Grande Parure
Von Achim Hiltrop und Timo Kümmel
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Grande Parure - Achim Hiltrop
1.
Hamburg, 15.05.2020, 16:30
Die Reifen des dunkelblauen Tesla knirschten auf dem schneeweißen, säuberlich geharkten Kies, als der Wagen vor dem Haupteingang der vornehmen Villa der Familie Alberts zum Stehen kam.
Hans Palaschke griff nach seiner ledernen Aktentasche, die hinter ihm auf dem Rücksitz lag. Als er sie zu sich ziehen wollte, verteilte sich ihr Inhalt im Innenraum des Fahrzeugs. Palaschke fluchte. Er hatte diesen blöden Schnappverschluss doch zugemacht! Wozu kaufte man eigentlich teure Markenware, wenn die genau so schnell kaputtging wie der Ramsch aus dem Supermarkt?
Grummelnd klaubte er die Papiere, die er mitgebracht hatte, wieder zusammen und stopfte alles zurück an seinen Platz.
Er war noch nicht ganz damit fertig, als er ein feines Prasseln über sich vernahm. Palaschke sah auf.
»Na großartig!«
Ein feiner Regen hatte eingesetzt und wurde mit jeder Sekunde stärker. Palaschke konnte zusehen, wie die spärlichen Tropfen in wenigen Augenblicken zu einem ausgewachsenen Landregen anschwollen. Den adrett gepflegten Park, welcher die Villa und den davor parkenden Tesla umgab, sah er nur noch durch einen dichten Vorhang aus Wasser. Irgendwo in der Ferne rollte ein lang gezogener Donner wie ein dumpfer Trommelwirbel über den Himmel.
Palaschke schüttelte den Kopf. Heute hatte sich anscheinend alles gegen ihn verschworen. Er war den ganzen Weg von Köln nach Hamburg vor dieser Unwetterfront hergefahren und ausgerechnet jetzt, nur fünf Schritte vor dem Ziel, hatten ihn die Gewitterwolken eingeholt. Wie gut, dass er immer einen Regenschirm und seinen Trenchcoat im Auto hatte …
»Mist, verdammter!«
… im Kofferraum.
Palaschke konnte unmöglich den Schirm und den Mantel holen gehen. Der Weg um das Auto herum war genau so weit wie der Weg zur Tür der Villa. Sobald er einen Fuß aus dem Wagen setzte, würde er von oben bis unten durchnässt sein und er wollte weder den Termin mit seiner Mandantin nass bis auf die Knochen wahrnehmen noch seinen neuen Maßanzug ruinieren. Auf das Ende des Schauers warten konnte er auch nicht. Bei seiner Pechsträhne heute konnte es Stunden dauern, bis es wieder aufklarte.
Kurz entschlossen betätigte er den Anlasser und hupte zweimal.
Eine halbe Minute verging, ohne dass etwas geschah. Palaschke wollte gerade erneut hupen, als sich die Tür der Villa öffnete und ein junger Mann in der Livree eines Butlers erschien, der ihm zuwinkte, einen großen schwarzen Regenschirm aufspannte und damit an die Fahrerseite des Wagens eilte.
»Na bitte, warum nicht gleich so?« Palaschke öffnete die Autotür.
»Guten Tag, Herr Palaschke!«, begrüßte ihn der Butler. »Hatten Sie eine gute Fahrt?«
Palaschke winkte ab. »Der übliche Stau zwischen Osnabrück und Bremen, Stefan. Aber wenigstens war zu Hause das Wetter besser als hier bei Ihnen.«
Stefan zuckte mit den Achseln, während Palaschke den Tesla abschloss. »Das Wetter war den ganzen Tag eigentlich ganz schön.«
»Verstehe. Bis ich gekommen bin.«
Der junge Mann machte ein betretenes Gesicht. »Das wollte ich damit nicht sagen, Herr Palaschke.«
»Natürlich nicht.«
Sie beeilten sich, ins Haus zu kommen. Der Butler schüttelte den Schirm aus und stellte ihn zurück in den Schirmständer. »Einen Moment bitte, Herr Palaschke. Frau Alberts empfängt sie in ein paar Minuten.«
Palaschke runzelte die Stirn. »Ich bin ein wenig spät dran. Wir waren eigentlich schon für sechzehn Uhr verabredet.«
»Gewiss«, nickte Stefan. »Sie erwartet Sie auch schon. Sie ist nur ein wenig – wie soll ich sagen? – unpässlich. Sie hat ihre Medikamente nehmen müssen und sich einen Moment hingelegt, während sie auf Sie gewartet hat. Wenn Sie einen Moment im Salon warten möchten?« Der Butler öffnete die Tür zu einem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer. Palaschke trat ein und nahm in einem bequemen Ledersessel Platz.
