Unauffällige Geschichten: Zu lesen am Abend
Von Jules Barrois
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Über dieses E-Book
24 ganz unauffällige Geschichten, zu lesen am Abend, wenn der Tag langsam von uns abfällt. Geschichten der unterschiedlichsten Art: harmlos oder hinterhältig, heiter oder ernst, amüsant oder traurig, ruhig oder fesselnd. Einfach Geschichten für die blauen Stunden, dann, wenn der Abend altert.
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Buchvorschau
Unauffällige Geschichten - Jules Barrois
Der Auswanderer
Sebastiano, ein zwar kleinwüchsiger, sanfter aber trotzdem heißblütiger Italiener, fasste einen Entschluss. Endgültig! Unumstößlich! Denn so konnte es bei Gott nicht weitergehen. Er würde dieses Haus, in dem er mit seinen Eltern sein ganzes Leben verbracht hatte, verlassen. Für immer!!! Nicht etwa, um in das alte leer stehende Häuschen seiner Großeltern drei Kilometer hinaus in die campagna - aufs Land zu ziehen. Das hatte er einmal gemacht, wenn auch nur für einen Tag. Nein, diesmal war es ihm wirklich ernst. Mindestens in die Provinzstadt am Meer sollte es gehen. Nein, das war nicht weit genug. Besser in eine der größeren Städte - Bologna oder Milano - von denen er schon viel gehört hatte. Oder gar all`estero - ins Ausland -, Frankreich oder Deutschland. Seine Eltern hatten viele Bekannte und Freunde in Deutschland. Ja, Germania, das war die Lösung.
Hier wollte er nicht einen Tag länger bleiben. Sein Cousin Elia ging ihm ganz gehörig auf den Senkel, dieser Wichtigtuer und Schleimer, der immer so tat, als ob er hier der Herr im Hause wäre und alles bestimmen und das große Wort führen könnte.
Und seine Freundin Amalia stellte sich jetzt, wo sie sich fast täglich sahen, als in höchstem Maße anstrengend heraus.
Nein, er würde keinem etwas sagen und sich auch von keinem verabschieden. Noch vor dem Mittagessen würde er verschwunden sein.
Er fing an seinen Rucksack zu packen - zwei Unterhosen, zwei T-Shirts, seine kurzen Shorts und die Jeans. Eine kaum angebrochene Schachtel seiner Lieblingskekse. Nachher würde er in der Küche noch zwei Dosen Thunfisch und eine Packung Spaghetti einpacken und ein bisschen prosciutto und formaggio.
Die ganz neuen Jeans und das neue Hemd zog er gleich an, band sich die Riemen seiner neuen Turnschuhe. Darüber zog er das Sweatshirt der NY-Soccers, seines Lieblingsvereins. Er wusste es nicht so genau, aber mit Sicherheit waren in Deutschland die Temperaturen tiefer als hier. Also noch zur Vorsicht den warmen Fleecepulli in den Farben des AC-Milan in den Rucksack.
Eigentlich war er fertig. Er ging noch einmal alles durch: Geld hatte er in seinem Beutel, Rucksack gepackt. Wenn jetzt seine Mutter aus der Küche in den Garten ging, um dragoncello - Estragon - für die Carbonara zu holen, würde er schnell die paar Sachen aus dem Küchenschrank nehmen und dann verschwinden.
Der Duft der Carbonara zog bis in sein Zimmer. Sehr verführerisch.
Die Tür ging auf. Seine Mutter steckte den Kopf rein: Essen ist ...
hob sie an, „... was hast du denn an? Das sind doch die neuen Sachen, die wir für deinen ersten Tag im asilo - im Kindergarten - gekauft haben und das neue Rucksäcklein hast du auch schon gepackt. Sehr brav. Du kannst es wohl gar nicht erwarten. Aber der Kindergarten fängt erst morgen an."
"Komm zum Essen. Amalia ist auch gerade gekommen. Und streite nicht wieder mit ihr wie gestern Abend. Sie wird doch erst im nächsten Frühjahr zwei und du wirst nächstes Jahr doch schon vier.
Na gut, dachte er. Er würde sich morgen mal den Kindergarten anschauen und nachher besonders nett zu Amalia sein. Auswandern konnte er auch noch übermorgen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Aber jetzt erst mal Spaghetti carbonara essen.
Der Sohn des Italieners
„Pino eindringlich lehnte sich Cirò nach vorne. „Don Antonio war mehr als großzügig – gerade zu dir. Und geduldig – gerade zu dir. Ins Herz geschlossen hatte er dich. Aber jetzt … jetzt könnte er seine Geduld verlieren. Seine Geduld mit dir, dem Sohn des Italieners. Dein Vater hat dieses Haus gebaut und nur deshalb war wir so langmütig.
„Ich … ich wollte …, ja schon letzte Woche wollte ich …" Der Sohn des Italieners verhaspelte sich.
