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Hattinger und der verschollene Bruder: Ein Fall für Hattinger, Band 4
Hattinger und der verschollene Bruder: Ein Fall für Hattinger, Band 4
Hattinger und der verschollene Bruder: Ein Fall für Hattinger, Band 4
eBook390 Seiten4 Stunden

Hattinger und der verschollene Bruder: Ein Fall für Hattinger, Band 4

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Über dieses E-Book

Hattinger ermittelt im Todesfall des ­Unternehmers Herbert Graf. Wie ein Raubmord erscheint es nicht, doch Handy und Laptop des Opfers sind ­unauffindbar. Mit der Entdeckung der Leiche ­eines Mitarbeiters wird alles noch komplizierter. Und dann taucht auch noch Hattingers ­verschollener ­Bruder Anton auf, den er seit über 20 Jahren nicht gesehen hat und der nun sein Leben durcheinanderbringt. Als Anton unter die Verdächtigen ­gerät, vermischen sich Hattingers Berufs- und Privat­leben zu einem nerven­aufreibenden Fall.
SpracheDeutsch
HerausgeberPENDRAGON Verlag
Erscheinungsdatum22. März 2023
ISBN9783865328557
Hattinger und der verschollene Bruder: Ein Fall für Hattinger, Band 4
Autor

Thomas Bogenberger

Thomas Bogenberger wurde 1952 in Traunstein geboren und lebt heute in Prien am Chiemsee. Er komponiert Film-, Hörspiel- und Theatermusik und schreibt ­Krimis. Die ersten beiden Bände „Chiemsee Blues – Hattinger und die kalte Hand“ und „Hattinger und der Nebel“ wurden erfolgreich vom ZDF verfilmt. „Hattinger und die kalte Hand“ wurde als „Bester Fernsehfilm“ für die „Goldene Kamera“ nominiert.

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    Buchvorschau

    Hattinger und der verschollene Bruder - Thomas Bogenberger

    Heiligabend 2021

    1

    „Du Mainstreamdepp! Was willst du denn?!" Der spindeldürre Mann fuhr auf dem Absatz herum. „Glaubst du, dass ich mir von dir was sagen lasse?", geiferte er mit hochrotem Kopf.

    Aus unerfindlichem Grund riss er sich die Schirmmütze vom Kopf und warf sie auf den gläsernen Tresen der Bäckerei. Die Leute in der Warteschlange wurden langsam unruhig. Der eine oder andere zupfte seine Maske zurecht, während der Typ weiter auf Hattinger einschrie.

    „Von dir lass ich mir gar nichts sagen! Null!"

    Seine Körperhaltung deutete darauf hin, dass er sich bereit machte, seinem verbalen Warmlaufen Taten folgen zu lassen.

    Hattinger war amüsiert.

    „Mainstreamdepp? Der Ausdruck war ihm neu. „Danke, des nimm i jetz amoi ois Auszeichnung. Da ham S’ mein Wortschatz echt bereichert. Aber jetz ziagn S’ a Maskn o oder verschwindn S’, wiederholte er noch einmal die erfolglose Aufforderung der Verkäuferin. Sie hatte das noch etwas freundlicher formuliert.

    Der Schreihals ballte die Fäuste und machte einen leichten Ausfallschritt in seine Richtung.

    Hattinger hob das Kinn und fixierte den Mann.

    „Vorsicht, des kannt unangenehm wern", warnte er leise.

    Die Polizeimarke ließ er stecken.

    Es wurde ruhig in der Bäckerei.

    Einen Augenblick zögerte der Hitzkopf, schließlich entschloss er sich zum Rückzug.

    „Dann behaltet doch euren Scheiß, ihr Arschgeigen, fluchte er. „Mainstreamdeppen, alles Mainstreamdeppen!

    Er riss die Mütze wieder vom Tresen und zog sie auf seinen kahlen Schädel, der, der Farbgebung nach, kurz vor der Explosion stand.

    „Ihr seid doch alle gechipt! Corona gibt es gar nicht, das haben die Amis erfunden! Dann glaubt doch eurer Lügenpresse! Wann wacht ihr mal auf?!"

    Unter Absondern weiterer Hirnrissigkeiten, die er den genervt wartenden Kunden entgegenschleuderte, stakte er Richtung Ausgang.