»Darf ich Ihnen etwas bringen? Kaffee oder ein Glas Wasser?«
Palaschke kämpfte gegen den Impuls an, nach einem Tee zu fragen. Im Haus der Seniorchefin einer der ältesten und traditionsreichsten Kaffeeröstereien Deutschlands um einen Tee zu bitten, kam in den Augen von Wilhelmine Alberts bestimmt einer Majestätsbeleidigung gleich. Aber da er es sich mit seiner besten Mandantin nicht verscherzen wollte, stellte er seine persönlichen Präferenzen zurück. »Kaffee wäre prima, danke. Entkoffeiniert.«
»Selbstverständlich. Kommt sofort.« Der Butler machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn allein.
Palaschke schloss für einen Moment die Augen und genoss die ihn umgebende Stille. In all den Jahren, in denen er die Interessen der Familie Alberts vertrat, hatte er Momente wie diesen immer sehr genossen – die Augenblicke der Ruhe vor einem Gesprächstermin im Salon der Villa, wo nichts zu hören war außer dem Ticken der Standuhr, dem Knistern des Kaminfeuers und dem Prasseln der Regentropfen gegen die Scheiben des Wintergartens. Insgeheim wünschte er sich auch so ein Haus, aber leider reichte es bei ihm nur für ein Apartment im Kölner Stadtteil Kalk. Die beiden Scheidungen hatten seinen Kontostand nachhaltig beeinflusst. Nun ja, wenigstens lief die Kanzlei gut – unter anderem dank potenter Mandanten wie der Familie Alberts.
Nach einigen Minuten der Entspannung kehrte der Butler mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem eine Tasse mit schwarzem Kaffee einladend dampfte. Daneben standen ein winziges silbernes Milchkännchen und ein noch winzigerer Silberteller mit zwei Stück Würfelzucker. Er stellte das Tablett auf dem Tischchen vor dem Kamin ab. »Frau Alberts ist in fünf Minuten bei Ihnen.«
»Danke sehr.« Palaschke ließ den Würfelzucker in dem Kaffee verschwinden und nippte daran. Mit der Tasse in der Hand ging er im Salon auf und ab, bewunderte die Ölgemälde und die Teppiche, die Holzvertäfelungen und die kostbaren antiken Eichenmöbel. Die Familie Alberts wusste, wie man sich vornehm einrichtete.
Eine helle Frauenstimme riss ihn aus seinen Tagträumen. »Hansi!«
Palaschke drehte sich um. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der ihn trotz seiner mittlerweile sechzig Jahre noch immer mit Hansi ansprach. Er hasste nichts mehr, als so genannt zu werden, doch solange sie seine Rechnungen pünktlich bezahlte, machte er gute Miene zum bösen Spiel. Er schluckte seinen Stolz herunter und lächelte seine Mandantin freundlich an. »Frau Alberts!«
Wilhelmine Alberts stand in der Tür des Salons und hielt ihm die Hand zum Handkuss hin. Klein, faltig und inzwischen über neunzig Jahre alt, aber noch immer mit einem überaus wachen Geist und einem messerscharfen Verstand gesegnet, war sie die Seniorchefin der Hanseatischen Kaffee Compagnie und Matriarchin des Alberts-Clans, jener schon sprichwörtlich reichen Kaffeerösterfamilie, die seit Generationen die Geschicke der Hansestadt Hamburg mitbestimmt hatte.
Palaschke deutete eine Verbeugung an, die ihm dargebotene Hand geflissentlich ignorierend. »Schön, mal wieder in Hamburg zu sein. Sie sehen gut aus, Frau Alberts.«
»Du bist spät dran, Hansi. War viel Verkehr unterwegs?« Die alte Dame schlurfte an Palaschke vorbei und ließ sich schwer in das samtbezogene Sofa vor dem Kamin fallen.
