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Kurzgeschichten und Leseproben
Kurzgeschichten und Leseproben
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eBook869 Seiten11 Stunden

Kurzgeschichten und Leseproben

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Über dieses E-Book

Probierhäppchen und kleine Kabinettstückchen aus der Qindie-Geschichtenküche.
Vier Autorinnen geben eine Probe ihrer Kunst und servieren Texthäppchen mit sehr unterschiedlichen Aromen. Es sollte also für jeden Kenner und Genießer etwas dabei sein:
Fantastisches und Romantisches, Fantasy und Crime, Steampunk und Thriller ... Suchen Sie sich aus, was Ihnen schmeckt.
Guten Appetit wünschen Selma, Simone und Susanne (und Franziska natürlich auch).

************************

ÜBER QINDIE
Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel!
Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: qindie.de

SpracheDeutsch
HerausgeberSimone Keil
Erscheinungsdatum17. Juni 2014
ISBN9781311456151
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    Buchvorschau

    Kurzgeschichten und Leseproben - Simone Keil

    Liebe Leserinnen, liebe Leser

    so viele Bücher, so wenig Zeit, um allen einen zweiten Blick zu gönnen. Deswegen dachten wir uns, wir tun uns einfach zusammen, sodass Sie auf einen Klick gleich eine große Auswahl an Lektüre haben.

    In diesem eBook finden Sie abgeschlossene Kurzgeschichten und Leseproben zu unseren Büchern aus den Genres Fantasy, Steampunk, Krimi und Liebesroman. Also für jede Stimmung und Lebenslage etwas Passendes.

    Viel Spaß beim Lesen und Stöbern

    Ihre Simone, Selma, Susanne und Franziska

    Simone Keil

    Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder

    Guy Lacroix: In den Krallen des Metamorphen

    Warum SIE schon wieder nicht abgelöst wurde (Und der Pfefferminztee ist immer kalt!)

    Michaela und die Tücken der Technik (Wer wollte denn die dämliche Nudelmaschine?)

    Corvidæ

    Keinmärchen

    Simone Keil

    Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder

    (Clockwork Cologne) Leseprobe

    Guy1_small

    1

    Fuchs hatte gute Arbeit geleistet. Ohne seinen unermüdlichen Einsatz hätten sie den Wechselbalg, wie die Presse den Verbrecher getauft hatte, nicht in dieser kurzen Zeit dingfest machen können. Guy Lacroix schüttelte die Hand des frischgebackenen Kommissärs. »Gute Arbeit, Fuchs. Ich gratuliere zur Beförderung.«

    »Danke, Herr Kommissär.« Fuchs deutete eine Verbeugung an. »Ich durfte vom Besten lernen, der Ruhm gebührt also Ihnen.«

    Lacroix winkte ab. »Am Ende zählen nur Erfolge. Und ich hatte meine Stücke vom Ruhm.« Er klopfte sich auf den leichten Bauchansatz. »Wahrscheinlich zu viele davon. Nun verschwinden Sie schon, Ihr Dienst ist beendet und Sie wollen sicher noch feiern. Also, Abmarsch, das ist ein Befehl. Wir sehen uns morgen zur Einsatzbesprechung am Frachthafen.«

    Fuchs schlug die Hacken zusammen und stürzte den Rest seines Champagners herunter. Er reichte Fräulein Schiermann das leere Glas, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er lachend zum Ausgang eilte.

    Die Sekretärin errötete. »Frecher Lümmel«, murmelte sie und räumte summend die leeren Gläser zusammen.

    Guy sah Fuchs nach und schüttelte leicht den Kopf. Ungestüme Jugend. Aber Fuchs war ein fähiger Polizist, in fünf, sechs Jahren konnte er Hauptkommissär sein.

    »So, dann wären nur noch wir beide übrig. Die alte Garde, sozusagen.«

    Lacroix drehte sich um. Er hatte gar nicht bemerkt, dass Molter noch anwesend war. »Alte Garde und bald altes Eisen«, antwortete er und schenkte Molter den Rest aus der Flasche ein. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich nichts draus, beim nächsten Mal sind Sie an der Reihe.«

    Molter nippte an seinem Glas und nickte langsam. »Ja, sicher.« Dann ging er ans Fenster und sah in den Hof hinaus.

    Lacroix betrachtete den gebeugten Rücken des Assistenten. Er wusste, dass es für Molter kein nächstes Mal geben würde, und Molter wusste es auch. Der Mann war zuverlässig, immer bereit Überstunden zu machen, wenn es nötig war. Aber ihm fehlte der Biss, Intuition, der richtige Riecher, das, was einem Polizeibeamten im Blut liegen musste. Deshalb war er immer noch Assistent und würde es für den Rest seiner Dienstjahre auch bleiben.

    Guy sah auf seine Taschenuhr. Wenn er zu spät nach Hause käme, würde Hedwig ihn teeren und federn. Er hatte versprochen, pünktlich zu sein.

    Er nahm seinen Mantel vom Haken und setzte den Hut auf. »Es wird Zeit für mich, Molter. Wir sehen uns morgen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er den Raum.

    Molter starrte noch einige Minuten aus dem Fenster, dann stellte er das halbvolle Glas ab und ging in das Büro der Assistenten, setzte sich an seinen Schreibtisch, entzündete die Lampe und nahm eine der Akten von dem Stapel. »Guter Molter«, murmelte er. »Machst Überstunden, kümmerst dich um die Ablage der Herren Kommissäre. Braver Molter.«

    Als Fräulein Schiermann die Lichter löschte und ihm beschwingt einen guten Abend wünschte, hob er nicht einmal den Kopf. Er hatte viel zu tun. Und er hatte Zeit, niemand wartete auf ihn. Niemand wartete auf den guten, alten Molter. »Dummer alter Mann«, sagte er und nahm den nächsten Ordner vom Stapel.

    Guy Lacroix ging die wenigen Blocks zu Fuß nach Hause. Der Abend war lau. Er atmete tief ein. Kaum Ruß in der Luft und es roch nur schwach nach Rauch. Fast wie früher. Er erinnerte sich an die Tage, als die Welt noch in Ordnung gewesen war, noch kein Schutzschild die Stadt vor der Strahlung schützen musste. Das war lange her, die Zeiten hatten sich geändert, die Menschen hatten sich mit ihrem Schicksal arrangiert. Was man nicht ändern konnte, musste man akzeptieren.

    Frau Lehmann winkte ihm zu. »Einen guten Abend, Herr Hauptkommissär«, rief sie fröhlich.

    Lacroix griff an die Krempe seines Hutes und nickte der Blumenfrau zu. »Einen besonders schönen Abend!«

    »Ich hab in der Zeitung gelesen, dass Sie das Monster gefasst haben. Endlich können wir wieder ruhig schlafen.«

    Ruhig. Wenn Frau Lehmann wüsste, was sich in den Armenvierteln abspielte, keine fünf Kilometer von ihrem Blumenstand entfernt, hinter hohen Zäunen und vergitterten Toren, sie würde kein Auge mehr zumachen. Vor Angst und vor Scham. Aber das waren Informationen, die die Zeitungen nicht druckten. Nicht drucken durften. Die Dampfmagische Gesellschaft beschützte die Bürger der Stadt vor schlechten Meldungen.

    »Sie können schlafen wie ein Baby«, sagte er. Es gab keinen Grund eine alte Frau zu beunruhigen, das Leben war schwer genug. »Ich brauche Ihren schönsten Strauß, Frau Lehmann, für die schönste Frau.«

    »Gibt es einen besonderen Anlass, Herr Hauptkommissär?«

    »Oh ja, den gibt es. Jeden Tag.«

    Frau Lehmann lachte auf. »Frau Lacroix hat großes Glück«, sagte sie. »Mein Frieder ist nun schon vor fast zwanzig Jahren gegangen.« Sie schüttelte den Kopf und fasste zwei Sträuße roter Rosen zusammen. »Aber er hat nicht leiden müssen, das haben mir die Ärzte versichert. Er hat nicht leiden müssen.« Sie nickte immer wieder, als wollte sie sich ihre Aussage bestätigen.

    Lacroix biss die Zähne zusammen. Friedrich Lehmann war im staatlichen Hospiz gestorben. Er hatte sich buchstäblich die Seele aus dem Leib gehustet. Guy hatte einige der Strahlenkranken sterben sehen und er wusste, wozu die Einrichtungen wirklich da waren. Ärzte gab es kaum, die armen Schweine in den völlig überbelegten Schlafsälen wurden am Leben gehalten, solange es möglich war, um möglichst viele Blausteine zu sammeln. Angehörige hatten keinen Zutritt, um die »Ruhe der Sterbenden« nicht zu stören.

    Alles hatte sich verändert nach dem großen GAU, auch die Menschen. Schlimme Ereignisse brachten immer das Beste im Menschen zum Vorschein – und das Schlechteste.

    Guy nahm den Strauß entgegen und drückte Frau Lehmann einige Scheine in die Hand.

    »Nicht doch, Herr Hauptkommissär!«, rief sie entrüstet. Doch er hatte sich bereits abgewandt und seinen Weg fortgesetzt.

