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Ein rostiger Klang von Freiheit
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eBook315 Seiten4 Stunden

Ein rostiger Klang von Freiheit

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Über dieses E-Book

OSLO 1968. Es herrscht Aufbruchsstimmung, von überall her ist der Klang von Freiheit zu hören. Es gibt politische Diskussionen, Proteste gegen den Vietnamkrieg, sexuelle Freiheiten werden ausgetestet, Büstenhalter brennen. Agathe meldet sich kurz vor dem Abitur von ihrem konservativen Gymnasium ab, um im neu gegründeten Versuchsgymnasium die freie Atmosphäre von Summerhill atmen zu können. Alles könnte gut sein, wenn sie in der eigenen Familie nicht immer vor neue Rätsel gestellt würde: Die Mutter will Agathe und ihren Bruder nicht mehr sehen, der Vater ist gar nicht der richtige Vater, und der kleine Bruder macht sich auf eine ganz eigene Reise.
Toril Brekke gelingt es, uns mitten ins Geschehen dieser aufgewühlten Zeit zu ziehen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSTROUX edition
Erscheinungsdatum2. Mai 2022
ISBN9783948065263
Ein rostiger Klang von Freiheit

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    Buchvorschau

    Ein rostiger Klang von Freiheit - Toril Brekke

    I

    Es war der Sommer vor dem letzten Jahr auf dem Gymnasium. Ich war jung, ich hatte Freunde, ich hatte die Musik. Zugleich war ich erfüllt von einer Unsicherheit, wer ich war, denn noch ahnte ich nicht einmal, wer mein Vater sein könnte. Ich weiß, dass Isak sich dafür hielt, Isak, der Klavierstimmer, den Mama geheiratet hatte, als ich fünf war, aber ich war sicher, dass er sich irrte. Ich glaubte auch nicht, dass er der Vater von Morten war, meinem kleinen Bruder, der in dieser Ehe geboren worden war.

    Auf diese Weise unterschied Mama sich von den anderen Müttern in der Gegend, in der wir aufwuchsen, Lilleberg in Hovin, sie war eine, die zufällig Kinder bekam. Sie war eine strahlendschöne Pianistin, immer gut angezogen und ein farbenfroher Anblick, wenn sie von zu Hause wegging, aber das half nichts. Sie war anders. Sogar vor mir, ihrem Kind, versteckte sie sich.

    In diesem Sommer war es vier Jahre her, dass sie uns verlassen hatte. Damals war sie mit einem Bassisten namens Lennart nach Kopenhagen gegangen. Eine freie und phantastische Frau, wie meine französische Kusine Madeleine immer sagte, eine echte Feministin, hatte sie gelobt, voller Bewunderung.

    Im Nachhinein weiß ich, dass mich die Ungewissheit über meinen Vater mehr beschäftigte, als mir bewusst war. Sie war wie ein Sog, der eine Antwort verlangte. Mama hätte mir diese Antwort geben können. Stattdessen hatte sie sich abgewandt und das Thema gewechselt, die wenigen Male, wenn ich mich zu fragen traute. Dennoch liebte ich sie, obwohl sie mich so oft im Stich gelassen hatte. Von dem Tag ihres Verschwindens an hatte ich Angst um sie, meine kleine Mama in einem fremden Land, mit neuen Menschen; so wehrlos, konnte ich über die Frau denken, die andere als Diva erlebten, und das war sie auch, eine Frau, die zu gern verwöhnt wurde, die zu gern schöne Geschenke und Komplimente entgegennahm.

    Das Jahr, das auf diesen Sommer 1967 folgte, sollte mir die Antworten geben, von denen ich geglaubt hatte, ich müsste sie finden, um in mir ein Gleichgewicht zu erlangen.

    Es begann mit einem Anruf von Lennart, dem Bassisten. Es war an einem frühen Morgen, ich hatte die Tür zu der kleinen Terrasse zwischen dem Reihenhaus und dem Grensevei geöffnet, der Duft der Pfingstrosen schwebte zu mir herein, von den weißen und fast lila Blumen, die wir aus einem Beet bei den Großeltern mitgebracht hatten.

    Mama war verschwunden.

    Ich hatte Lennarts Stimme seit mehreren Jahren nicht gehört, jetzt erfüllte sie meinen Kopf, ängstlich und aufgeregt. Mama war nicht da.

    Wieso nicht da?, fragte ich.

    Weg.

    Lennart erzählte von einem offenen Fenster, er sagte, deshalb sei er früher aufgewacht als sonst, er habe die Seevögel schreien hören und dazu die Stimmen von irgendwelchen nächtlichen Zechern auf dem Heimweg in den frühen Morgenstunden. Er sei im ersten Morgengrauen aufgewacht, weil das Fenster sperrangelweit aufstand. Das tat es sonst nie. Der Lärm von der Straße sei zu ihm hereingeschleudert worden, Geräuschkaskaden, und Mama war weg.