    „Werdet ihr schon sehen, wenn sie euch ausgeknipst haben!"

    Die Logik dieses Satzes erschloss sich Hattinger nicht, aber mit Logik hatte das sowieso nichts zu tun.

    „Dann Ende Gelände! Ja, informier dich mal im Netz, du Schafskopf!!", brüllte der spillerige Typ noch mal in seine Richtung, sobald er sich in Sicherheit wähnte.

    „Herr, lass Hirn regnen", murmelte Hattinger.

    Als der Querkopf endlich aus dem Laden raus war, trat er noch gegen die Fensterfront, dass der Schneematsch aufspritzte.

    „Danke, sagte die erleichterte Verkäuferin zu Hattinger. „Die Typen wern oiwei giftiger. Was derfs denn sei?

    „Ham S’ no Brezn?"

    „Freilich."

    „Dann fünf Stück bitte. Und a Baguette."

    „Baguettes san scho aus."

    Na klar, Heiligabend, da konnte er schon froh sein, dass er noch Brezen kriegte um die Zeit.

    „Dann a Viertel Holzofenbrot."

    „Aber wartn S’ amoi, sagte die Verkäuferin, während er das Kleingeld abzählte. Sie packte ihm einen dicken Elisenlebkuchen mit Schokoglasur ein. „Fürs Helfen … Frohe Weihnachten.

    „Des is aber nett. Frohe Weihnachten", bedankte er sich.

    Hattinger nahm seine Tüten und machte sich auf den Weg. Wurde Zeit, endlich heimzukommen.

    Unter dem linken Scheibenwischer seines Wagens, den er auf dem Vorplatz der Bäckerei geparkt hatte, steckte in einer triefnassen Plastiktüte ein Strafzettel. Mist.

    Er sah die Politesse gerade noch ums Hauseck verschwinden – nein, es war wohl ein Mann, bei genauerer Betrachtung. Wie sagte man da jetzt politisch korrekt – Politeur? Verkehrsverwaltungsaufsichtsbeauftragter?

    Kurz überlegte er, dem Mann zu folgen und zu verhandeln, ließ es dann aber doch bleiben. Keine Lust auf Streit. Wäre vermutlich sowieso sinnlos.

    „Was, wiavui?", brummte er, als er den Betrag auf dem Strafzettel sah.

    Das war ja ganz schön happig, mit diesem neuen Bußgeldkatalog. Und alles wegen der fünf Minuten, die er zu spät gekommen war. Genau die fünf Minuten, die ihn dieser bescheuerte Typ gekostet hatte, verdammt noch mal.

    „Mainstreamdepp", das musste man sich mal geben! Unfassbar, verkehrte Welt. Wer versucht, sich seriös zu informieren, ist der Depp; der Querdenker, der nicht das eigene Brett vorm Hirn sieht, ,informiert‘ sich ,im Netz‘.

    Im Netz, ja klar! Aber bei wem wohl? Er konnte den Schwachsinn dieser Verschwörungsapostel nicht mehr hören, da musste man nur noch wütend werden. Zum aus der Haut fahren!

    Vor einem Jahr hatte er noch versucht, solche Typen mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen, aber inzwischen hatte er längst eingesehen, dass es sinnlos war. Was solls, dachte Hattinger, ich werde mir die Laune nicht verderben lassen.

    Nicht heute!

    Nicht an Weihnachten.

    Punkt.

    2

    „Wo Wotan wankt, wütet Wieland weiter! Waidwund."

    Werner Wagner deklamierte mit zitternder und doch inbrünstiger Stimme, als läge er nicht im Bett, sondern stünde auf der Bühne des Münchner Residenztheaters. Der alte Herr stützte sich mühsam auf die Ellbogen und hielt einen Moment inne.

    „Wahnsinn", schickte er krächzend hinterher.

    Schwester Ines kam mit einem feuchten Waschlappen aus dem Bad.

    „Was hamma gsagt, Herr Wagner?"

    Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie ihrem Patienten mit dem Waschlappen übers Gesicht.

    „So, und an Hals wasch’ma ah no a bissl …"

    „Waschen, waschen, waschen! Widerlich!"

