass es doch geraten ist, nicht unfolgsam zu sein, wie?«, scherzte der Fabrikant. Seine dröhnende Stimme entsprach ganz seiner mächtigen Erscheinung. »Worum handelt es sich denn?

    »Da ist ja auch unser Seelenhirt, wie? Sie werden uns doch nicht etwa hergerufen haben, um an unsere Mildtätigkeit für den Kirchenfonds zu appellieren, wie?«

    »Wohl kaum«, meinte Pastor Nettlefold ärgerlich. »Ich habe jedenfalls keine Ahnung, warum der Oberst uns hierhergebeten hat. Aber wir werden es wohl bald hören.«

    Sparrow konnte nicht antworten, da Graham ihm jetzt Paige vorstellte, den er noch nicht kennengelernt hatte - und auch gar nicht kennenzulernen wünschte, denn der Schriftsteller war ihm auf den ersten Blick höchst unsympathisch.

    Sir Christopher Lacey äußerte einen nur halb unterdrückten Protest, als Graham die Neuankömmlinge ins Esszimmer führte und der Baron dabei Sparrow, den Fabrikbesitzer, erkannte. Er hatte nicht erwartet, sich mit ihm an einen Tisch setzen zu müssen - und mit Parry, der in Uniform erschienen war. Er, Sir Christopher Lacey, an einem Tisch mit einem Polizisten in Uniform!

    »Was soll das Graham?«, fragte er scharf. »Ich weiß, Sie sind Polizeidirektor, aber sollten Sie Ihre Berufsgeschäfte nicht lieber in Ihrem Amt erledigen? - Guten Abend, Parry. Ich habe nicht erwartet, Sie hier zu sehen.«

    Der Oberinspektor musste lachen.

    »Ich tappe genauso im Dunkeln wie Sie, Sir«, erwiderte er. »Aber der Oberst wird uns schon alles klarmachen. Ich zweifele nicht daran, dass er gute Gründe hatte, uns zu dieser Konferenz zusammenzurufen.«

    »Ich erwarte noch einen Gast, meine Herren. Wenn er jedoch nicht bald kommt, möchte ich ohne ihn beginnen«, sagte Graham unruhig. »Ich würde das allerdings bedauern, denn ich hatte den Wunsch, eine repräsentative Auswahl der prominentesten Bürger von Westonbury hierzuhaben. - Ach, das muss wohl Braun sein!«

    Er ging zur Tür und kehrte mit einem weißhaarigen älteren Herrn zurück, der eine dicke, randlose Brille trug. Professor Rudolf Braun war ein deutscher Wissenschaftler, von dem die ganze Stadt wusste, dass er sich mit elektronischen Experimenten befasste.

    »Was ist denn?«, fragte der Neuankömmling und blickte die Versammelten mit seinen kurzsichtigen Augen an. »Sie sagten mir ja gar nicht, dass Sie so viele Leute geladen haben, Oberst.«

    »Meine Gründe werden Sie noch erfahren, Professor«, antwortete der Oberst. »Setzen Sie sich bitte hierher!« Er wies auf einen leeren Stuhl. »Ich werde Ihnen sofort alles erklären. Inzwischen bedienen Sie sich bitte mit dem Whisky.«

    Die Gäste gehorchten gern; in den nächsten Augenblicken war außer dem Klirren von Gläsern, dem Knistern des Feuers und dem missbilligenden Brummen von Sir Christopher nichts zu hören. Der Gesichtsausdruck des Barons zeigte, dass er es bedauerte, gekommen zu sein. Wenn diese Leute hier eine repräsentative Versammlung prominenter Bürger vorstellen sollten, so sagten seine Blicke, dann war Westonbury nicht mehr zu helfen!

    Der Oberst hatte seine Gäste so platziert, dass er selbst am Kopf des Tisches, Oberinspektor Parry ihm gegenüber am Ende und von den anderen sechs Gästen je drei an einer Seite saßen. Es herrschte eine unbehagliche Stimmung, denn es lag eine gewisse Spannung in der Luft, eine Vorahnung, dass Graham eine peinliche Enthüllung zu machen habe.

    »Nun, meine Herren, ich will nicht wie die Katze um den heißen Brei herumgehen«, begann der Oberst plötzlich, nachdem er einen Schluck Whisky getrunken hatte. »Als Polizeidirektor von Westonbury hielt ich es für meine Pflicht, Sie - sieben prominente Bürger der Stadt - zusammenzurufen, um mit Ihnen einen Übelstand zu besprechen, der sich während der letzten acht oder neun Monate wie eine schleichende Krankheit in unserer Stadt verbreitet hat. Ich habe absichtlich meine Frau und meine Tochter für den Abend zu Freunden geschickt, damit wir das Haus ganz für uns allein haben. Unsere Köchin, der einzige Dienstbote, der im Hause schläft, hat heute ihren freien Abend.«

    Keiner der Anwesenden beachtete seine letzten Sätze, denn alle waren viel zu sehr mit den Worten beschäftigt, mit denen er seine Ausführungen begonnen hatte. Dabei sah niemand überrascht oder verwundert drein, nur die Spannung hatte sich verstärkt. Das zeigte sich darin, dass sieben Augenpaare wie gebannt  auf den Sprecher blickten. Oberinspektor Parry räusperte sich.