    Seine Wörter kamen stoßweise. Das ließ mir die Zeit, mir ein Bild zu machen. Ich sah Mama vor mir, hochaufgerichtet und dünn, zwischen den Rahmen dieses offenen Fensters, auf jeder Seite eine Hand ans Holz gelegt, die eine Hand höher als die andere, und den Kopf ein wenig verdreht, als wiesen ihre Füße auf die Welt dort draußen, während sie zugleich ihren Körper umwandte und Lennart betrachtete, den Bassisten, der noch immer im Doppelbett hinter ihr schlief. Ich sah sie vor mir in dem altmodischen Nachthemd, das sie geliebt hatte, als sie noch hier in Lilleberg wohnte, ich hatte es für sie in einen Karton gepackt, als sie umziehen wollte, einen graubraunen Pappkarton mit Nachthemden und Unterröcken, Unterhosen, Hemden und Büstenhaltern. Jetzt sah ich sie wie eine Gefangene zwischen zwei Rahmen, in dem graurosa, langärmligen Nachthemd, es war knöchellang und hatte Rüschen, und ihre dunklen Haare hingen ihr offen über die Schultern. Sie stand in dem offenen Fenster zwischen draußen und drinnen, in einem Schlafzimmer, das ich nie gesehen hatte, es war sicher total chaotisch, dachte ich, Kleider und Schuhe lagen überall auf dem Boden herum, und in einer Ecke stand Lennarts Bass, meine erste Frau, so hatte er ihn genannt, vor Mama.

    Ist sie gesprungen?, fragte ich.

    Und ich sah, wie sie den Kopf zu der Stadt hinwandte, die jetzt aufwachte und nach und nach sichtbar wurde, der graue Asphalt, das schwappende Wasser in einem Kanal in Kopenhagen.

    Gesprungen? Nein, sagte Lennart.

    Aber woher weißt du, dass sie nicht gesprungen ist?, fragte ich.

    Agathe, sagte Lennart, wir wohnen im Erdgeschoss. Wenn sie gesprungen wäre, hätte ihr nichts passieren können.

    Aber warum stand das Fenster sperrangelweit auf, wenn es das sonst nicht tut?, fragte ich.

    Vielleicht hat Veronica den Mond bewundert, ehe sie gegangen ist, sagte Lennart müde.

    Vielleicht wollte sie einfach ein Brot zum Frühstück kaufen?, schlug ich vor.

    Das war vorgestern, sagte er.

    Wir legten auf. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. An das Wetter draußen, nicht in Kopenhagen, sondern in Oslo, einen milden Sonnenschein, der nicht in die Augen stach, sondern sich warmgelb über die Autos legte, die an den untersten beiden Reihenhäusern von Lilleberg vorüberglitten. Unseres war rot. Das andere war gelb. Außerdem lag ein blaugrünes am Hang nach oben zum Lillebergvei, dort, wo er vom Grensevei abbog. Der Rest waren Wohnblocks, in Lilleberg und Hovin, in unterschiedlichen Farben, in unterschiedlichen Formen. Unten in Hovin standen Langblocks, die parallel immer zu zweit lagen, die Eingangstüren einander gegenüber, dazwischen Asphalt. Ich konnte die untersten vom Küchenfenster aus sehen. Vom Wohnzimmer aus sah ich den Grensevei, der vom Friedhof Østre Gravlund zum Carl Berners plass führte. Uns schräg gegenüber konnte man in den Gladengvei abbiegen, der hinab nach Kampen verlief. Ein Stück weiter lag der Block mit den Geschäften. Der wies einen Lebensmittelladen, einen Kiosk und einige andere Läden auf. In den Etagen darüber gab es ein Café, dazu Wohnungen und Zimmer, die vermietet wurden. Zwei meiner Freundinnen hatten im vorigen Sommer in diesem Café gejobbt. Einige Male hatte ich sie dort besucht, einen Heißwecken gegessen und eine Cola getrunken.

    Jetzt stand ich im Wohnzimmer, mit offener Tür zur Terrasse, und schaute hinüber zum Caféblock und dachte an genau das, um nicht an Mama zu denken. Ich überlegte, ob Jenny oder Karin wohl auch in diesem Sommer dort gejobbt hatten, ich selbst war Verkäuferin in einem Musikladen gewesen.

    Bald kam Morten herunter, und wir frühstückten zusammen, Vollkornbrot mit Margarine und Leberwurst und Gurkenscheiben, mein kleiner Bruder machte sich dazu einen Teller Puffreis mit Milch und Zucker. Isak war noch nicht aufgestanden, manchmal musste er erst am späten Vormittag irgendwo ein Klavier stimmen. Außerdem waren viele seiner Kunden noch in Ferien.