    „Jaja, is scho recht, Herr Wagner. Die Altenpflegerin duldete keinen Widerspruch. „Es is halt notwendig, gell?

    „Waschweiber! Wieland würde wütend werden!"

    „Aber der Wieland, Ihr Bruder, der is doch scho vor drei Jahr gstorbn."

    Schwester Ines kannte die Familiengeschichte der Wagners schon in- und auswendig.

    „Wotan wars", wandte Werner Wagner ein und suchte nach einem weiteren Wort mit W. Er schien aber gerade kein passendes zu finden.

    „Stimmt. Der is ah scho lang dood!" Schwester Ines’ schneidend fröhliche Stimme dröhnte in dem spärlich möblierten Schlafzimmer.

    „Wotan … Wieland … Werner … Der alte Herr musste sich regelmäßig in die Familienchronik einsortieren, um nicht den Überblick zu verlieren. „Wotan, Wieland, Werner.

    „Genau. Und wie hat der Vater gheißn?"

    „Wolfgang. Werner Wagner reckte seinen dürren Zeigefinger Richtung Zimmerdecke. „Wohnt oben. Als er bemerkte, dass sich ein O-Wort eingeschlichen hatte, sank er stirnrunzelnd zurück in die Kissen.

    „So könnt ma’s auch sehn …"

    Schwester Ines wusste, dass Wolfgang Wagner nicht oben im Speicher wohnte, sondern auf dem Friedhof. Seit 30 Jahren. Er musste ein fanatischer Bewunderer Richard Wagners gewesen sein. Wer würde seine Söhne sonst Wotan oder Wieland nennen? Nur beim Jüngsten hatte er offenbar Gnade walten lassen, deshalb war der mit Werner davongekommen.

    „Wotan. Wieland. Werner."

    „Jaawoll, sehr schön, Herr Wagner. Wolln S’ no an Schluck Wasser?"

    „Wasser? Weichliche Weiber wählen Wasser. Herr Wagner umspannte seinen nicht vorhandenen Bauch mit den Händen. „Bier beglückt bajuwarische Bäuche!

    Schwester Ines lachte scheppernd. Den Spruch kannte sie noch nicht.

    „Wo S’ recht ham, ham S’ recht! Aber a Bier gibts trotzdem ned."

    Sie registrierte, dass Werner Wagner zum Anfangsbuchstaben B gewechselt hatte und fragte sich, welcher als nächster käme. Prognosen diesbezüglich waren schwierig.

    „Ich fahr Ihnen des Kopfteil noch a bissl hoch, bevor ich geh, gell? Ihre Schwester kommt ja nachher. Wolln S’ vielleicht lesn derweil?"

    Werner Wagner schüttelte den Kopf.

    „Ned? Ned amoi in Ihrem Buch?"

    Der passionierte Hobbydichter hatte vor vielen Jahren einen Gedichtband veröffentlicht, im Selbstverlag. Fünf Büchlein hatte er verkauft und etwa 50 verschenkt. Der Rest der 500 Bände ruhte in Erwartung der posthumen Entsorgung unter einer dicken Staubschicht im Speicher des Hauses. Bis auf den einen, der neben ihm auf dem Nachtkästchen lag, in dem er regelmäßig blätterte und hier und da mit krakeliger Bleistiftschrift Verbesserungen notierte, für die nächste Auflage. Aber gerade schien er keine Lust darauf zu haben.

    Werner Wagner starrte über das Fußende des Pflegebettes hinweg aus dem Fenster, während sein Oberkörper langsam hochfuhr.

    Schnee lag im Garten. Tauender Schnee. Nasser Schnee.

    Auch drüben beim Nachbarn.

    Aber da lag noch etwas Anderes. Der alte Herr kniff die Augen zusammen. Zitternd hob er den Arm und deutete aus dem Fenster.

    „L…", setzte er an, auf der Suche nach dem passenden Wort. „L…l…"

    Schwester Ines achtete nicht darauf. Sie schenkte ihm ein Glas Wasser ein. „So, jetz trinkn S’ an Schluck, a oider Mensch braucht vui Flüssigkeit, gell?"

    Werner Wagner nahm keine Notiz von ihr, er starrte weiter aus dem Fenster.