»Kann man wohl sagen. Diese ewigen Baustellen …« Der Anwalt nahm wieder in seinem Sessel Platz und legte seine Aktentasche in seinen Schoß. »Und wie geht es Ihnen so?«
Sie seufzte theatralisch. »Mein Arzt sagt, ich soll derzeit nicht unter Leute gehen, solange dieses neuartige Virus im Umlauf ist. Im Betrieb läuft alles recht gut. Die Leute trinken auch in Zeiten von Pest und Pandemie ihren Kaffee, jetzt eben nicht mehr im Büro, sondern im … wie sagt man das auf Neudeutsch? Im Homeoffice. Ich soll dich übrigens ganz lieb von Jürgen grüßen.«
Palaschke heuchelte Verzücken. Jürgen Alberts, Wilhelmines Neffe, war der Geschäftsführer der Familienunternehmens und mit Abstand die unsympathischste Person, mit der Palaschke jemals geschäftlich zu tun gehabt hatte. Einer der wenigen Vorteile der derzeitigen Pandemie und den damit einhergehenden neuartigen Abstandsregeln war, dass der Anwalt jetzt nicht mehr in die Verlegenheit kam, Jürgen Alberts die Hand geben zu müssen. Mit dem feuchtkalten Händedruck des Mannes assoziierte Palaschke immer unwillkürlich tote Fische. »Danke. Schönen Gruß zurück.«
»Wie ich sehe, hattest du schon einen Kaffee. Möchtest du noch einen?«
Palaschke hob abwehrend die Hände. »Nein, danke.«
»Wie du meinst.« Die alte Dame orderte bei ihrem Butler eine Tasse Kaffee für sich. Die Zeit bis zu Stefans Rückkehr überbrückten Palaschke und seine Mandantin mit Small Talk. Dann, als Wilhelmine Alberts ihren Kaffee umrührte, öffnete Palaschke seine Aktentasche. »Ich denke, ich habe die Lösung für Ihr Problem.«
»Wirklich?« Wilhelmine setzte ihre Tasse ab. »Ich wusste gar nicht, dass ich ein Problem habe.«
Palaschke runzelte die Stirn. Hatte die alte Dame etwa schon wieder vergessen, worum sie ihn bei seinem letzten Besuch kurz vor Weihnachten gebeten hatte? »Die Grande Parure«, soufflierte er.
Wilhelmines Gesicht hellte sich auf. »Die Grande Parure!«, echote sie. »Du meinst wirklich, da kann man etwas machen?«
»Man kann.« Der Anwalt griff in seine Aktentasche und holte einen zerfledderten Stoß Papiere hervor. Ehe er seine Unterlagen auf dem Couchtisch ausbreitete, atmete er noch einmal tief durch. »Bevor ich Ihnen das hier zeige, muss ich Sie um äußerste Diskretion bitten.«
Wilhelmine blinzelte überrascht. »Natürlich.«
»Ich meine, was ich Ihnen jetzt sage und zeige, muss unbedingt unter uns beiden bleiben. Kann ich mich darauf verlassen?«
Die alte Dame lächelte verschmitzt. »Soll ich auf die Bibel schwören?«
Palaschke schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Hauptsache, Sie halten mich nicht für völlig übergeschnappt, wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen erzählen will.«
»Aber Hansi, du weißt doch: ›Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt‹«, dozierte Wilhelmine. »Nun spann mich doch nicht so lange auf die Folter.«
»Schön.« Er drehte den ersten Bogen Papier um und legte ihn vor Wilhelmine Alberts auf den Tisch. Es handelte sich um das Foto eines unscheinbar wirkenden Mannes von dreißig oder vierzig Jahren. Es schien aus großer Entfernung und heimlich aufgenommen worden zu sein, wie der Schnappschuss eines Paparazzos. »Darf ich vorstellen: John Kaiser. Privatdetektiv aus Berlin. Und möglicherweise der einzige Mensch auf der Welt, der Ihnen helfen kann.«
Wilhelmine studierte das Bild. »Ein hübscher Bursche. Was ist denn jetzt so speziell an ihm?«
Palaschke schürzte die Lippen. »Ich habe in der Vergangenheit schon mal mit ihm zu tun gehabt. Der Mann spürt Beweismittel mit einer unheimlichen Präzision auf, wie ich es noch nie erlebt habe. Das Seltsame daran ist, dass er sein Zimmer dabei nicht verlässt.«
Wilhelmine ließ das Foto sinken. »Bitte?«
»Ich kann es nicht erklären«, seufzte Palaschke. »Er schließt sich in sein Zimmer ein, dann kommt er nach ein paar Stunden wieder heraus und der Fall ist gelöst.«
Wilhelmine nippte an ihrem Kaffee. »Ich habe in den Achtzigern mal Yoga gemacht. Meinst du, das ist auch so eine Art Meditation, was er macht?«
»Keinen Schimmer. Aber was immer er macht, es scheint zu funktionieren. Sonst würde ich mich gar nicht trauen, es Ihnen gegenüber zu erwähnen.«
Wilhelmine leerte ihre Tasse in einem Zug und stand auf. »Einen Versuch ist es wert. Bring den Herrn Kaiser doch mal her.«
Palaschke wies auf sein Smartphone. »Wir könnten ihn erst mal anrufen oder mit ihm skypen.«
»Nein, bring ihn her. Ich will mir selbst ein Bild von diesem Detektiv machen.«
2.
München, 18.05.2020, 15:25
Ein Ruck ging durch die