    »Ich ahnte schon, dass Sie uns zusammengerufen haben, um über dieses Thema zu sprechen, Sir. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihre Handlungsweise auch wirklich der Sache dient«, meinte er ernst. »Darum möchte ich Sie dringend bitten, es sich nochmals sorgfältig zu überlegen, bevor...«

    »Schon gut, Parry. Ich weiß genau, was ich tue«, unterbrach ihn der Polizeidirektor. »Ich glaube nämlich, dass der Zeitpunkt zu einem sofortigen und drastischen Eingreifen gekommen ist. Es ist höchste Zeit, dass wir dem bösen Fluch, der allzu lange einen Schatten auf unser Leben warf, ein Ende machen. Einige in diesem Zimmer - vielleicht alle - haben unter ihm zu leiden gehabt.«

    »Verdammter Unsinn!«, schnaufte Sir Christopher.

    »Verzeihung, ich verstehe Sie nicht ganz.« Professor Braun sah Graham verwundert an. »Sie sprachen von leiden...«

    »Sie verstehen mich ausgezeichnet, Braun«, fiel ihm der Polizeidirektor ins Wort. »Um Gottes willen, benehmen wir uns doch nicht so scheinheilig! Ich meine diesen üblen Schurken, der seit nahezu einem Jahr von uns Geld erpresst. Gott allein weiß, wieviel Geld dieser Vampir uns schon abgezapft hat, zusammen müssen diese Summen sicherlich ein kleines Vermögen ergeben. Wir, die hier zusammen sind, stellen nur einen Bruchteil der Opfer dar. Dutzende prominenter Bürger von Westonbury mussten zahlen - schwer zahlen -, um das Schweigen dieses unbekannten Verbrechers zu erkaufen. Meine Herren, ich spreche von anonymen Briefen, die aus Westonbury, einst der Wohnsitz fleißiger, glücklicher Menschen, eine Stätte des Schreckens gemacht haben, in der ein Nachbar den andern verstohlen mit Furcht und Argwohn beobachtet. Allzulange sind wir über all das schweigend hinweggegangen. Niemand hat es gewagt, selbst mit seinen engsten Freunden über dieses Thema zu sprechen. Ich glaube aber, dass nun die Zeit gekommen ist, um frei und offen diese Dinge zu besprechen, und darum habe ich Sie, meine Herren, in meiner Eigenschaft als Polizeidirektor hier zusammengerufen.«

    Auf seine Worte folgte ein langes Schweigen. Keiner der Anwesenden war gewillt, sich zu äußern; jeder wartete darauf, dass der andere das Wort ergriff. Das Gefühl des Unbehagens und der Unsicherheit stieg wie die Quecksilbersäule in einem Thermometer an.

    Sicher hatten verschiedene der Anwesenden wirklich anonyme Erpresserbriefe erhalten - und es war ebenso sicher, dass sie schwer an den Verbrecher gezahlt hatten, der die Erpressungskampagne führte. Trotzdem trafen die Worte des Obersten jeden der anwesenden Herren wie ein Schlag. Die kühne, offene Erwähnung des heiklen Themas hatte sie völlig überrascht. Graham wartete gespannt auf ihre Reaktion; sein Gesicht war ungesund gerötet, seine Augen leuchteten unnatürlich hell.

    »Sie haben mir nichts zu sagen, meine Herren?« Unvermutet, fast ärgerlich, brach er das Schweigen. »Wie steht es mit Ihnen, Parry? Sie sind doch der Beamte, dem der Fall der anonymen Briefe übertragen wurde! Was konnten Sie herausfinden?«

    Parry sah peinlich berührt aus. »Hier ist wohl kaum der Ort, und es ist wohl kaum der Augenblick...«

    »Ich behaupte aber, es ist der rechte Ort - und ganz bestimmt der rechte Augenblick!«, herrschte ihn der Direktor an. »Ich wiederhole nochmals, Oberinspektor: Was haben Sie herausgefunden?«