Das Klingeln des Telefons rettet ihn. Sein Kellner an der Theke hob ab: „Rstrorante Portocervo, was kann ich für sie tun? …. „Un attimo Signora …
„Chef, Ihre Mutter …"
Gib her! „Ciao mama … si … si … oh mi dispiace … es tut mir sehr leid … parto subito … ich fahre sofort los und … ja morgen früh bin ich da … e mama … nach der Beerdigung gehen wir zum notario … ja, morgen schon, ich hab wenig Zeit … gli affari … die Geschäfte, du verstehst … ciao Mama … ciao … ciao."
Er straffte sich, atmete tief durch und lächelte überlegen.
„Sag Don Antonio, bis nächste Woche kann er alles haben, was ich ihm schulde, aber ob ich anschließend noch Geschäfte mit ihm machen werde, dass muss ich mir noch stark überlegen."
„Spuck hier keine großen Töne. Woher willst du in einer Woche das hernehmen, was du in all den Jahren nicht geschafft hast?"
„Ich erbe. Mein Vater ist um 19.30 gestorben."
„Condolenti. Ich spreche mit Don Antonio. Un attimo". Er stand vom Tisch auf, fischte sein Handy aus der Hosentasche und trat vor die Tür.
„Don Antonio lässt dir sein tief empfundenes Beileid ausrichten. In einer Woche sollst du zu ihm kommen und dann regelt ihr alles." Ohne seine Antwort abzuwarten, verließ er das Lokal.
Der Sohn des Italieners nahm das Telefon:
„Ciao Giacomo, du, mit deinem testa rossa kommen wir ins Geschäft … „… Ich habe geerbt, mein Vater ist gestorben … Danke … Ich brauche den Ferrari noch heute Abend … Ja ich fahre zur Beerdigung … nein du brauchst dir keine Sorgen zu machen … ich komme zurück, wenn ich alles geregelt habe. In genau einer Woche hast du dein Geld. Okay … bis gleich …
Er sah seine Mitarbeiter triumphierend an, den spindeldürren Kellner aus Brescia, den minderjährigen Pizzaiolo aus Civitavecchia, den cuoco aus Napoli, den dunklen Tellerwäscher aus Pakistan und den kleinen Salatputzer aus Indien. Sein Lächeln wurde breiter, bis er spöttisch grinste.
„Euch brauche ich nicht mehr. Entlassen seid ihr. Alle. Sofort. Ich schließe das Lokal. Ich brauche nicht mehr zu arbeiten. Jetzt beginnt la vita dei Signori. Und jetzt raus! Alle!" Vergnügt pfeifend schloss er hinter ihnen ab.
Er holte das Letzte aus den zwölf Zylindern des testa rossa raus und knapp dreizehn Stunden später fuhr er über die Küstenstraße nach Cariati rein, die aufgehende Sonne im Rücken. Vor siebzehn Jahren war er zum letzten Mal hier gewesen, hatte er zum letzten Mal seine Eltern in Kalabrien besucht.
Er umarmte la mama und ging ins Wohnzimmer, wo Carlo aufgebahrt war. Ein gläserner Deckel mit eingebauter Kühlung gab die Sicht frei auf den noch immer stattlichen Mann – trotz seiner 91 Jahre mit vollem dunklem Haar, in dem sich die ersten silbernen Spuren zeigten. Gekleidet in seinen schwarzen Hochzeitsanzug, den er vor weit über 60 Jahren gekauft hatte.
Vier oder fünf alte Tanten leierten monoton den rosario, den Rosenkranz.
Er stellte sich vor den Sarg, neigte für die Anwesenden seinen Kopf.
„Jetzt siehst du, wohin du gekommen bist, du harmloser, gradliniger Kalabrese – aber deutscher als jeder Deutsche. Ich – dein Sohn – bin mehr Kalabrese im Herzen, als du jemals warst.
Du hast dich von geräucherten Oliven, cacciocavallo-Käse und vom harten kalabrischen Brot ernährt. Ich – dein Sohn – habe Champagner getrunken und Austern geschlürft.
Schon als Knabe hast du fleißig geschuftet und wurdest mit einem Sack Kartoffeln und ein paar Liter Olivenöl dürftig entlohnt. Ich – dein Sohn – brauch nicht fleißig zu sein. Denn ich bin schlau und geschickt.
Du bist nach Deutschland, hast die Deutschen verehrt und vor ihnen gebuckelt. Du warst ihr Sklave. Ich - dein Sohn – bin auch nach Deutschland – aber ich hab die Deutschen verachtet und mich ihnen nie untergeordnet und angepasst.
Du hast dein Leben treu und brav mit Giuseppina, deiner flachbrüstigen, vertrockneten Pinucia verbracht. Ich – dein Sohn – habe mehr schöne Blondinen mit dicken Titten im Bett gehabt, als du dir vorstellen kannst.
Du bist mit deinem alten Cinquecento über die Landstraßen gekrochen. Ich – dein Sohn – komme mit einem Ferrari Testa rossa zu deiner Beerdigung.
Du hast nie mit Freunden Karten gespielt und Bier getrunken, weil du nie Freunde hattest. Ich - dein Sohn – habe mehr Freunde, als das verdammte Kaff hier Einwohner hat.
Was hast du schon von deinem Leben gehabt. Wenn es überhaupt ein Leben war. Jetzt ist