    Wenige Minuten später öffnete Fräulein Weber ihm die Haustür. Sie nahm ihm Hut und Mantel ab und lief in die Küche, um eine Vase zu holen.

    »Du bist pünktlich!« Hedwig kam aus dem Wohnzimmer, sie war bereits für den Abend angekleidet. Guy sah sie stumm an. Perlen schimmerten in ihrem roten Haar. Ihre Augen leuchteten aufgeregt, die kleinen Fältchen vom Lächeln vertieft, der weiße Hals von einem schlichten Collier betont.

    Sie betaste ihre Frisur und sah an sich herunter. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

    Guy legte die Blumen auf die Kommode, nahm seine Frau in die Arme und küsste sie. »Ich bin der glücklichste Mann auf der Erde«, sagte er dann. »Was findest du nur an mir?«

    »Du bist dumm«, antwortete sie. »Wie kann jemand, der so klug ist, gleichzeitig so dumm sein?«

    Guy drückte seine Nase in ihr Haar und atmete den Duft nach frischen Limonen ein. »Ich bin eben vielseitig. Ist das der Grund, warum du mich liebst?«

    »Natürlich«, sagte sie. »Und weil du im Smoking so eine fantastische Figur abgibst. Also los«, sie deutete auf die Wanduhr, »zieh dich um, sonst verpassen wir die Ouvertüre.«

    Guy verzog das Gesicht, als sie sich aus seinen Armen wand und ihn unbarmherzig zur Treppe schob. »Fügen Sie sich in Ihr Schicksal, Herr Kommissär. Jeder bekommt, was er verdient.«

    »Du bist grausam«, sagte er lachend und stapfte die Treppe hinauf.

    Nachdem der letzte Ton verklungen war, herrschte vollkommene Stille im Cölner Opernhaus. Die Primadonna hatte die Augen geschlossen. Guy hielt den Atem an und Hedwig drückte seine Hand so fest, dass es weh tat. Dann brandete Applaus auf. Guy blieb auf seinem Stuhl sitzen, beobachtete die Menschen, die begeistert von ihren Sitzen sprangen, und spürte den Tönen nach, die trotz des Lärms noch immer in ihm nachklangen. Dann erhob er sich ebenfalls und fiel in die frenetischen Beifallrufe ein.

    Hedwig strahlte ihn an. Sie war glücklich. Und Guy war froh, dass er endlich ihrem Drängen nachgegeben und eine Vorstellung mit ihr zusammen besucht hatte. Die Musik, aber vor allem Edda Felices Stimme, hatten eine Seite in ihm berührt, die er viel zu tief in sich verschlossen hatte.

    Der Vorhang fiel zum wiederholten Male. Die Primadonna stand immer noch an ihrem Platz und neigte nur gelegentlich den Kopf, als perlten der Applaus, die Jubelrufe, die allgemeine Verzückung von ihr ab wie ein Frühlingsschauer von frischen Trieben. Sie schwankte ein wenig. Zwei Männer tauchten von der Bühnenseite auf, überreichten ihr ein riesiges Bouquet. Sie hakten sie ein und führten sie von der Bühne, obwohl das Publikum noch immer tobte.

    »Vollkommen«, sagte Hedwig, als sie im Foyer standen und Guy ihr in den Mantel half. »Professor Küpperbusch hat die vollkommene Stimme geschaffen. Es ist zu traurig.«

    »Traurig?« Guy drückte Hedwigs Hand, führte sie die Eingangsstufen hinab. »Traurig ist nur, dass du mich erst heute mitgenommen hast und ich viel zu viele Vorstellungen verpasst habe.«

    »Du Lügner!« Hedwig gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Wie viele Male habe ich dich schon gebeten, mich zu begleiten? Hundert? Tausend?«

    »Unendlich viele Male! Wie kannst du es nur mit einem solchen Banausen aushalten?«

    Eine Mietkutsche näherte sich und Guy hob den Arm. Hedwig nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und sah ihm tief in die Augen. »Ich liebe dich, du Banause.«

    Guy beugte sich zu ihr hinunter, berührte sacht ihre Lippen mit seinen. Das Hupen des Chauffeurs ließ sie auseinanderfahren. »Möchtest du noch etwas essen?«

    Hedwig schüttelte den Kopf. »Lass uns nach Hause fahren.«

    Sie stiegen in die Mietkutsche und Guy nannte dem Chauffeur ihre Adresse. Mit einem lauten Knall stieß das Automobil eine Dampfwolke aus und setzte sich in Bewegung.

    »Ich werde mich nie an diese stinkenden Gefährte gewöhnen«, sagte Hedwig. »Ich liebte das gemächliche Traben der Pferde, ihren Geruch, das Geräusch der Hufe auf dem Asphalt.«

    »Bei dieser Witterung mögen auch Pferdekutschen noch fahren können, aber wenn der Rußausstoß der Dampfkraftwerke wieder stärker wird …«

    »Ich weiß.« Mit einem Seufzen lehnte sie den Kopf an seine Schulter und Guy legte den Arm um ihre Schultern.

    »Was meintest du vorhin damit, dass es traurig sei? Die Primadonna war fantastisch, ihre Stimme ist die Krönung von Professor Küpperbuschs Schaffensperiode.«

    »Hast du nicht gesehen, wie sie schwankte? Den Schmerz in ihren Augen? Ihre Karriere neigt sich dem Ende zu. Bald werden die Apparaturen an ihren Stimmbändern Rost ansetzen, die Organe versagen. Sie steht schon länger auf der Bühne als alle anderen Primadonnen vor ihr.«

    Guy sah aus dem Fenster. Noch waren die Straßen voller Leben, aber bald schon würden sie sich leeren. Die DMG hatte eine Ausgangssperre ab 23.00 Uhr angeordnet. Tiefdruck war angekündigt worden.

    »Ich erinnere mich«, sagte er. »Ich habe seinerzeit einen Artikel darüber gelesen. Die letzte Primadonna brach auf der Bühne zusammen. Nachdem sie den letzten Ton gesungen hatte, hörte ihr Herz auf zu schlagen. Einfach so. Du hast recht, es ist traurig.«

    Die Mietkutsche stoppe vor ihrem Haus. Guy bezahlte den Fahrer und sie gingen hinein. Die Haushälterin half ihnen aus den Mänteln und fragte nach ihren Wünschen.

    »Wir sind wunschlos glücklich«, sagte Guy. »Sie können zu Bett gehen, Fräulein Weber.«

    Als sich die Tür zum Dienstbotenbereich geschlossen hatte, nahm er Hedwig auf die Arme und trug sie nach oben ins Schlafzimmer.

    2

    Guy stand mit verschränkten Armen am Fenster und sah auf die Straße. Die Sonne war gerade aufgegangen und ließ die geschwärzten Fassaden der Backsteinhäuser noch düsterer erscheinen. In diesem Teil der Stadt hielt sich der Verfall in Grenzen, kaum Unrat in den Gassen, nur wenige Bettler, die in den Hauseingängen kauerten, schmutzige Tücher um die Gesichter geschlungen. Doch auch diese hatten sich heute verkrochen. Keine Menschenseele war unterwegs. Selbst die Chauffeure schienen ihre Mietkutschen an diesem Tag in den Unterständen zu lassen. Eine gute Entscheidung.

    Es herrschte Tiefdruck und der Wind trieb den Ruß der Dampfkraftwerke durch die Gassen. Die schwarzen Wolken ließen schon an guten Tagen das Atmen zur Qual werden. An Tagen wie diesem grenzte es an Selbstmord, den Schutz des Hauses ohne Rußmaske zu verlassen. Doch Atemschutzgeräte waren knapp und teuer, in den kaiserlichen Warenhäusern schwer zu bekommen. Auf dem Schwarzmarkt erzielten die Hehler mit veralteten Geräten Höchstpreise, die nicht einmal schlichte Staubkörner filtern konnten, geschweige denn den schweren schwarzen Ruß, der die Stadt unter sich begrub wie böser Schnee.

    In Guy Lacroix' Besitz befanden sich natürlich eine Rußmaske und eine Schutzbrille, ebenso ein sechsschüssiger Revolver. Die Standardausrüstung der Kommissäre des Kaiserlichen Kriminalamtes. Er war so gut ausgerüstet, wie es in diesen Zeiten möglich war. Er hatte nicht die Wahl, in seinem Haus zu bleiben, er hatte seine Pflicht zu erfüllen, die heute darin bestand, im Hafenviertel einen Ambrosia-Händler festzunehmen.

    Er ließ die Trommel seiner Dienstwaffe rotieren und steckte sie in das Schulterholster. Dann zog er seinen schwarzen Gehrock darüber, richtete ihn und überprüfte den Sitz in dem großen Spiegel.

    Hedwig seufzte im Schlaf und er beugte sich über sie, betrachtete ihr Gesicht, die ein wenig zu große Nase, den Schwung ihrer vollen Lippen. Sie war noch so schön wie an dem Tag, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem zarten Hals, dem kleinen Leberfleck hinter dem rechten Ohr, ihrem Haar, das ihren Kopf umspülte wie rotes Schilfgras. Er küsste sie sacht auf die Stirn und sie öffnete die Augen.