    „L…eiche!", rief er schließlich, als er in seinem Wortschatz fündig wurde. „Leiche. Leblos. Liegt labil …"

    „Aah, samma jetz beim L, Herr Wagner?, versuchte Schwester Ines den alten Mann zu beruhigen. „Dann kommen jetz bald die Lemminge, gell? Lemminge laufen letztlich lieber Lemmingen …, wie oft hatte sie das schon gehört.

    Ihr Patient ließ sich aber nicht ablenken. Er zeigte stur aus dem Fenster.

    Schließlich drehte sich Schwester Ines doch um und schaute hinaus.

    Auch sie kniff die Augen zusammen, dann stieß sie einen spitzen Schrei aus und ließ das volle Wasserglas in Werner Wagners Bett fallen.

    „Jessasmariaundjosef!"

    Zögerlich ging sie Richtung Fenster, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich sah, was sie sah.

    Als sie den ersten Schreck überwunden hatte, zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.

    3

    Hattinger streifte die triefnassen Schuhe ab. Mit spitzen Fingern hielt er sie hoch und ließ sie abtropfen, bevor er ins Haus ging. Er ärgerte sich über sich selbst. Natürlich waren Lederhalbschuhe bei dem Matsch vollkommen ungeeignet. Er stellte die Einkaufstaschen ab, warf die Schuhe in den Flur, zog die nassen Socken aus und angelte sich ein Handtuch aus dem Bad, um seine eiskalten Füße zu frottieren.

    Sauwetter. Es würde wieder keine weißen Weihnachten geben. Die letzten beiden Tage hatte es zwar ordentlich geschneit, aber heute war nur noch Matsch übrig. Für morgen prognostizierte der Wetterbericht 16 Grad. 16 Grad plus natürlich! Vielleicht sollte er grillen?

    Die Maske rutschte ihm aus der Jackentasche und landete in der Schuhpfütze. Mist. Er hob sie auf und knüllte sie zusammen.

    „Hey Paps, du bist ja wirklich da."

    Lena kam strumpfsockig die Treppe runter.

    „Vorsicht …"

    Hattingers Warnung kam zu spät, Lena stand schon in der Pfütze.

    „Bäh." Vorwurfsvoll hielt sie ihm eine nasse Fußsohle entgegen.

    „Ja mei, Matsch …"

    „Ach, sag bloß?" Sie zog ihre Socken aus.

    „Und überhaupt, hab i doch gsagt, dass i Weihnachten frei hab."

    „Na ja, nun. Das heißt ja noch gar nix."

    Lena war daran gewöhnt, dass der Herr Hauptkommissar immer gerade dann, wenn er sich an Feiertagen, Geburtstagen oder ähnlichen Festivitäten freigenommen hatte, mal wieder zu irgendeinem Mordfall gerufen wurde. Klar, als Leiter der Mordkommission war er im Prinzip dafür zuständig. Die Frage war nur: Mussten die Leute mit dem Morden immer auf irgendeinen Feiertag warten, um einem die Freude zu verderben? Gut, sie könnte auch in Hamburg wohnen, bei ihrer Mutter, wenn sie wollte. Aber sie hatte sich nun mal für Prien entschieden. Hier hatte sie wenigstens ein paar Freiheiten, gerade weil der Paps nie da war.

    „Die Mama hat übrigens schon wieder angerufen, fiel ihr ein. „Sollst sie jetzt mal zurückrufen. Dringend.

    „Mhm … Die Aussicht auf fernmündliche Kommunikation mit seiner geschiedenen Frau löste bei Hattinger wenig Begeisterung aus. Ihm fiel auf, dass er eine Tüte im Wagen gelassen hatte. „I hab no Essen im Auto.

    „Was gibts überhaupt?" Lena freute sich schon auf den Abend, ihr Dad kochte richtig gut, wenn er denn mal dazu kam. Seine Weihnachtsenten waren legendär.

    „I hab ma überlegt, vielleicht amoi koa Entn."

    Lena war enttäuscht. „Vielleicht amoi?, ahmte sie sein Bairisch nach. „Wann hast du denn die letzte Ente gebraten? Im Prä-Coronikum?