    »Nichts«, gab Parry zu und zuckte hilflos die Achseln. »Es ist mir ein Rätsel... Wie kann die Polizei handeln, Sir, wenn kein einziges Opfer zu uns kommt und uns informiert?« Sein Blick wanderte von einer Seite des Tisches zur anderen. »Sehen Sie, meine Herren, hier handelt es sich gar nicht um anonyme Briefe üblicher Art. Es sind vielmehr Briefe einer Art, mit der sich die Polizei bisher nicht zu beschäftigen hatte. Vielleicht haben einige von Ihnen solche Briefe erhalten. Ich weiß es nicht; sollte es der Fall sein, so haben Sie mir nichts davon gesagt. Ich kann verstehen, dass der Oberst uns hier zusammenruft...« Er brach ab und schluckte; er hatte wohl den Faden verloren. »Gewöhnlich enthalten anonyme Briefe schmutzige Beschimpfungen und obszöne Anklagen. Sie bezwecken im Allgemeinen nur, den Ruf des Opfers zu beflecken oder gar zu ruinieren. In den meisten Fällen ist der Schreiber eine neurotische, unbefriedigte Frau - ein scheinbar harmloser und unbescholtener Bürger, den niemand einer solchen Schmutzerei für fähig halten würde. Aber die Geißel von Westonbury hat einen gänzlich anderen, einen viel teuflischeren Charakter. Wir haben, weiß Gott, nur wenig Material, aber einiges wissen wir doch. Wir wissen nämlich, dass diese Briefe keine Beschimpfungen, keine Obszönitäten, keine Verleumdungen enthalten...«

    »Dafür enthält jeder Brief eine Forderung nach Geld - nach viel Geld!«, fiel ihm der Polizeidirektor ins Wort. »Jeder dieser Briefe zeigt, -dass der Schreiber genaueste Kenntnis eines Vergehens oder einer Unklugheit erlangen konnte, die der Empfänger des Briefes begangen hat. Für die Geheimhaltung hat das Opfer nun zu zahlen. Es muss zahlen - sonst wird alles enthüllt. Wir haben bis jetzt keinen Beweis, dass auch nur ein einziger der Empfänger die Zahlung verweigert hat. Denn das Entscheidende bei diesen gemeinen Forderungen ist ja, dass die Tatsachen, die der Erpresserbrief enthält, stimmen. Wer von uns hat noch nie eine Torheit oder eine Unklugheit begangen, die uns gesellschaftlich ruinieren würde, falls sie allgemein bekanntwerden sollte? Wir Bürger von Westonbury sind stolz - wir möchten, dass unsere Mitbürger gut von uns denken. Muss ich Sie daran erinnern, dass in den letzten drei Monaten zwei Mitbürger, die allgemein als ehrliche und anständige Menschen galten, Selbstmord begangen haben? Es waren normale, wohlhabende, zufriedene Männer, von denen niemand vermutet hatte, dass sie Grund zu einer solchen Tat haben könnten. Dennoch müssen sie ein Motiv gehabt haben, sich das Leben zu nehmen - und wir wissen, was sie zu ihrer Tat trieb. Ein anderer - ich will seinen Namen nicht nennen - flüchtete, finanziell und gesundheitlich ruiniert, auf den Kontinent.«

    »Aber was hat das alles eigentlich mit uns zu tun?«, fragte William Sparrow.

    Seine Stimme schallte drohend durch den Raum, als er jetzt aufstand. Nun wirkte er sogar noch mächtiger als er war, denn sein vierschrötiger Körper mit den gewaltigen Schultern war vor Zorn gespannt. Fast furchtsam blickten die anderen Anwesenden zu ihm hinüber. Sein blondes Haar war zerzaust, weil er sich mit seinen dicken Fingern hindurchgefahren war, und seine breite Nase, an der eine tiefe Narbe entlanglief, zuckte.

    »Wenn Sie sich noch etwas gedulden wollten, Sparrow...«, begann der Oberst.

    »Der Teufel soll alle Geduld holen!«, brüllte der Fabrikant. »Sie haben mich unter falschen Vorspiegelungen hierhergelockt! Ich weiß von diesen verdammten anonymen Briefen gar nichts! Ich habe auch keinem Erpresser Geld gezahlt! Meine Vergangenheit liegt offen vor aller Augen!«

    Er setzte sich. Ein betretenes Schweigen folgte. Gerade die Heftigkeit seiner Worte und sein aufflammender Zorn hatten den Fabrikanten verraten. Sein Leugnen war viel zu entrüstet gewesen, um überzeugend zu wirken. Einer der Anwesenden betrachtete ihn mit äußerster Abneigung. Es war Sir Christopher Lacey, der seinem Gastgeber zürnte, weil er ihn gezwungen hatte, mit diesem lauten, pöbelhaften Emporkömmling an einem Tisch zu sitzen.

    »Ich bedauere, dass Sie die Ruhe verloren haben, Mr. Sparrow«, sagte der Polizeidirektor, beugte sich vor und verschränkte seine schweißnassen Hände. »Wenn Sie zu Ende sind, werde ich mit meiner Darstellung fortfahren.«

    »Einen Augenblick...!« Die dünne, heisere Stimme, die diese Worte sprach, war die von Reginald Paige. Seine Worte klangen quäkend und doch irgendwie geziert. »Ich weiß

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