    Ich sagte nichts über Lennart, nichts über Mama. Wir redeten fast nie über sie, Morten und ich.

    Was hast du heute vor?, fragte ich ihn.

    Mit dem Rad zum Gjersjø fahren, erwiderte mein Bruder. Mit Sander und Willy. Die ham ne Angelrute. Die kennen einen, der da wohnt, gleich bei Bilhjulet.

    Sander und Willy. Die Brüder von Inger, die auf der Grundschule meine beste Freundin gewesen war.

    Ich dachte an Inger, um nicht an Mama zu denken. Ich erinnerte mich an einige Episoden von früher, als wir klein waren, und an die Reise nach Paris vor anderthalb Jahren. Sie und ich und Leon. Jetzt wohnten die beiden auf Nesodden. Leon hatte dafür gesorgt, dass Inger zu einem alten Zeichenlehrer von der Waldorfschule ziehen konnte, Felix Mork, einem freundlichen Mann mit Schmerbauch und bunten Kleidern, einem, der Kurse in Kunstgeschichte, Malerei und Meditation arrangierte. Inger konnte dort gratis wohnen, wenn sie dafür im Haushalt half.

    Morten schmierte sich Brote für unterwegs, steckte sie in seinen Rucksack und verschwand.

    Ich setzte mich auf die kleine Terrasse, spürte die Unruhe in meinem Leib. Lennarts Stimme war deutlich: Mama war verschwunden. Hatten sie und Lennart sich gestritten?

    Stimmt etwas nicht?, fragte Isak, plötzlich stand er in der Türöffnung, angezogen und bereit für den Tag, in dunkelbrauner Cordhose und hellblauem Hemd.

    Nein, antwortete ich.

    Du hattest die Stirn gerunzelt, sagte Isak.

    Vielleicht wegen der Sonne, fiel mir als Antwort ein.

    Denn warum sollte ich ihn mit Mamas Verschwinden quälen? Auch ihn hatte sie im Stich gelassen. Mehr als acht Jahre hatte er mit ihr zusammengelebt, mit ihren Divalaunen und ihrer Unvorhersagbarkeit. Er hatte sie auf Händen getragen, hatte sie entschuldigt, wenn sie sich unmöglich aufführte.

    Gehst du heute nach Bekkelaget?, fragte er.

    Oma hatte mich gebeten, ihr beim Pflücken von roten und schwarzen Johannisbeeren zu helfen, mein Sommerjob war zu Ende. Aber nach dem Gespräch mit Lennart konnte ich nicht zu Mamas Mutter fahren.

    Es ist zu heiß, sagte ich. Ich fahre lieber mit der Fähre nach Nesodden, zum Baden.

    Leon lockte mich nach Nesodden, mehr als Inger. Leon hatte die Rolle des besten Freundes übernommen, als wir aufs Gymnasium gingen, er war vielleicht der Einzige, mit dem ich mir vorstellen könnte, über Mama zu sprechen.

    Aber hatte sie es verdient, dass ich mir Sorgen machte?

    Während ich mit dem Bus in die Innenstadt fuhr, dachte ich an Porgy and Bess und nicht an Mama. Das Stück sollte im Frühling die Abschiedsvorstellung unserer Klasse sein. Leon und ich hatten uns darauf gefreut, als Bewohner von Catfish Row auf der Bühne zu stehen, einer fiktiven Gegend in Charleston, South Carolina. Ich würde im Chor singen und vielleicht tanzen.

    Ich hatte Leon und Inger den ganzen Sommer lang kaum gesehen, ich hatte Kundschaft beraten und Musik verkauft, Schallplatten und Noten, nur ein einziges Mal hatten die beiden hereingeschaut, um mich in Aktion zu sehen, und das nicht zusammen, und jeweils mit einem Softeis in der Hand. Sie hatten mich eingeladen, um an dem kleinen Strand zu schwimmen, der zu Felix Morks Grundstück gehörte, aber stattdessen war ich mit Leuten von meinem Job ins Frognerbad gegangen.

    Nach der Fahrt nach Paris hatte sich zwischen uns eine Art Spalt aufgetan; Leon war zu Ingers Vertrautem geworden, sie hatten sich hinter meinem Rücken getroffen, er hatte Felix dazu gebracht, ihr zu helfen, damit sie nicht mehr im Glas- und Tellerladen in Torshov stehen musste, und der Waldorflehrer hatte sie zu einem Psychologen geschickt, das war auch an der Zeit gewesen.

    Wie schön, hatte ich gesagt. Schön, schön.