    »Wo gehst du hin?« Sie zog ihn an sich, rieb ihre Wange an seinem stoppeligen Kinn. »Schon wieder ein Einsatz?«

    Ihre Stimme klang besorgt und Guy schüttelte den Kopf. »Nur eine Übung. Während der Ausgangssperre können wir das Hafengelände nutzen.«

    Hedwig schob ihre Hand zwischen den Knöpfen seines Hemdes hindurch und streichelte seine Brust. »Du könntest dich krank melden«, flüsterte sie. »Tag und Nacht stehst du auf Abruf bereit, du hast einen freien Tag verdient.«

    Sie nickte resigniert, als er ihr Handgelenk packte und einen Kuss in die Handfläche hauchte.

    »Es wird nicht lange dauern«, sagte er. »Versprochen. Dann gehöre ich wieder ganz dir.«

    »Du gehörst mir«, sagte sie und legte die Hand auf ihr Herz. »Hier drinnen halte ich dich gefangen. Für immer.«

    »Für immer.«

    Neben der Tür hing seine Schutzkleidung an einem Haken. Er griff seine Gasmaske und bemerkte nicht, dass er die Schutzbrille auf dem Nachttisch vergaß.

    Guy nahm den Weg durch die U-Bahntunnel. Einer der Eingänge lag nur wenige Schritte von seinem Haus entfernt und das unterirdische Schienensystem würde ihn direkt zum Hafen führen. Viele der Tunnel waren baufällig und die Bahn fuhr bereits seit zehn Jahren nicht mehr.

    Das Betreten der unterirdischen Anlage war unter Strafe verboten. Und tatsächlich hielten sich die meisten Bürger fern von den düsteren Tunneln, wenn auch nicht aus Furcht vor Strafe – der Arm des Gesetzes war viel zu kurz, um in die Tunnel zu reichen, die wenigen Beamten erstickten in Arbeit. Die Furcht, die die Bürger von den Tunneln fern hielt, wohnte tiefer. Tief unter dem Tunnelsystem, das sich unter der Cölner Innenstadt zu einem feinmaschigen unübersichtlichen Netz verästelte.

    Guy drehte die Kurbel der Taschenlampe, bis der Akku vollständig aufgeladen war und folgte dem Lichtkegel. Die meisten Fliesen waren von den Wänden gefallen, die Feuchtigkeit durchdrang die Mauern. Bald würde auch dieser Teil der Tunnel nicht mehr begehbar sein. Unter den Kachelhaufen raschelte es. Der Geruch nach Mäusedreck war durchdringend. Hinter der nächsten Gabelung stand eine U-Bahn, die Türen geöffnet, als wartete sie nur darauf, dass die Passagiere endlich einstiegen und sie losfahren konnte. Gespenstisch glitt das Licht der Taschenlampe über die blinden Scheiben. Gänsehaut kroch über Guys Arme, er fühlte sich beobachtet, hielt inne und lauschte in die Dunkelheit außerhalb seines bescheidenen Lichtkegels. Ein Klappern, Guy zuckte zusammen und atmete auf, als eine Ratte über die verrosteten Schienen huschte.

    »Dummkopf«, flüsterte er und schüttelte den Kopf. Die Tunnel beunruhigten ihn immer wieder, obwohl es nichts Gefährlicheres als Ratten und Mäuse und hin und wieder einen herrenlosen Hund hier unten zu finden gab. Die DMG hatte diesen Teil des Tunnelsystems systematisch abgesucht und für sicher befunden. Es gab keine Eingänge zur Unterwelt. Nicht hier.

    Tageslicht erhellte die Düsternis. Guy stieg die Treppe hinauf. Er setzte die Rußmaske auf und tastete nach seiner Schutzbrille. Verdammt! Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigte ihm, dass es zu spät war, um umzukehren und die Brille zu holen. Er würde ohne sie gehen müssen.

    Die Einsatzbesprechung fand in einem leer stehenden Lagerhaus statt. Inspektor Voigt sah auf seine Taschenuhr, als Guy eintrat und räusperte sich. »Nun, da alle anwesend sind, wird Kommissär Lacroix Sie mit den Details vertraut machen.«

    Guy nahm den Platz seines Chefs ein. Anwesend waren (außer Kriminalinspektor Voigt) Kommissär Fuchs und zwei Kriminalassistenten-Anwärter. Frischlinge, noch nicht trocken hinter den Ohren. Guy seufzte unhörbar, als er ihre jungen Gesichter betrachtete. Er würde froh sein können, wenn sie nicht über ihre eigenen Füße stolperten. Die Beamten des KKA waren völlig überlastet, so dass man dankbar sein musste, wenigstens Frischlinge zugeteilt zu bekommen. Der Einsatz würde durchgeführt werden und die zur Verfügung stehenden Beamten würden ausreichen müssen.

    »Meine Herren.« Er nickte den Kollegen zu. »Wir haben Informationen erhalten, dass heute um genau 9.00 Uhr die Übergabe stattfinden wird. Es handelt sich um Ambrosia im Wert von über tausend Cölnmark. Zielobjekte sind ein Straßenhändler und sein Zulieferer, sowie der Fahrer des Automobils. Reine Routine also und selbst mit unseren knappen personellen Möglichkeiten spielend zu bewältigen.«

    Inspektor Voigt zog die Mundwinkel nach unten. Für diesen unangemessenen Hinweis würde Guy eine Rüge kassieren, aber das war es ihm wert.

    »Kommissär Fuchs?« Der Angesprochene erhob sich. »Sie beziehen Stellung an der westlichen Ausfahrt und kümmern sich um den Wagen des Lieferanten. Unsere beiden Anwärter sichern das östliche Tor.« Nervös fingerte der Kleinere an seiner Waffe herum. Hoffentlich schoss er sich damit keinen Zeh ab. »Und ich«, fuhr Guy fort, »werde den Händler übernehmen. Ich beziehe Stellung hinter den Containern. Der Mann wird auf dem freien Gelände zwischen den Anlegeplätzen und den Lagerhallen leicht zu überwältigen sein. Der Einsatz wird keine fünfzehn Minuten dauern. Und das sollte er auch nicht, denn meine Frau wartet mit dem Frühstück auf mich.« Höfliches Gelächter. »Noch Fragen? Gut.« Er sah auf seine Taschenuhr. »Es ist genau 8.40 Uhr. Nehmen wir unsere Plätze ein.«

    »Danke, Kommissär.« Inspektor Voigt klemmte sich seine Aktentasche unter den Arm und zog den Hut auf. »Ich erwarte dann Ihren Bericht.«

    »Selbstverständlich, Inspektor. Gleich Montag früh haben Sie ihn auf dem Schreibtisch.« Guy sah seinem Vorgesetzten nach, als er zum Ausgang eilte, wo sein Dienstwagen mit laufendem Motor wartete. Er hatte das dringende Bedürfnis auszuspucken, besann sich aber, als er sich der Blicke der jungen Anwärter bewusst wurde. »Also, meine Herren, verlieren wir keine Zeit.«

    Die Burschen eilten auf den ihnen zugewiesenen Platz. Guy schüttelte Kommissär Fuchs' Hand und sah ihm nach, wie er sich beeilte, den westlichen Ausgang zu erreichen.

    Um 8.45 Uhr spannte Guy Lacroix den Hahn seines Revolvers und bezog Stellung hinter den Containern. Der Händler erschien pünktlich um kurz vor neun. Guys Pulsschlag erhöhte sich und doch war er ganz ruhig. Er drückte sich mit dem Rücken an den Containern entlang, der Ruß brannte in seinen Augen und trieb ihm die Tränen hinein.

    Der Händler lief auf die Kräne zu, wo soeben ein schwarzes Automobil zum Stehen kam. Das Gefährt dampfte und kleine Explosionen spuckten graue Wolken in die von Rußpartikeln geschwärzte Luft. Die Übergabe ging eilig vonstatten. Der Wagen fuhr davon, noch bevor sich die Tür des Fonds geschlossen hatte. Um ihn würde sich Kommissär Fuchs kümmern. Ein zuverlässiger Mann.

    Guy hob die Waffe. Der Händler passierte sein Versteck, blickt sich um, stockte kurz und lief eilig weiter. Guy sah im Augenwinkel eine Bewegung, schnellte herum und legte an. Eine Kugel streifte seinen Oberarm und zog eine schmerzende Furche durch sein Fleisch. Er riss den Revolver herum, folgte der Bewegung mit seinem Körper. Der Schrei einer Frau durchdrang seine Konzentration nur gedämpft. Guy drückte ab, einmal, zweimal, der Händler stürzte getroffen zu Boden.

    Wieder wandte Guy sich der Gestalt hinter seinem Rücken zu und sah, wie sie ebenfalls zu Boden sank. Irgendetwas, an der Art wie sie Arme in die Höhe riss, kam ihm vertraut vor. Vertraut und einzigartig.