    Hattinger verzog es immer ein bisschen die Ohren, wenn Lena versuchte, Bairisch zu reden. Sie konnte es einfach nicht. War vermutlich seine eigene Schuld, weil er sich immer seiner Frau angepasst und nur Hochdeutsch mit Lena gesprochen hatte, als sie klein war. Zumindest seine Art von Hochdeutsch, den Bayern hörte man bei ihm immer durch.

    „Vor zwoa Monat, beantwortete er die Entenfrage. „Mittwochabend, mir ham Champions League gschaut, Bayern hat irgendwen erledigt. Scho vergessn?

    „Stimmt. Mit Orangen und Schokosoße. War übel gut."

    Hattinger musste lachen. Übel gut war gerade Lenas höchstmögliches Lob.

    „I mach a Roastbeef. Dazua mei Remoulad, Bratkartoffeln und an Chicoréesalat mit Mandarinen und Mandeln. Nachspeis machst du …"

    „Okay, hört sich solide an. Und was is mit den Weißwürsten?"

    „Die vernicht’ma jetz zum Frühstück. I hab frische Brezn mitbracht. Hattinger schaute auf die Uhr. „Spätstück, wenn ma’s genau nimmt. Wieso bist’n du überhaupt scho auf? San doch Ferien?

    Lena hatte die letzten Wochen tatsächlich Präsenzunterricht gehabt. Sie wollte ja dieses Jahr Abitur machen, nachdem sie letztes Jahr eine Ehrenrunde drehen musste, was ihm überhaupt nicht gefiel. Wobei er sich durch seine häufige Abwesenheit nicht ganz unschuldig fühlte.

    „Will halt Weihnachten mal ganztägig genießen, wenn du schon da bist. Hab sogar den Christbaum schon aufgestellt. Da guckst du, was?"

    Hattinger ‚guckte‘ natürlich nicht, aber er schaute reichlich verblüfft drein. Selbstständigkeit war er von Lena gewohnt, aber solche Aktivitäten am frühen Morgen?

    „Is irgendwas passiert?"

    „Mein Gott, jetzt sei doch nicht gleich so misstrauisch, Herr Kommissar! Was soll denn passiert sein? Ich musste heut sowieso früher aufstehen, weil ich nachher noch ne Fahrstunde hab."

    „An Heiligabend?"

    „Na, wenn man endlich mal wieder darf … Hab mir gestern sogar die Mozartkugeln aus deinem ungenutzten Süßigkeitendepot geklaut, um den Fahrlehrer zu bestechen. Ich will jetzt endlich diesen blöden Führerschein."

    „Die Mozartkugeln? Der werd si gfrein, die san mindestens 15 Jahr oid."

    Wenn Hattinger die Wahl zwischen Schokolade und Schinken hatte, entschied er sich für Schinken.

    „Wann hast die Fahrstund?"

    „Um zwölf."

    „Dann hamma ja no Zeit für die Weißwürscht. I hab an Mordshunger."

    Das Telefon läutete im Wohnzimmer.

    „Machst die scho amoi warm?", bat er Lena.

    Im Wohnzimmer fiel ihm auf, dass die kleine Tanne, die er gestern in letzter Minute zu einem astronomischen Preis-/Längenverhältnis erstanden hatte, perfekt gerade in den alten Christbaumständer eingestielt war.

    Das Telefon schien immer lauter zu werden, aber wo war es? Er entdeckte es schließlich unter einem Haufen abgeschnittener Tannenzweige.

    „Sag mal, Alfons, das dauert ja ewig, bis du mal an die Strippe kommst." Elke. Sie war die Einzige, die ihn beim Vornamen nannte, obwohl sie genau wusste, dass er das nicht leiden konnte.

    „Wieso rufst du eigentlich nicht zurück?"

    „Die Lena hat’s mir grad vor fünf Minuten ausg’richt!"

    Er hätte am liebsten gleich wieder aufgelegt, aber wenn Elke was wollte, würde sie sowieso nicht locker lassen. Er beschloss, es mit Deeskalation zu versuchen. „Frohe Weihnachten. Was gibts?"

    „Anton hat mich angerufen."

    „Wer?"

    „Anton …"

    „Was für a Anton?"

    „Anton! Dein Bruder! Mein Gott, kriegst du jetzt Alzheimer oder was?"

