Ein Lächeln im Gesicht: Geschichtensammlung
Von Dagmar Meyer, Hendrik Meyer und Martin Meyer
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Über dieses E-Book
Die Geschichten zeigen, wie Menschen mit sich verändernden Lebensumständen fertig werden. Oft hilft bei der Bewältigung von Schwierigkeiten "ein Lächeln im Gesicht".
Dagmar Meyer
Dagmar Meyer wurde 1941 im damaligen Ostpreußen geboren. Nach der Flucht 1945 verbrachte sie Kindheit und Jugend in Geesthacht in Schleswig-Holstein. Anschließend studierte sie an der Pädagogischen Hochschule in Kiel für das Lehramt an Grundschulen und später an der Universität noch für das Lehramt an Realschulen. Nach Dienstjahren in Schleswig-Holstein und Berlin war sie bis zur Pensionierung Lehrerin in Baden-Württemberg. Nach Eintritt in den Ruhestand begann sie mit dem Schreiben. Der Roman "Verliere nicht dein tapferes Herz" (2012) umfasst das Leben der Eltern der Autorin und die Kriegsjahre in Ostpreußen bis Fluchtende. Dem zweiten Band "Petticoat und heiße Sohlen" (2015) liegen Kindheits-und Jugenderinnerungen in Geesthacht zu Grunde. Das Buch "Schwarze Spinne Weiße Schlange" (2017) spielt im Schulmilieu. Daneben entstanden zahlreiche Kurzgeschichten.
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Buchvorschau
Ein Lächeln im Gesicht - Dagmar Meyer
1 Freundschaft
„Entschuldige bitte, ist der Stuhl neben dir noch frei?"
Ich blickte kurz auf und nickte. Sie ließ sich auf den Stuhl rechts neben mir fallen, erleichtert, denn der Hörsaal war mehr als voll, kaum gab es irgendwo noch ein freies Plätzchen, damals, zu Beginn der sechziger Jahre in der Pädagogischen Hochschule in Kiel. Oft saßen die Studenten während der Veranstaltungen auf den Treppenstufen oder auf den Fensterbänken. Wir kamen schnell ins Gespräch, stellten fest, welche Seminare und Vorlesungen wir beide belegt hatten und welche Fächer unterschiedlich waren. Bis der Herr Professor kam und die Vorlesung begann.
So fing alles an, vor mehr als fünfzig Jahren in Kiel.
Die blonde Marianne kam von der Nordseeküste. Sie hatte in Heide Abitur gemacht und jetzt, wie ich auch, eine Studentenbude in der Nähe der Hochschule. Von ihrem Gymnasium waren noch zwei Mädchen an die Hochschule gekommen, die jedoch am Wochenende regelmäßig nach Hause fuhren. Ich kam von einem Gymnasium an der Elbe, hatte für Heimfahrten kein Geld übrig und stellte mir unter Studentenleben etwas anderes vor als Heimfahrten mit der Bahn und lange Berichte am Familientisch. So schmiedete ich Pläne für die Wochenenden in Kiel. Meistens schloss sich Marianne meinen Vorschlägen, was am Samstagabend oder Sonntagnachmittag zu unternehmen war, schnell an. Wir genossen unser Leben in Kiel, auch wenn an der Hochschule und während der Praktika viel Arbeit zu leisten war. Die Stunden, Tage und zwei kurze Jahre flogen nur so dahin.
„Weißt du noch, Dagmar?"
Nein, ich erinnere mich an vieles nicht mehr, wenn Marianne heute, nach fünfzig Jahren Leben, von dieser oder jener Unternehmung aus der Kieler Zeit spricht, vom sonntagnachmittäglichen Tanz, von den aufregenden Tischtelefonen abends in der Bar, von den netten Studenten der Landwirtschaft, von einem bestimmten Professor oder von Mitstudierenden, die uns damals aufgefallen, mir aber schon längst aus dem Gedächtnis verschwunden waren. Marianne dagegen weiß heute noch alles, jedenfalls fast alles. Und sie erinnert sich gern. Früher oder später kehrt jede Unterhaltung zu den Studienjahren zurück.
„Sag mal, Dagmar, weißt du das wirklich nicht mehr?"
Hätte ich mir viel früher und häufiger Gedanken machen müssen über Mariannes Streben in die Vergangenheit, über diesen Strudel, der sie früher schon und erst recht heute unweigerlich in die ferne Vergangenheit zieht? Hätte ich früher wissen müssen, dass dieses Verhalten kein gutes Zeichen war? Ich wusste es damals nicht, heute weiß ich es besser.
Zwei Jahre Studium sind eine kurze Zeit. Nach den Abschlussprüfungen setzte der Ernst des Lebens, der Antritt einer Lehrerstelle, unserem lockeren, gemeinsamen Leben ein vorläufiges Ende. Marianne erhielt eine Stelle an der Nordseeküste, ich wurde Lehrerin nicht weit entfernt vom Ufer der Elbe. Da das Zeitalter von E-Mails, SMS und Facebook noch nicht angebrochen war, gingen Briefe zwischen Meer und Fluss hin und her. Sie erzählten von Erlebnissen in der Schule, von Klassenausflügen, Korrekturen und Unterrichtsvorbereitungen nicht zu knapp.