    Hedwig Lacroix starb um 9.15 Uhr am 40. Jahrestag des großen GAUs. Nicht an den Folgen der magischen Verstrahlung, sie befand sich nur zur falschen Zeit am falschen Ort.

    Es war eine 8mm Kugel aus Kommissär Lacroix' Dienstwaffe, die an einem Stahlträger abprallte, abrupt die Richtung änderte, die Frontalplatte ihres Schädels durchdrang, eine Arterie zerfetzte, das Großhirn zerschnitt wie Butter und im Kleinhirn stecken blieb. Hedwig spürte keinen Schmerz. Zuerst verlor sie die Fähigkeit zu sehen, dann das Gehör.

    Sie hörte nicht das Brechen ihres Schädelknochens, als sie auf das Metallgeländer prallte, sah nicht das Entsetzen in Guys Gesicht, als er sie erkannte, spürte nicht seine Hände, die ihren Körper an sich rissen, seine Lippen, die sich auf ihre pressten.

    Es war still und dunkel, als Hedwig Lacroix für immer die Augen schloss. Die Schutzbrille ihres Mannes hielt sie fest umklammert.

    3

    Immer wieder ließ er die Trommel des Revolvers rotieren, einschnappen, rotieren, aufschnappen. Betrachtete die verbliebenen Kugeln, die beiden leeren Fächer. Guy lehnte mit dem Rücken am Schlafzimmerschrank, die schweren Vorhänge hielten das Licht fern. Die Umrisse der Möbel waren nur zu erahnen. Die Kommode mit der Waschschüssel, der Stuhl, auf dem sein Gehrock lag, die beiden Nachttischchen. Das Bett.

    Ein Klopfen drang ich sein Bewusstsein. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass es sein Hinterkopf war, der gegen den Schrank schlug und das Geräusch verursachte.

    Er hörte ihre Stimme, sah ihr Gesicht, ihr Lächeln, das sich im Halbschlaf auf ihre Lippen schlich, als er sie zum Abschied küsste. Und dann sah er sie stürzen, die Arme wie zu einem Winken über den Kopf erhoben. Immer noch klebte Blut an den Manschetten seines Hemdes, seiner Weste, seinen Händen.

    Ein weiteres Klopfen. Diesmal an der Schlafzimmertür. Fräulein Weber steckte den Kopf herein. »Herr Kommissär?« Als sie keine Antwort bekam, trat sie ein. »Bitte, Herr Kommissär, Sie müssen etwas essen und sich umkleiden. In einer Stunde beginnt die Trauerfeier.«

    Kommissär Lacroix erhob sich, schob die Haushälterin wortlos aus dem Zimmer und verriegelte die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und lauschte Fräulein Webers Schritten, die langsam die Treppe hinabstieg. Gedämpfte Stimmen von unten. Noch immer schnappte die Trommel des Revolvers klackend auf und zu. Rotierte. Schnappte.

    Dann entzündete er die Petroleumlampe und starrte in den Spiegel. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, das Haar war zerzaust, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Aber alles, was Guy sah, war Hedwigs Gesicht. Und wieder fiel sie und wieder presste er ihren leblosen Körper an sich. Er hob den Arm, steckte sich den kalten Lauf in den Mund und betätigte den Abzug. Nur ein Klicken.

    Guy atmete aus, legte den Revolver in den mit Samt ausgeschlagenen Kasten und schloss den Deckel. Er wusch sich mit kaltem Wasser, zog sich ein frisches weißes Hemd an, putzte seine schwarzen Schuhe, nahm eine Weste aus dem Schrank, betrachtete sie einen Moment und hängte sie zurück auf den Bügel. Dann nahm er die blutige Weste vom Bett und zog sie an. Gewissenhaft schloss er die Knöpfe. Als Fräulein Weber noch einmal an der Tür klopfte und ihn mit ängstlicher Stimme darauf hinwies, dass es höchste Zeit sei, setzte er gerade den Zylinder auf und streifte seine Lederhandschuhe über.

    »Ich bin soweit«, sagte er und Fräulein Weber stieß erleichtert den Atem aus.

    Bevor er mit ihr in die Eingangshalle ging, verstaute er den Pistolenkoffer im obersten Regal des Kleiderschrankes und würde ihn von Stunde an nicht wieder hervorholen. Nie wieder würde Kommissär Lacroix eine Schusswaffe anrühren. Niemals wieder.

    Die Worte des Priesters drangen als monotones Rauschen in Guys Bewusstsein. Die Stimme klang blechern, mechanisch verstärkt durch das integrierte Mikrofon seiner Rußmaske. Die Lautsprecher knarzten, gefolgt von einem schrillen Pfeifen. Schwarze Flocken fielen vom Himmel und wirbelten zwischen den wenigen Anwesenden umher. Fräulein Webers Schultern zuckten unkontrolliert. Sie weinte in ihre Schutzmaske. In der Hand hielt sie ein verschmutztes Taschentuch, mit dem sie über die Brillengläser wischte, die sofort wieder zugeschneit wurden.

    Hedwigs Sarg hing an Ketten über dem Loch. Das Grabmal, der Eingang zu den unterirdischen Krematorien. Aber für die Bürger Cölns war es nur das »Loch«. Bizarr. Das alles war zu bizarr, um ein Traum zu sein. Guy würde nicht aufwachen, Hedwigs Kopf in seiner Armbeuge, ihren Atem auf seiner Haut. Er würde schlafen und schlafen, bis an sein Ende.

    Guys Vater war noch in Erde beigesetzt worden, an der Seite seiner Frau. Mit einem Grabstein am Kopfende und Platz für Blumen und stilles Gedenken. Nachdem Paragraph 14 des Strahlenschutzprogramms in Kraft getreten war, rückten die Maschinen an. Zerpflügten die Beete mit ihren Ketten, rissen die Steine von den Grabstätten, nahmen den Toten ihre Namen, den Hinterbliebenen den Ort, an dem sie ihnen nahe sein konnten.

    Eine Notwendigkeit, hatte es die DMG genannt. Bürgermeister Bauer hatte die Hände gerungen und mit betretener Stimme verkündet, dass die Exhumierung der Leichen ein notwendiges Übel sei, eine unvermeidliche Schutzmaßnahme. Die Jungfer hatte sogar geschluchzt, bevor sie ihm mit kaum hörbarer Stimme zustimmte. Und die Schafe haben nicht einmal mehr geblökt. Zu groß war die Furcht vor der Strahlenkrankheit und die Unsicherheit über das tatsächliche Ausmaß der Bedrohung.

    Guy wusste, was die DMG wirklich damit bezweckte, er hatte die Akten gesehen, bevor sie mit Sicherheitsstufe Blau gekennzeichnet und weggeschafft wurden. Er ballte die Fäuste, die Nägel gruben sich tief in seine Handflächen, aber er spürte es nicht. Der Schmerz, der in ihm loderte, überdeckte alles andere. Die Stimme des Pfaffen, das Knirschen der Zahnräder, als die Apparatur sich in Bewegung setzte und der Sarg langsam in die Tiefe pendelte.

    Hedwig würde brennen und Guy brannte mit ihr.

    4

    Ich habe es geschafft. Es war lächerlich einfach und fast bin ich ein wenig enttäuscht, dass meine Kenntnisse ausreichten, der Materia ihre Geheimnisse zu entlocken. Sollte nicht mehr dahinter stecken? Komplexere Vorgänge, unbekannte Zusammensetzungen? Aber es handelt sich nur um eine Verbindung aus den Grundstoffen des Lebens mit Ætherblau, die sich rasend schnell zu etwas ganz neuem entwickelt hat. Und sie entwickelt sich immer weiter. Während ich diesen Satz schreibe, verändert sie ihre Form abermals, und bevor die Tinte getrocknet ist, hat sie eine andere Gestalt angenommen.

    Sie belauert jede meiner Bewegungen, wehrt sich aber weder gegen die Untersuchungen, noch dagegen, dass ich Proben entnehme. Sie regeneriert sich. Sobald ich ein Stück entnommen habe, entsteht neues. Sie ersetzt nicht nur das Fehlende, sie scheint sich zu verbessern. Ich bin mir sicher, dass sie lernt. Sie ist intelligent.

    Was könnte ich entstehen lassen, wenn es gelänge, die Materia mit menschlichem Leben zu verbinden … Krankheiten gehörten bald der Vergangenheit an. Die Menschheit würde zu einer ganz neuen, widerstandfähigeren Spezies werden, die in der Lage wäre, sich auf alle erdenklichen Gegebenheiten einzustellen. Selbst die verstrahlten Gebiete könnten wieder bevölkert werden. Und natürlich der Mond. Die Ætherraumfahrt machte einen in hundert Jahren nicht zu erreichenden Entwicklungssprung, in wenigen Jahrzehnten könnten wir das gesamte Weltall bevölkert haben.

    Ich bin aufgeregt wie ein Schuljunge und schäme mich dessen nicht. Magister Pötts wäre unglaublich stolz auf mich, wenn er mich jetzt sehen könnte. Aber wer weiß, vielleicht kann er das bald tatsächlich wieder.