    „Wie, wa… Was?!Mei Bruada …?"

    Seinen älteren Bruder Anton hatte er bestimmt seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen und seit 20 Jahren hatten sie überhaupt keinen Kontakt mehr. Der lebte irgendwo in Südamerika. Den hatte er überhaupt nicht mehr auf dem Schirm.

    „Wieso ruaft der bei dir o?"

    „Er hat halt mich gefunden, über Facebook. Du bist ja nicht bei Facebook."

    „Und des mit Absicht." Er hätte aus dem Stand eine ausführliche Begründung liefern können, warum er Facebook ablehnte, aber das schien gerade nicht der richtige Augenblick zu sein.

    „Und? Was woit er?"

    „Deine Adresse. Er will dich besuchen über Weihnachten."

    „Was?!"

    „Mein Gott, Alfons! Jetzt führ dich doch nicht auf wie ein Neandertaler. Dein Bruder will dich über Weihnachten besuchen, wo ist das Problem? Du hast doch genügend Platz."

    „A… aber … wie, besuchen? Und du … hast eahm mei Adress gebn? Einfach so?"

    „Jaa-haa! Stell dir vor! Oder darf dein eigener Bruder deine Adresse nicht haben? Mal ganz abgesehen davon, dass er die auch ohne mich rausgefunden hätte."

    Hattinger umrundete den Christbaum.

    „I glaub i spinn … Und wann kommt er?"

    „Heute. Er müsste schon in Prien sein."

    „Und des sagst du mir jetzt?"

    „Hättest du gestern zurückgerufen, dann wüsstest du’s seit gestern. Also, wünsch euch schöne Feiertage. Und grüß mir das Lenchen! Tschühüss!"

    Hattinger mochte es nicht glauben.

    Sein Bruder …

    Er legte das Telefon gedankenverloren wieder zwischen die Tannenzweige, wobei er leicht den Christbaum touchierte.

    Die Nordmanntanne fiel so widerstandslos um, als hätte sie nur auf einen Anstoß gewartet. Dabei warf sie einen Großteil des Weihnachtsschmucks, den ihr Lena verpasst hatte, wieder ab. Hauchzarte Christbaumkugeln aus alten Familienbeständen zerschellten leise klirrend auf dem Parkett, fast zeitgleich übertönt von Lenas Aufschrei in der Küche.

    „Au Scheiße!"

    Ihr Kopf poppte quer im Türrahmen auf, wie im Comic.

    „Tut mir leid, Paps! Hab die Weißwürste platzen lassen."

    Sie setzte ihr typisches Sorry-ich-hab’s-verkackt-Lächeln auf.

    „Aber ich könnte neue kaufen? Fahrstunde fällt aus. Mein Fahrlehrer ist krank. Kein Corona, schreibt er, er hat nur Brechdurchfall."

    „Mhm. Mozartkugeln …"

    4

    „Wenn du nicht mal an Weihnachten Zeit hast, wenn ich schon mal frei hab, dann weiß ich nicht, ob das überhaupt noch Sinn hat mit uns?"

    Karl Wildmann stand am Küchenfenster. Der Regen löste den Schnee wieder auf, der seit vorgestern gefallen war. Es war ihm egal.

    „Ja, aber so ist es eben. Ich kann es nicht ändern, hörte er Manu sagen. Das Handy war laut gestellt. „Außerdem kommt doch sowieso wieder was dazwischen bei dir.

    „Woher willst du das denn wissen, Manu? Bist du Hellseher?"

    „Ist doch immer so. Ich nehm mir frei, ich komm zu dir und dann bist du weg. Ich pack das nicht mehr. In der Situation schon gar nicht, tut mir leid. Mach’s gut, Karl."

    „Manu, hör doch mal zu", sagte Karl Wildmann noch, aber die Verbindung brach ab.

    „Wir haben das doch ausgemacht", murmelte er und legte das Handy auf den Küchentisch.