Unser Privatleben nahm ebenfalls Fahrt auf, auf Verlobungsfolgten Hochzeits- und Geburtsanzeigen und auch Einladungen. Irgendwann in einem warmen Sommer besuchte ich Marianne auf ihrem Bauernhof hinterm Deich mit meinen Kindern. Sie hatte einen Landwirt geheiratet, mit ausgedehnten Ländereien und Ställen; mit Wonne sprangen meine Jungen im Schweinestall herum und saßen bei Klaus auf dem Traktor, während Marianne und ich kochten und redeten. Ich brauchte dann niemals lange auf ihr „Weißt du noch, damals in Kiel?" zu warten.
Meistens wusste ich es nicht. In meinem Leben ruhte die gemeinsame Studienzeit tief unten im Brunnen der Vergangenheit, und ich ließ sie dort. Bei Marianne hingegen hatte ich das Gefühl, dass unsere Studentenerlebnisse dicht unter der Oberfläche ihrer Tage lagerten und von ihr oft hervorgeholt wurden. Warum das so war, hinterfragte ich nicht.
Dann verließ ich Schleswig-Holstein Richtung Süden, und unsere Freundschaft sank in den Winterschlaf. Mal hier ein Anruf „Mein Vater ist verstorben oder da eine Mitteilung „Ich habe den Schulort gewechselt
. Ich vermisste Marianne und ihr „Weißt du noch?".
So fuhr ich zu ihrem sechzigsten Geburtstag nach Norden. Mir war, als ob in den gemeinsam verbrachten Tagen an der Nordsee das Leben langsamer lief und uns Gelegenheit gab, in das Band unserer Freundschaft ein paar haltbare Fäden neu einzuflechten.
Aus Lehrerinnen wurden Rentnerinnen, aus unseren Kindern Mütter und Väter, aus uns Großmütter. Telefonate drehten sich jetzt meistens um die Enkelkinder, um deren Talente und Taten – und wurden im Laufe der Jahre wieder seltener.
Wie ein Kabel, das auf dem Ozeanboden lag, verborgen vor dem Tageslicht und den Menschen, und doch reißfest und stark, so sank unsere Beziehung auf den Grund unseres Lebens. Doch Marianne und ich wussten um ihre Haltbarkeit. Ich war überzeugt, dass wir sie wieder ans Tageslicht holen würden, wenn ihre Zeit gekommen war.
So war es dann auch.
„Weißt du, Dagmar, ich spiele mit dem Gedanken, auch nach Südwestdeutschland zu ziehen."
Ich wunderte mich nicht. Beide Töchter wohnten inzwischen hier in meiner Nähe mit Familien und Kindern; auch ihr Mann, von dem sie jetzt geschieden war, hatte vor einigen Jahren den Hof verkauft und war in den näheren Umkreis der Töchter und Enkelkinder gezogen. Nichts mehr hielt Marianne im Norden. Aber ob das klappen würde bei ihr, die ihr Leben lang nur raue Nordseeluft geatmet hatte? Ich zweifelte.
Eines Tages kam der Anruf ihrer ältesten Tochter, der mich aus allen Wolken fallen ließ.
„Unsere Mutter wird in eine Seniorenwohnanlage ziehen, ganz in unserer Nähe. Es ist besser so für sie, sie sollte nicht mehr allein leben. Ihr Auto haben wir sicherheitshalber auch gleich verkauft."
Ich war wie betäubt. Meine Marianne in einem Heim? Unvorstellbar. Warum hatte ich bei den Telefonaten nichts von Unselbstständigkeit oder einer beginnenden Erkrankung gemerkt? Ich musste sie unbedingt sehen.
„Marianne, übermorgen komme ich dich besuchen. Am Donnerstag um fünfzehn Uhr. Ist das in Ordnung für dich? Schreib es dir doch bitte auf, ja?"
Dass diese Ermahnung nötig war, hatte ich auch von ihren Töchtern gehört.
Als sie ihre Wohnungstür öffnete, erschrak ich. Sie wirkte ungepflegt, die Haare kaum gekämmt, eine ausgeleierte Hose und der zu weite Pulli hingen an ihr wie an einer Kleiderpuppe vom Sperrmüll. War das meine Marianne, die immer großen Wert auf eine gepflegte Erscheinung gelegt hatte? Sie wirkte unsicher und fahrig, lief in die kleine Küche und wusste nach drei Schritten schon nicht mehr, was sie da wollte. Ich bemühte mich, meinen anfänglichen Schrecken und eine gewisse Scheu zu überwinden und die alte Vertrautheit wieder herzustellen.
„Sag mal, Dagmar, weißt du noch, wie der Professor …"
Da war es wieder, ihr Eintauchen in eine mir fern gerückte Vergangenheit, die ihr so nah war, als sei sie gestern gewesen. Und das Gegenwärtige lag ihr offensichtlich sehr fern. Trotzdem war ich erleichtert, das war meine Marianne.