    Ich beginne mit Versuchen an Tieren. Felix, mein treuer Kater, wird der erste sein.

    Ich habe die Quintessenz der Materia extrahiert und zusammen mit einer Lösung aus Wasser, Sodium, Chlor, Proteinen, Glukose, acidum lacticum und urea auf 37 Grad erhitzt. Es ist soweit. Meine Hände zittern. Das ist ein denkwürdiger Tag.

    Absolon Quast legte die Feder in die Schale und verschloss das Tintenfass. Versonnen kraulte er den Kopf des Katers, der sich auf seinem Schoß zusammengerollt hatte und leise schnurrte. In seinem Kopf kreisten die Gedanken wie Strudel, spülten Worte, Formeln und Thesen durch seinen Geist. Er ging jeden Schritt noch einmal durch, suchte nach Fehlern, nach möglichen Abweichungen, unvorhersehbaren Entwicklungen, spontanen Mutationen, kam aber immer wieder zu dem gleichen Schluss. Es war möglich. Aber es schien so einfach, dass er seinen Berechnungen nicht traute. Sein ganzes Leben hatte er nach dem Allheilmittel – dem Panacea – gesucht, genau wie sein Meister und alle Alchemisten davor. Konnte es ihm auf so lächerlich einfache Weise in den Schoß gefallen sein? Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und setzte den Kater auf den Boden, stand auf und schnitt eine Rinderleber in kleine Stückchen. Der alte Kater humpelte hinter seinem Herrn her, strich um seine Beine und maunzte.

    »Ja, mein Bester.« Absolons Stimme klang belegt. Er steckte einige Stücke der rohen Leber in den Mund und kaute gedankenverloren, dann wischte er sich über die Augen, bevor er die restliche Leber in die Futterschale gab. »Es wird dir nichts geschehen«, sagte er. »Ich verspreche es. Du wirst sehen, es wird dir besser gehen. Dein Bein wird heilen, deine Augen werden klar.« Wie um seine Worte zu bestätigen, nickte er immer wieder. »Es wird dir gut gehen.«

    Der Kater leckte die Schale sauber und Absolon nahm ihn auf den Arm. Er trat vor den Flüssigkeitsbehälter und küsste seinen alten Freund auf den Hinterkopf. Dann warf er ihn in die Nährlösung und verschloss den Deckel. Der Kater kämpfte. Er strampelte und versuchte sich an der Glaswand festzukrallen, rutschte aber immer wieder ab. Schließlich ließen seine Kräfte nach und er sank auf den Grund; seinen Blick hilfesuchend auf Absolon gerichtet, bis zuletzt.

    »Es wird alles gut«, sagte Absolon noch einmal. Dann goss er sich eine Tasse Tee ein und tat einen kräftigen Schuss Weinbrand hinzu, setzte sich in seinen Ohrensessel und wartete.

    Er hatte das Richtige getan. Man durfte der Wissenschaft keine Zügel anlegen, sie musste frei und ungehindert laufen können. Sie musste sich entwickeln, sonst starb sie, wurde unnütz und verstaubte wie ungelesene Bücher in den Regalen der Stadtbibliothek.

    Eine Stunde verging. Felix rührte sich nicht und der Zweifel begann an Absolon zu fressen wie ein Krebsgeschwür. Die Wanduhr tickte unnatürlich laut. Die Zeit arbeitete gegen ihn. Je länger es dauerte, desto unwahrscheinlicher wurde die Aussicht auf einen Erfolg.

    Der Tee war längst kalt geworden und die Flasche Weinbrand zur Hälfte geleert, als Absolon die Augen zufielen.

    Absolon schreckte auf und hob schützend die Hände vors Gesicht, dann besann er sich, wischte den Schlaf aus den Augenwinkeln und sah zu dem Behälter. Lange starrte er den Glasbehälter mit der Nährlösung an. Er hatte keine Hoffnung mehr gehabt, seinen Kater gesund und lebend vorzufinden, nach so langer Zeit, doch was er vorfand war nichts, gar nichts. Felix hatte sich komplett aufgelöst.

    Absolon rieb sich über die Stirn und ging auf und ab, Formeln und Zutaten vor sich hinmurmelnd – auf der Suche nach einem Fehler, nach irgendetwas, das ihm entgangen sein mochte. Aber er konnte keine Lücken entdecken, alles passte zusammen wie exakt aufeinander abgestimmte Zahnräder.

    »Du bist zu ungeduldig.« Magister Pötts hustete. »Das warst du schon immer, Absolon.« Die letzten Worte waren nur noch ein heiseres, schleimbelegtes Röcheln.

    »Ihr seid wach?« Absolon nahm die Lampe von seinem Schreibtisch und ging zu seinem Meister. Seine Hand zitterte, als er den schweren Vorhang zur Seite zog und in die Nische trat. Er drückte ein Taschentuch auf Mund und Nase und unterdrückte ein Würgen.

    Magister Pötts‘ Haut war von grünen Marmorierungen überzogen, Blasen hatten sich an Hals und Armen gebildet und die Zunge hing wie eine fette Made zwischen seinen Lippen hervor. Aber das Schlimmste war der Gestank, der wie ein riesiger Blutegel an dem dürren Körper klebte.

    »Ich kann deine Gedanken hören«, sagte Magister Pötts und lachte röchelnd. Seine Zunge wippte dabei, als führte sie ein Eigenleben. »Es geht zu Ende.«

    »Nein! So etwas dürft Ihr nicht sagen.« Absolon stellte die Lampe auf den kleinen Tisch und ergriff nach kurzem Zögern die Hand des Magisters. Kalt und schwammig lag sie in seiner. Eine Blase in der Handfläche des alten Mannes platzte auf und zähe Flüssigkeit ergoss sich über Absolons Finger. Er unterdrückte den Wunsch, die Hand des Magisters von sich zu werfen wie ein ekliges Reptil, legte sie stattdessen sachte ab und wischte sich die Finger an seiner Kutte sauber.

    Er kontrollierte die Schläuche, die Blut und Sauerstoff durch den Körper pumpten. Die Maschinen arbeiteten einwandfrei und doch verfiel er immer schneller. Der Verwesungsvorgang schritt unaufhaltsam voran.

    »Ja«, sagte er dann. »Es geht zu Ende. Ich kann nichts mehr für Euch tun. Ich habe versagt.«

    »Du musst lernen, geduldiger zu sein. Wissenschaft braucht Zeit, um zu reifen.« Wieder das röchelnde Husten. Gelber Schleim troff aus einem Mundwinkel.

    »Zeit«, sagte Absolon leise, »ist das Einzige, das uns nicht zur Verfügung steht. Es schien alles so klar, so einfach. Alles fügte sich ineinander und doch muss ich etwas Entscheidendes übersehen haben. Die Materia hätte sich mit Felix verbinden, ihn heilen, erstarken, zu etwas Neuem und Besserem formen müssen. Stattdessen hat sie seinen Körper vollständig aufgelöst. Das ist mir unbegreiflich.« Er begann vor dem Bett auf und ab zu gehen, leise vor sich hinmurmelnd. Selbst den Gestank nahm er nicht mehr wahr.

    »Vielleicht war eine Katze nicht das richtige Versuchsobjekt. Tierkörper sind unseren einfach nicht ähnlich genug. Du solltest es an Menschen testen.«

    Absolon blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Menschen?«, fragte er. Er hatte selbst schon mit dem Gedanken gespielt, ihn aber immer wieder beiseitegeschoben. Menschen. Er nickte. »Ihr habt recht, Meister. Schlaft jetzt und spart Eure Kräfte.«

    Er schloss den Vorhang, warf sich den Mantel über und zog die Kapuze tief ins Gesicht. Bevor er aus dem Laboratorium eilte, nahm er den Behälter mit der wirkungslosen Lösung vom Feuer und goss den Inhalt in den Abfluss. Menschen. Es war der einzige Weg. Der richtige Weg.

    Die Janusklause war bereits zu dieser frühen Stunde voller Menschen. Aber an diesem ewig dunklen Ort spielte die Tageszeit keine Rolle. Viele der Menschen, die tief unter Cölns Straßen lebten, hatten lange schon kein Tageslicht mehr gesehen – einige noch nie.

    Absolon suchte sich einen freien Tisch in einer Nische, etwas abseits des Trubels, und beobachtete die Gäste. Zwielichtige Gestalten, denen die Dummheit aus den Augen schien, die nichts als die Befriedigung ihrer Gelüste im Sinn hatten. Blausüchtige, Trinker, Spieler, Hurenstecher – allesamt eitriger Auswurf, der schlimmer stank als Magister Pötts‘ verwesender Körper.