    Er hatte den Moment kommen sehen, und trotzdem fühlte er sich überfahren. Aber was konnte er tun? Manu hatte ja recht, er musste immer weg. Fast immer. In den letzten zwei Wochen war ausnahmsweise mal nichts los gewesen. Er hatte sich sogar einen alten Fall mit nach Hause genommen. Aber das half jetzt auch nichts, er hatte eben über Weihnachten Urlaub genommen und nicht die letzten zwei Wochen. Extra wegen Manu. Was schwer genug war als Single, offiziell. In den Ferien wurden Verheiratete mit Kindern bevorzugt, klar.

    Über sein Privatleben wusste ja niemand was. Er hatte nicht mal dem Hattinger was gesagt, obwohl der schon ein paar Mal vorsichtig gefragt hatte. Schon lang wollte er dem Chef mal von Manu erzählen. Aber das war’s dann wohl mit Manu und dem Privatleben.

    Verdammt noch mal, ja, er war mit Leib und Seele Kriminaler, keine Frage, er ging in seinem Beruf auf, konnte Überstunden machen ohne Ende. Aber das hieß ja nicht, dass er nicht trotzdem manchmal gern … Er konnte gut allein sein, aber …

    Karl Wildmann stand immer noch am Küchenfenster. Ein trostloses Gematsche da draußen, das sah er sogar ohne Brille.

    Was sollte er denn jetzt machen, heute, an Heiligabend? Nicht, dass er mit Weihnachten religiös was am Hut hätte. Aber gefühlsmäßig ging das ja doch nicht ganz an einem vorbei. Früher war er an Weihnachten meistens zu seinen Eltern gefahren, wenn er keinen Dienst hatte, aber ausgerechnet dieses Jahr waren sie nicht da. Die Kanaren waren gerade mal kein Hochinzidenzgebiet, da hatten seine Eltern kurz entschlossen gebucht. „Gran Canaria, endlich mal wieder raus aus dem ganzen Schlamassel", hatte seine Mutter letzte Woche am Telefon erzählt.

    Hatten sie noch nie gemacht. Recht hatten sie. Er hätte trotzdem hinfahren können, aber was sollte er allein in München?

    Was tun also? Laufen, wandern? Alles nicht sein Ding. Fahrrad fahren, das Einzige, was er gern machte, fiel bei diesem Wetter aus.

    Essen gehen war auch schwierig, deshalb hatte er einen Haufen Zeug eingekauft, Kalbsschnitzel, Thunfischsteaks, Gemüse, Kräuter, Manus komplette Wunschliste. Und was sollte er jetzt damit? Kochen gehörte nicht zu seinen Kernkompetenzen, das war Manus Ding.

    Sogar ein paar Flaschen teuren Weißwein hatte er mitgebracht. Da standen sie, in Reih und Glied, neben dem Kühlschrank. Er machte sich nicht viel aus Alkohol. Er mochte dieses beduselte Gefühl nicht, er hatte lieber einen klaren Kopf. Damit war er schon auf der Polizeischule aus der Reihe gefallen. Die Kollegen hatten gern einen draufgemacht nach Feierabend – manche auch schon vorher.

    Im Moment half ihm sein klarer Kopf aber auch nicht weiter. Womit sollte er die Zeit totschlagen? Wein trinken, ein Kalbsschnitzel misshandeln und Fernsehen?

    Karl Wildmann ging rüber ins Wohnzimmer und schaltete das Radio ein: Keine Staumeldungen heute, dafür Inzidenzen, Prognosen, Impfquoten, neue Virusvarianten, und weil Weihnachten war, das unvermeidliche Last Christmas … Das war zu viel. Er drehte schnell wieder ab.

    Sein Blick fiel auf den Karton mit alten Ermittlungsakten. Vielleicht sollte er am Brunner-Fall weiterpuzzlen? Ungeklärter Mordfall vor 13 Jahren in der Nähe von Riedering, also praktisch hier um die Ecke.

    Du bist krank, sagte sich Karl Wildmann. Du hast Urlaub und dir fällt nichts Besseres ein als zu arbeiten. Das muss man sich mal geben! Er brütete eine Weile vor sich hin und bedauerte sich selbst. Beides war ihm eigentlich wesensfremd.

    Auf einmal kam ihm eine ganz verwegene Idee. Wenn sogar seine Eltern es schafften, einen Last-Minute-Urlaub zu buchen … Vielleicht sollte er auch einfach Richtung Süden abdüsen, ohne Arbeit und ohne Manu?