„Hast du nicht auch Enkelkinder, oder?"
Jetzt erschrak ich doch. Seit Jahren waren unsere Enkeltöchter Hauptthema in Telefonaten und Briefen gewesen. Marianne hatte es vergessen.
Meinem ersten Besuch in der Wohnanlage damals folgten viele. Sie sind anstrengend, denn Marianne setzt andere Prioritäten in unseren Gesprächen als ich. Es ist, als ob wir auf unterschiedlichen Wellenlängen unterwegs sind. Aber gilt Freundschaft nur, solange vollkommene Übereinstimmung besteht im Denken und Fühlen, solange die Schritte durch die noch verbliebenen Tage des Lebens die gleiche Länge haben? Ich habe bei mir beschlossen, kürzere Schritte zu machen, ihr bereitwillig in die Vergangenheit und zu den Gesprächsthemen zu folgen, die ihre Gedanken bevölkern und meistens über fünfzig Jahre zurückliegen. Dahin bewegt sie sich mühelos, während die Gegenwart für sie nicht leicht zu bewältigen ist.
„Marianne, ich komme am Donnerstag, ist das in Ordnung für dich?"
Wenn wird dann am Kaffeetisch sitzen, den sie wie immer hübsch gedeckt hat, dauert es niemals lange bis zu der mir wohl vertrauten Frage:
„Sag mal, Dagmar, weißt du noch?"
2 Die Entscheidung
Karl, Friedrich, Jonas, Mathias, Kurt und Fritz. Alle Buben sind um den großen, Holztisch versammelt.
Es gibt Brot und Brötchen, Butter, Wurst, Käse, Gurke und Tomaten. Jeder greift zu dem, was er am liebsten mag. Die Kinder schweigen und essen, nur hin und wieder verlangt eines nach der Butter oder der Kanne mit Saft. Bunte Becher stehen verteilt auf dem Tisch.
An einer langen Seite des großen Tisches sitzt Martha Drescher, die Hausmutter, ganz am Ende neben Mathias, dem vierjährigen Nesthäkchen, dem sie hin und wieder beim Herrichten einer Brotscheibe helfen muss, wenn die anderen Jungen mit sich selbst beschäftigt sind.
Doch Martha ist nicht bei der Sache; mit hoch gezogenen Schultern und zusammen gepressten Lippen liest sie in einem Brief, den sie schon hundertmal gelesen hat; die Finger halten den Papierbogen wie in einer Schraubzwinge, so dass die Knöchel weiß hervortreten; ihre Augen laufen die Zeilen auf und ab, immer wieder; es sieht so aus, als ob sie den Inhalt auswendig lerne und die Kinder vergessen habe.
Und die spüren, dass dieser Brief sehr wichtig ist, nicht nur für ihre Hausmutter, sondern auch für ihr eigenes Leben, das sich zum wiederholten Mal entscheidend ändern könnte; sie spüren, dass belanglose Jungengespräche heute keinen Platz bei Tisch haben.
Mathias allerdings merkt nichts, er hat nur Augen für sein Käsebrot und den kleinen Plastikbagger neben seinem Teller.
Seit fünf Jahren ist Martha Drescher im Kinderdorf Hausmutter für Jungen unterschiedlichen Alters.
Als ihre eigenen Kinder aus dem Haus waren und begannen, ihr Leben ohne sie zu führen, als ihr Mann Georg starb, bevor sie den lange herbei gesehnten Ruhestand genießen konnten, als Gefühle des Überflüssigseins und der Nutzlosigkeit sich in ihrem Leben auszubreiten begannen, als Sport und Kaffeekränzchen die eingetretene Leere nicht ausfüllen konnten, da hatte sie sich für diese Aufgabe beworben, nachdem sie eine großformatige Anzeige in einer Zeitung gelesen hatte.
Die Pflegemutter kennt ihre Kinder gut: Karl, den Ältesten, mit seinem allergischen Schnupfen, der ständig auf der Suche nach Taschentüchern ist; Friedrich mit seiner Leidenschaft fürs Fußballspielen, der nach einer Niederlage seiner Mannschaft immer wieder aufgerichtet werden muss; Jonas sieht man nur mit einem Buch vor der Nase, die Zwillinge Kurt und Fritz immer mit Bastelbögen, Bauplänen und Uhu verklebten Fingern, das Nesthäkchen Mathias nie ohne seine Plastikautos.
Was würde sie auf die Frage, ob sie die Jungen liebe, antworten? Lieben ist ein großes Wort, denkt Martha, und da waren ja auch ihre eigenen Kinder. Gibt es verschiedene Arten von Mutterliebe?
Sicher ist, dass ihr die Waisenjungen mit ihren schwierigen und traurigen Schicksalen im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen sind.
Und nun dies:
In den vergangenen Stunden hatte sie die schwerste Entscheidung ihres Lebens treffen müssen.
Franz Drescher, ihr Bruder, sei im fernen Australien