    Ein Mädchen kam an seinen Tisch und er bestellte einen Krug Bier. Sie musste neu hier sein, er kannte sie nicht. Er sah ihr nach, als sie sich auf dem Weg zur Theke mit wiegenden Hüften zwischen den Betrunkenen hindurch schlängelte. Festes weißes Fleisch, schlanke Fesseln, knospende Brüste, das Gesicht noch nicht vom Alkohol gezeichnet oder von der Syphilis entstellt. Wie alt mochte sie sein? Elf, zwölf Jahre? Absolon leckte über seine Lippen. Als sie das Bier vor ihn auf den Tisch stellte, packte er ihr Handgelenk. Er konnte die Ekelwellen spüren, die ihr bei der Berührung seiner knotigen Finger durch den Körper schossen, doch sie versuchte nicht, sich aus dem Griff zu lösen.

    »Wann findet die nächste Auktion statt?«, fragte er.

    Sie schüttelte den Kopf und sah sich ängstlich um. Absolon ließ eine Münze über den Tisch rollen und steckte sie wieder in die Tasche. Er ließ ihre Hand los und schlug die Kapuze zurück. Das Mädchen atmete flach. »Ich kenne Euch«, sagte sie. »Ihr seid Magister Pötts‘ Schüler.« Ihre Blicke glitten über die Narben in seinem Gesicht. Unbefangen musterte sie das grobmaschige rote Netz, das die rechte Seite vollkommen bedeckte.

    Absolon schüttelte den Kopf. »Der bin ich, doch du kennst mich nicht.« Seine Stimme wurde zu einem rauen Flüstern. »Und du solltest es dir auch nicht wünschen.« Er hielt ihr die Münze hin und sie schnappte sie ihm aus der Hand, berührte dabei seine Finger. Wieder das unwillkürliche Zittern ihres Körpers. Daran war Absolon gewöhnt und es kümmerte ihn nicht. Nicht mehr. »Also«, sagte er. »Die Auktion. Wann findet sie statt?«

    »Übermorgen«, flüsterte sie und wandte sich um.

    Wieder griff er ihr Handgelenk und zog sie zu sich heran bis er ihren Atem auf der Wange spüren konnte. Mit der anderen Hand griff er unter den Rock und berührte das zarte Fleisch ihrer Schenkel, ließ die Finger langsam nach oben gleiten, beobachtete, wie ihr Gesicht sich vor Ekel und Furcht verzerrte. Dann stieß er sie von sich und machte eine abwehrende Handbewegung. »Geh«, sagte er.

    Sie flüchtete ins Gewimmel der betrunkenen, lauten, schmutzigen Gestalten, ohne sich noch einmal umzusehen. Absolon hob die Hand an seine Nase und schloss die Augen – sog ihren Duft ein und bewahrte ihn in dem kleinen schwarzen Kästchen in einem weit abgelegenen Raum seines Geistes auf.

    Er leerte seinen Krug und machte sich auf den Heimweg.

    Zwei Tage. Es war unwahrscheinlich, dass er Magister Pötts‘ Körperfunktionen noch zwei Tage aufrechterhalten konnte. Er würde das Gehirn seines Meisters isolieren müssen.

    ***

    Feuer, Erde, Wasser, Luft. Und das fluoreszierende Blau, das alles zu etwas Vollkommenen einte. Auseinandergestoben, verflüchtigt, verloren und gefunden. Weggeschwemmt und zerrissen, aufgelöst, verdampft und herabgeregnet. Kreisläufe, die so einfach und einzig sind, und so besonders wie die Made, die irgendwann ihre schimmernden Flügel ausbreitet; wie ein Ahornblatt im Herbstwind; ein Tropfen, der sich mit anderen eint, zu fließen und zu strömen beginnt, um im unendlichen Meer zu enden und wieder aufzusteigen.

    Doch was treibt die Tropfen dem Meer entgegen, was bringt die Made dazu, sich zu verpuppen? Warum klammert das Blatt sich nicht an seinem Ast fest und lässt sich stattdessen willig vom Baum reißen, wissend, dass dies das Ende bedeutet?

    Hunger. Hunger nach Vollkommenheit, nach Wissen, nach Wandlung. Nach Leben.

    Und die zerstobenen, verwässerten Moleküle regten sich im Abwasserkanal, erinnerten sich ihrer Form, ihrer Zusammenhänge, suchten und fanden sich. Entstanden neu, anders, gleich und einzig.

    Felix erwachte in einem kalten stinkenden Rinnsal. Verfaulte Essensreste und Fäkalien schwammen um ihn herum. Er schüttelte sich das Fell aus, watete an den trockenen Rand und begann sich zu putzen. Pedantisch leckte er jeden Winkel seines Körpers sauber. Als er seine Genitalien säuberte, spürte er ein Ziehen in den Hoden, das durch seinen gesamten Körper schoss wie ein elektrischer Schlag. Wie lange war es her, dass er so etwas gespürt hatte? Er hielt inne und schnupperte an seinem Fell. Er roch anders. Es war nicht der Gestank des Abflusses, den er so intensiv wahrnahm, da war noch etwas Anderes, Frisches, Starkes. Etwas, das ihn die Krallen ausfahren und ein tiefes Knurren ausstoßen ließ. Noch niemals hatte er eine solche Kraft in sich wahrgenommen.

    Aus der Dunkelheit schälten sich die Umrisse von Körpern. Sie näherten sich vorsichtig, mit aufgeregt wedelnden Schwänzen. Katzen und auch einige Kater strichen um Felix‘ Körper, rieben sich an seinem Hals, boten ihm den Hintern dar. Er beschnupperte jeden einzelnen von ihnen, lernte sie kennen und zu unterscheiden, teilte jedem einen Rang zu. Dann zog er los, sein Gefolge im Schlepptau, ohne zu wissen, wohin er wollte, was er tun wollte. Aber das war nicht wichtig, er wusste, dass er alles erreichen konnte – was das war, würde er zu gegebener Zeit schon herausfinden.

    5

    Guy lehnte mit dem Rücken an einer Mauer, keuchte, riss sich die Krawatte vom Hals, die Rußmaske vom Gesicht, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Die dicke Luft brannte in seinen Lungen, er versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

    Als der Sarg im Boden verschwunden war und die Eisentüren mit einem Scheppern zuschlugen, hatte Guy sich umgedreht und war gegangen. Er hatte die Blicke in seinem Rücken gespürt, gehört, wie Fräulein Weber seinen Namen rief. Keinen Moment länger hätte er diesen Ort ertragen können. Die Sinnlosigkeit der Beisetzung, die keine Beisetzung war. Sie würden ihre Leiche öffnen, in ihr herumwühlen wie Stadtstreicher in Mülltonnen. Auf der Suche nach Blausteinen, dem Grundstoff für das, was die Welt anzutreiben schien. Ambrosia. Dieses verdammte Teufelszeug. Guy wischte sich über die Augen und sah sich um. Der Turm des Doms ragte über den Häuserdächern auf. Er musste über eine Stunde ziellos durch die Straßen gelaufen sein. Der Schmerz hatte ihn gefangen genommen, alles andere ausgeblendet, ihm den Hals zugeschnürt. Er brauchte etwas zu trinken. Etwas Starkes, etwas, das ihm half, den Schmerz zu bändigen, der in ihm tobte.

    Auf der anderen Straßenseite flackerten Laternen über dem Eingang eines der bekannten »Etablissements«. Ein Hurenhaus, Treffpunkt für zwielichtiges Volk und angesehene Bürger. Guy lachte bitter. Gab es einen Unterschied? Vielleicht hatte es den einmal gegeben, aber das war lange her.

    Er steckte seine Schutzmaske in die Manteltasche und ging über die Straße, wich einem Automobil aus und öffnete die Eingangstür. Süße, warme Luft schlug ihm ins Gesicht. Und der Geruch nach hochprozentigen Träumen.

    Ein donnernder Knall, kurz darauf ein zweiter. Guy schreckte herum. Über den Dächern der gegenüber liegenden Häuser stieg eine Rauchwolke auf. Jemand schrie. Guy setzte sich in Bewegung, rannte über die Straße und bog in die nächste Gasse ein. Glassplitter und Backsteine bedeckten die Pflastersteine, in einer Häuserfront klaffte ein riesiges Loch. Alles war voller Qualm, der die schwere Luft noch schwerer machte.

    Männer rannten auf die Unglücksstelle zu. Ein kleines Mädchen lief weinend zwischen ihnen umher. Aus einer Stirnwunde rann Blut. Eine Frau schrie, riss das Kind an sich, verschwand im Qualm. Eine Trillerpfeife schrillte. In der Ferne heulten Sirenen. Einige Männer bildeten eine Kette. Wassereimer wurden durchgereicht, in die Hausöffnung geschüttet. Es roch nach Feuer, aber keine Flammen waren zu sehen. Durcheinanderrennen, Schreien, Weinen.

    Nur ein Mann ging unbeteiligt durch das aufgeregte Treiben. Er richtete seinen Hut, schlang den Schal fester um den Hals, hielt sich dicht an den Häuserwänden.

    Guy griff nach seiner Schutzmaske und wurde zu Seite gestoßen. Er prallte gegen einen herabgestürzten Balken, stolperte, fing sich ab und sah, wie der Mann um die Ecke bog.