    Da Karl Wildmann zwar kein Draufgänger, aber durchaus ein Mann der Tat war, saß er fünf Minuten später mit einem Glas Weißwein am Laptop und arbeitete sich systematisch durch das momentan sehr überschaubare Angebot von Last-minute-Reisen. Dass er als gewünschtes Abreisedatum den ersten Weihnachtsfeiertag eingab, machte die Sache nicht leichter. Er suchte im Grunde eine Last-Second-Reise. Außerdem musste er am 2. Januar zurück sein zum Dienst. Alles mit eventueller Rückreise-Quarantäne kam also schon mal nicht in Frage.

    Nach zwei Stunden Recherche saß er immer noch da. Ein zweites Glas Wein hatte er sich nicht eingeschenkt, sodass die Wirkung des ersten zum Glück schon nachließ, als er einen Flug nach Malta fand. Interessant. La Valletta, südlichste Hauptstadt Europas, nur 6 000 Einwohner, auf einer gut befestigten Halbinsel gelegen; sah schön aus auf den Bildern, irgendwie mittelalterlich und modern zugleich. Hotels gab es auch noch und der Preis, na ja, coronabedingt kein Schnäppchen, aber okay. Und Malta war weitgehend durchgeimpft, das sprach auch dafür, weil er keine Quarantäne einhalten musste nach dem Rückflug. Im Moment zumindest.

    In der ihm eigenen Gründlichkeit arbeitete Karl Wildmann noch das Kleingedruckte durch, als in der Küche sein Handy klingelte.

    Nur noch 2 Plätze verfügbar, meldete das Buchungsportal.

    Er wollte nur sicherheitshalber noch sein Handy checken, bevor er auf Jetzt buchen klickte.

    Andrea Erhard rief an, seine Kollegin. Er beschloss, dranzugehen.

    „Karl? Servus. Die Andrea … Bist du da? Oiso, i moan, bist du dahoam, oder bist du weggfahrn?"

    „Hallo Andrea, nein, ich bin zuhause. Aber ich wollte … Wieso?"

    „Du Karl, i woaß, du hast ja eigentlich Urlaub, oder?"

    „Ja. Genau."

    „Was moanst du, sollt’ma dem Hattinger vielleicht a Weihnachtsgschenk machen?"

    „Ahm … ja, natürlich, gern, aber ist das nicht ein bisschen spät? Ich meine, die Geschäfte sind ja zu."

    „I woaß scho, Karl, aber es geht um ganz was anders."

    „Aha?"

    „Der Hattinger hat doch frei über Weihnachten. Und da hab i mir grad denkt, des wär doch a super Weihnachtsgschenk, wenn er dahoam bleim kannt. Und mir zwoa kanntn eahm die Arbeit abnehma. I hab nämlich grad a Meldung über an ungeklärten Todesfall in Breitbrunn. Normalerweis miassat da natürlich der Hattinger hin. Es sei denn, du und i … Aber du muasst natürlich ned. Vielleicht hast du ja an Besuch?"

    „Nein, Besuch nicht …"

    Karl Wildmann warf einen Blick auf den Bildschirm: Nur noch 1 Platz verfügbar!

    „Okay, ich komme. Er zuckte die Achseln und klickte die Seite weg. „Wohin?

    Verdammt, dachte er, der Manuel hat doch mal wieder recht gehabt.

    5

    Hattinger fuhr Richtung Breitbrunn. Er fühlte sich ein bisschen schuldig. Er hatte Lena allein gelassen, zumindest allein mit seinem Bruder, den sie ja gar nicht kannte. Eigentlich kannte er ihn selbst auch nicht mehr.

    Fünf Minuten nach seinem Telefonat mit Elke stand er vor der Tür, mit zwei verbeulten Alukoffern aus dem letzten Jahrtausend.

    „Du siehst scheiße aus, Hombre, sagte er zur Begrüßung. „Bist alt geworden.

    Hattinger sah ihn an. Es kam ihm vor wie eine Begegnung der dritten Art.

    „Des Kompliment gib i zruck. Servus Anton. Bin übrigens immer no sechs Jahr jünger wia du", antwortete er und deutete auf seines Bruders Nase.

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