    Verfluchtes Anarchistenpack! Guy nahm die Verfolgung auf. Als der Mann die Unglücksstelle hinter sich gelassen hatte, beschleunigte er seine Schritte. Gelegentlich sah er über die Schulter, aber Guy hielt sich im Schatten und drückte sich in die Hauseingänge, wenn der Verdächtige stehen blieb, oder den Kopf wandte. Er bog in eine Gasse ein. Guy legte einen kurzen Spurt ein. Vor der Abzweigung blieb er stehen, lauschte, zählte tonlos bis fünf, erst dann bog er ebenfalls in die Gasse ein.

    Düster erhoben sich die Häuser zu beiden Seiten, im Rinnstein häufte sich Unrat, es roch durchdringend nach Urin. Kein Mensch war zu sehen. Langsam ging Guy weiter. Vor einer schmutzigen Schaufensterscheibe blieb er stehen. Über der Ladentür hing kein Schild, das einen Hinweis auf die Art der Waren gab, die hier angeboten wurden. Guy legte die Hände ans Gesicht, drückte die Nase an der Scheibe platt und versuchte etwas von den Auslagen zu erkennen. Ein Bunsenbrenner, ein offener Koffer, in dem Reagenzgläser auf abgegriffenem Samt lagen, eine billig aussehende Wasserpfeife.

    Die Türglocke klingelte und Guy griff geistesgegenwärtig in die Innentasche seines Mantels, steckte seine Pfeife in den Mund und kramte in den Taschen nach Streichhölzern.

    Der Mann steckte ein in alte Zeitungen gewickeltes Päckchen ein und kam direkt auf Guy zu. »Feuer?«, fragte er und riss ein Streichholz an, ohne Guys Antwort abzuwarten. Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen, er musterte den Kommissär aus wachen, blauen Augen. Guy saugte die Flamme in den Tabak und blies eine Rauchwolke aus. Er nickte dem Rücken des Fremden zu, der sich bereits umgedreht hatte und langsam in die Richtung ging, aus der sie eben gekommen waren.

    Guy paffte noch einen Kringel in die Luft und ging dem Mann nach. Also ein Spaßvogel. Na, mal sehen, wer am Ende lachen würde.

    Diesmal hielt er weiteren Abstand, verließ sich auf sein gutes Gehör und seine Intuition. Nach einer ganzen Stunde ziellosem Umherschlenderns blieb der Verdächtige vor einem Mietshaus stehen, lehnte sich an die Hauswand und zündete sich eine Zigarette an. Guy wartete hinter dem Schutz eines ausgebrannten Automobils. Er hatte Zeit. Viel Zeit.

    Eine gute halbe Stunde und drei Glimmstängel später schlüpfte der Mann in einen Hauseingang. Wenige Sekunden danach flackerte hinter einem Fenster im ersten Stock ein Gaslicht auf. Touché!

    Die Haustür war verschlossen, neben den Klingeln waren keine Namensschilder angebracht. Im Untergeschoss des Mietshauses befand sich eine Wäscherei. »Fräulein Loni bügelt mit Dampf«, stand auf einem selbstgezimmerten Holzschild über dem Fenster. Guy klopfte gegen die Scheibe.

    Eine junge Frau öffnete und lehnte sich mit verschränkten Armen auf das Fensterbrett. »Wir ham schon zu«, sagte sie. »Kutt morge fröh widder.«

    Guy setzte ein Lächeln auf. »Deswegen bin ich nicht hier, obwohl ich in Zukunft sicher meine Wäsche in Ihre zarten Hände legen werde. Fräulein Loni, nehme ich an?« Die Angesprochene kicherte und strich sich eine verschwitzte Strähne aus der Stirn. »Ich möchte meinen Bruder besuchen«, fuhr Guy fort. »Er wohnt im ersten Stock.«

    »Ach, der Havener«, sagte sie. »Ene feine Häär. Trägt nur gestärkte Hemden und das sogar Wochentags!«

    »Genau, das ist er. Wären Sie wohl so freundlich, mir die Tür zu öffnen? Wir haben uns seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen und ich möchte ihn überraschen.«

    Fräulein Loni schloss das Fenster, einen Augenblick später erschien sie in der Haustür. »Bitte, dä Häär«, sagte sie und knickste unbeholfen. »Dann künnt ehr im glich sage, dat sing Hembde fäädig sin.«

    Guy ergriff die Hand der jungen Frau und deutete einen Handkuss an, was sie in lautes Lachen ausbrechen ließ. Er blinzelte ihr noch zu und stieg die Treppe hinauf.

    Nach zweimaligem Klopfen hörte er in der Wohnung eine Tür zuschlagen und jemand bellte ein knappes »Ja?«

    Guy räusperte sich. »Fräulein Loni schickt mich mit den Hemden.«

    »Sagen Sie ihr, dass ich sie morgen abhole.«

    »Fräulein Loni lässt ausrichten, dass sie morgen geschlossen hat – ein Todesfall in der Familie -, deswegen soll ich dem Herrn die Hemden persönlich bringen.«

    Ein Moment Stille, dann drehte sich der Schlüssel im Schloss. Als der Mann erkannte, wer vor seiner Tür stand, hatte Guy sich bereits Zugang zur Wohnung verschafft.

    Havener starrte ihn verblüfft an. Gemütlich zog Guy seine Pfeife heraus und steckte sie in den Mund. »Sie hätten nicht zufällig Feuer?«

    Die Augen des Verdächtigen blitzten, er kniff die Lippen zusammen und sah Guy eine Weile lang an. »Also«, sagte er dann. »Was wollen Sie von mir?«

    Guys Pfeife qualmte, er steckte die Streichhölzer in seine Tasche zurück. »Antworten. Ich will Antworten.« Erst jetzt sah er sich in der Wohnung um. Ein kleiner Tisch, auf dem ein voller Aschenbecher und mehrere benutzte Gläser standen, ein abgenutzter Sessel. Ein leeres Bücherregal. »Nett haben Sie er hier, Herr Havener. Verraten Sie mir doch bitte, was einen feinen Herrn, der selbst wochentags nur gestärkte Hemden trägt, in eine solche Absteige treibt?«

    »Es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen Herr …«

    »Lacroix. Wie unhöflich von mir. Guy Lacroix, Kommissär im Dienste des Kaiserlichen Kriminalamtes.« Guy zeigte seine Dienstmarke, auf die Havener nicht einen Blick verschwendete.

    »Herr Kommissär, ich habe mich keines Verbrechens schuldig gemacht, Sie belästigen einen unbescholtenen Bürger.« Er wies auf die Tür. »Gehen Sie. Bitte.«

    Blitzschnell drehte Guy Haveners Arm auf den Rücken und drückte den Mann an die Wand. »Sie haben ein Wohnhaus in die Luft gejagt, Sie verdammter Anarchist, und dafür werden Sie büßen.«

    Zu Guys Verwunderung lachte Havener. »Anarchist? Sie haben keine Ahnung, Lacroix. Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich anlegen.«

    »Ich kenne dich. Dich und deinesgleichen. Und ich habe noch jeden von euch kleingekriegt.« Ein gezielter Schlag in die Nieren. »Warum lachst du nicht mehr?« Ein zweiter folgte und Havener sackte keuchend zu Boden.

    Guy nahm die Handschellen vom Gürtel, zerrte den Mann zum Bett und kettete ihn ans Kopfende. »Du musst nicht reden, wenn du nicht willst«, sagte er. »Ich kriege dich, so oder so.« Er wandte sich zu der offenen Tür, die in eine kleine Küche führte. Bevor er sie betrat, drehte er sich noch einmal um. »Geh nicht weg, hörst du?«

    »Ich habe Freunde.« Havener hustete und hielt sich die Seite. »Die werden Sie zur Rechenschaft ziehen, Kommissär. Ich bin sicher, dass Sie nicht scharf auf eine Dienstaufsichtsbeschwerde sind. Aber Sie können jetzt einfach gehen, dann vergesse ich den Vorfall.«

    »Ich gehe«, sagte Guy, »sobald ich mit meiner Arbeit fertig bin.«

    Auf dem Herd stand eine Pfanne mit Rühreiresten, auf dem Tisch ein schmutziger Teller und eine halbleere Milchflasche. Ansonsten war der Raum so kahl wie das andere Zimmer. Guy klopfte die Bodendielen ab, eine davon schien locker zu sein. Er zog sein Messer, hob sie an und griff in den Hohlraum, tastete und fühlte einen Beutel. Er zog ihn heraus und breitete den Inhalt des Beutels auf dem Tisch aus. Dabei biss er die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kieferknochen knirschten.

    Durchsichtige Phiolen, von deren Inhalt ein Leuchten ausging. ætherblaues Leuchten. Ambrosia.

    Er trat in den Türrahmen und starrte Havener an, der auf dem Bett lag und aufhörte, an den Handschellen zu zerren, als er Guy bemerkte. Aber Guy sah nicht den Mann, nicht das Bett, nicht das Zimmer. Er sah Hedwig.

    Hedwigs nackten Körper auf einem kalten Stahltisch. Geschlossene Augen, bleiche Haut. Männer mit Skalpellen in den Händen. Blitzende Klingen, die die Hautschichten durchdrangen, das Fleisch. Hedwig. Er ballte die Fäuste. Knochensägen, Knirschen und dröhnendes Brechen. Blut. Überall Blut.

    Ein Schrei. Ein Wimmern. Guy sah seine Faust auf Haveners Nase hämmern, hörte Knochen brechen. Er starrte auf seine blutigen Knöchel. Öffnete die Faust, schloss sie wieder. Und schlug erneut zu. Seine Fäuste hämmerten auf die Wangen, die Schultern, die Brust. Der Mann zog die Beine an, versuchte sich zu schützen.

    Verdammter Drogenhändler! Ein Schlag in die Rippen. Ein Treffer ins Zwerchfell. Der Kiefer. Guy konnte nicht aufhören, den Körper mit Schlägen zu traktieren. Er wollte nicht aufhören. Er wollte sehen, wie das Stück Dreck litt. Litt wie die armen Schweine, denen er das Teufelszeug andrehte, die ihre Töchter verkauften, ihre Frauen auf den Strich schickten für ein paar Stunden Linderung ihrer Schmerzen, die danach umso gewaltiger zurückkehrten.

    Der Mann hatte aufgehört sich zu bewegen. Guy starrte auf den Körper auf dem Bett, das blutverschmierte Laken. Seine Augen waren zugequollen, die Lippen aufgeplatzt und angeschwollen, das ganze Gesicht ein Gebilde aus Blau und Rot. Blutrot.

    Guy nahm das Handgelenk des Bewusstlosen, fühlte den Puls. Gut. Dann nahm er ihm die Handschellen ab, steckte sie in die Tasche, klaubte die Phiolen mit dem Teufelszeug vom Küchentisch.

    »Hedwig«, flüsterte er. »Ich hätte dich ihnen nicht überlassen dürfen. Es tut mir leid. Es tut mir so leid«

    Er ging aus der Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.

    Draußen atmete er tief ein und aus. Hustete. Jetzt brauchte er wirklich etwas zu trinken.

    Guy richtete seine Kleider und zündete die Pfeife an. Ohne Eile ging er die Straße entlang. Einige wenige Gaslaternen beleuchteten die Wege nur spärlich.

    Als er an die Abzweigung gelangte, die ihn zurück zu der Wirtschaft führen würde, stoppte er und wandte sich in eine andere Richtung. Wenn er sich schon am Tag von Hedwigs Beerdigung betrank, dann stilvoll.

    Er hatte sich den Salon schon lange einmal ansehen wollen, aber Inspektor Voigt hatte seine Beamten angewiesen, die Inhaberin nicht zu behelligen. Natalja Nikolajewna Poljakow. Eine Russin, über deren Vergangenheit Guy nur herausgefunden hatte, dass sie im Waisenhaus aufgewachsen war. Bevor sie dort abgegeben worden war, schien sie nicht existiert zu haben. Das war nicht ungewöhnlich in diesen Zeiten, viele Menschen wurden nicht registriert, führten ein Schattendasein abseits der bürgerlichen und gesetzestreuen Gesellschaft. Aber warum war Inspektor Voigt daran gelegen, Natalja Poljakow unbehelligt gewähren zu lassen? Wahrscheinlich schmierte sie ihn. Welche anderen Geschäfte sie darüber hinaus abwickelte, interessierte Guy schon lange. Warum also nicht das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden? Und es war notwendig, dass er sich betrank, bis seine Gedanken aufhörten zu kreisen und zu vibrieren und in seinem Schädel zu lärmen wie aufziehbares Kinderspielzeug.

    Das Haupttor war verschlossen. Guy läutete. Der Wachmann gähnte, kratzte sich im Schritt und musterte den Störenfried eingehend. »Verschwinde«, sagte er dann und drehte sich um.

    »Kommissär Lacroix«, rief Guy ihm nach und hielt seine Dienstmarke hoch.

    Der Wachmann betrachtete die Marke, sah Guy an. »Einen Moment, Kommissär.« Dann ging er in sein Häuschen zurück. Guy konnte durch das beleuchtete Fenster sehen, wie er den Hörer eines Telefonapparates abnahm, die Kurbel drehte und kurze Zeit später etwas in die Sprechmuschel sagte, wartete, nickte.

    Guy steckte die Marke ein und richtete seine Krawatte. Der Wachmann öffnete das Tor und führte Guy zum Haupteingang. Die schlanke Silhouette eine Frau zeichnete sich vor dem hellen Hintergrund ab. Er wurde also bereits erwartet. Das schien ein interessanter Abend zu werden.

    »Willkommen im Salon, Kommissär Lacroix.« Sie reichte ihm die Hand und er hauchte einen Kuss darauf. »Ich bin Natalja Nikolajewna. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?« Ihre Stimme klang wie eine Mischung aus Fingernägeln, die sich in den Rücken krallen, und sanftem Streicheln. Sie musterte ihn aus klaren blauen Augen, ihre Lippen umspielte ein amüsiertes Lächeln.

    »Zerstreuung«, antwortete Guy. »Ich bin auf der Suche nach einem guten schottischen Whiskey in angenehmer Gesellschaft.«

    »Beides werden Sie hier finden.« Sie trat zur Seite und bat ihn mit einer Geste herein.

    Ein Mädchen in schwarzer Uniform und blendend weißer Spitzenschürze nahm ihm Mantel und Hut ab. Guy zog seine Weste straff und wurde sich des Blutes bewusst, das auf der Vorderseite getrocknet war. Hedwigs Blut. An seinen Manschetten klebte das frische Blut von Havener. Natalja Nikolajewna verlor kein Wort über seine ramponierte Kleidung, beachtete sie nicht einmal. Sie führte ihn einen langen Gang entlang. An den Wänden flackerten Kerzen in Wandhaltern und tauchten die dunkelroten Samttapeten und die dicken Teppiche, die ihre Schritte dämpften, in warmes Licht. Es war still im Haus. Ungewöhnlich still für ein gut frequentiertes Etablissement dieser Art. Erst als ein Türsteher eine massive Flügeltür für sie öffnete, drangen Musik und Stimmen zu ihnen durch.

    Sie durchquerten einen kleinen Rauchsalon. Auch hier schwere Tapeten, diesmal in einem satten Moosgrün, auf denen schwarzer Efeu rankte, Parkettfußboden, Läufer mit orientalischen Mustern.

    Einige der Anwesenden waren Guy bekannt. Er nickte Professor Küpperbusch zu, der am Kaminsims lehnte, ein Glas und eine Zigarre in der Hand. Noch vor wenigen Tagen hatte er mit Hedwig über ihn gesprochen. Über ihn und seine Primadonnen. Vor wenigen Tagen? Guy schien es, als wären Jahre vergangen seit er Hedwigs Lachen gehört, ihre Hände gehalten hatte.

    Es folgte ein weiterer, ähnlich gestalteter Raum, in dem einige der »Damen« Tee tranken und Rommee spielten, als hätten sie sich zum wöchentlichen Kaffeekränzchen verabredet. In einem Ohrensessel saß ein Mann mit übereinander geschlagenen Beinen, die Hände akkurat auf den Armlehnen platziert. Sein Blick klebte an den Spielerinnen, ließ sich keine ihrer Bewegungen entgehen.

    Natalja lächelte, als sie Guys erstaunten Blick sah. »Es gibt viele Vorlieben, Schwächen. Fetische.« Sie berührte seinen Arm und zog ihn mit sich in einen spärlich beleuchteten Gang. Tiefviolette Tapeten, von irgendwoher drang gedämpfte Musik. Wieder ein Türsteher, der Flügeltüren für sie öffnete. Hinter ihnen lag ein runder Raum, ganz in Purpur gehalten. Frauen und einige junge Männer saßen oder lagen auf den im Raum verteilten Sofas und Sesseln.

    Natalja machte eine einladende Geste. »Fühlen Sie sich als mein Gast, Kommissär. Der Salon bietet für jeden Geschmack das Passende, wie Sie sehen können.« Sie winkte eine junge schlanke Rothaarige heran, Sommersprossen auf der Nase, das Haar zu einem filigranen Gebilde aufgetürmt, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten, die ihr keck ins Gesicht fielen. Natalja folgte Guys Blick, der über die üppigen Kurven einer Brünetten strich. »Ah, Sie haben einen anderen Geschmack, Kommissär. Ophelia!«

    »Nein!« Er berührte Nataljas Arm und schüttelte den Kopf. »Das ist ausgesprochen freundlich und verlockend, aber ich würde zuerst gerne etwas trinken.«

    »Natürlich, wie Sie wünschen.« Abermals durchschritten sie dunkle Gänge, Räume, in denen getanzt und gespielt wurde. Der Salon war ein weitläufiges Haus aus einer schier unendlichen Zahl von Gängen, Türen und Zimmern, eins prachtvoller als das andere. Und immer wieder erkannte Guy Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Ämtern und Politik und selbst hohe Beamte des

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