    Zugleich hatte mir das alles einen Stich versetzt. Zwischen Leon und Inger hatte sich etwas entwickelt, und ich war ausgeschlossen, etwas, das sie beide verändert hatte. Und das hielt ich mir vor Augen, während mich die Fähre vom Rathauskai nach Nesoddtangen brachte: Inger, die vor zwei Jahren politisch aktiv und tatenlustig gewesen war, aber die sozusagen ihre Glut eingebüßt hatte, und Leon, der sich auch nicht mehr so für die Treffen zu interessieren schien, zu denen wir nach dem ersten Jahr am Gymnasium gegangen waren. Treffen, bei denen es um die Welt ging. Um Politik und Geschichte. Um Philosophie.

    Und ich selbst?

    Ich dachte, dass ich ab und zu Position bezogen hatte. Außerdem dachte ich, dass die politischen Fragen oft vereinfacht wurden, wie dann, wenn es um den Krieg in Vietnam ging. Aber die Amerikaner hatten dort jedenfalls nichts verloren.

    Ich schob die Hand in meine Tasche und fischte die Sonnenbrille heraus. Ansonsten hatte ich Badeanzug, Handtuch und Sonnencreme mitgenommen. Ich hoffte, dass sie zu Hause seien. Ich hätte anrufen können, ehe ich zum Bus gegangen war, aber das hatte ich nicht getan, vielleicht war es das Wichtigste gewesen wegzukommen.

    Bald war ich wieder an Land, mit der Tasche in der Hand und der Sonnenbrille auf der Nase, in gelbem Rock und rosa Bluse, die Füße in Sandalen. Ich ging langsam vorbei an den wartenden Bussen und weiter. Ich nahm den Geruch von Auspuffgasen und die Kieselsteine unter meinen Sohlen wahr. Ich hörte die Seevögel schreien. Grauweiße Möwen.

    Wie an den Kanälen in Kopenhagen.

    Ich sah ein Stück weiter draußen ein blaues Ruderboot.

    Ob Mama und Lennart wohl Zugang zu einem Boot hatten?

    In dem kleinen Boot auf dem Bunnefjord saßen drei Kinder. Ich dachte, es könnte schön sein, in einem Boot zu sitzen und zu angeln. Dann verschwanden Kinder und Boot hinter einem Haus und einigen Bäumen.

    Hallo, sagte Felix Mork.

    Er beschnitt gerade eine Hecke, mit nackten Füßen in Holzschuhen und einem Strohhut auf dem Kopf. Neben ihm ging seine neue Frau in einem sonnengelb-violetten Kittel und goss die Beete aus einer großen grauen Aluminiumkanne.

    Wie nett, Agathe, sagte sie. Hast du den Sommerjob hinter dir?

    Ja.

    Hat das Spaß gemacht?

    So ziemlich.

    Was ist der größte Schlager des Sommers?, fragte Felix.

    Vielleicht irgendwas von den Beatles, sagte ich.

    Ach, sagte Felix, als hätte er sich eine andere Antwort gewünscht.

    Die sind unten am Strand, sagte seine Frau, sie richtete sich auf und zeigte hinüber.

    Da waren Leon und Inger und außerdem Laila, Leons ein Jahr ältere Schwester. Sie lagen nebeneinander auf ihren Handtüchern, mit glänzenden, feuchten Körpern; bald lag ich bei ihnen, und etwas war los. Ich sah es, spürte es, was war es? Etwas, das die Distanz zwischen uns vergrößerte, zwischen ihnen und mir, sie wussten etwas, von dem ich ausgeschlossen war.

    Leon ist an der Kunst- und Handwerksschule angenommen worden, sagte Laila dann bald. Ist das nicht toll?

    Ihre Stimme zitterte ein bisschen, als ob sie geahnt hätte, dass mich das traurig machen würde.

    Denn es war nicht toll. Es bedeutete, dass er in unserer Klasse am Nissen aufhören würde, dass ich ihn nicht mehr jeden Tag in der Schule treffen würde, dass wir nicht zusammen auf der Bühne stehen würden, um die Nachkommen amerikanischer Sklaven zu spielen.

    Herzlichen Glückwunsch, sagte ich tonlos.

    Er hat im Frühling irgendwann eine Mappe mit Zeichnungen eingereicht, erzählte Inger.

    Schon im Frühling, und mir hatte er nichts erzählt. Vielleicht sogar, ehe wir in der Bibliothek über Charleston gelesen hatten.

    Herzlichen Glückwunsch, sagte ich müde.

    Komm, wir baden, sagte Laila.

    Wir schwammen hinaus, nur sie und ich.

    Ich kann ja verstehen, dass du enttäuscht bist, sagte sie.

    Das Wasser fühlte sich an meinem Körper eiskalt an.

    Er hat niemandem von der Bewerbung erzählt, sagte jetzt Laila. Nicht unseren Eltern. Nicht einmal mir. Und auch nicht Inger oder Felix.

    Ein magerer Trost.

    In der Klasse sind doch noch immer viele gute Leute sagte Inger, als wir wieder auf den Handtüchern lagen.

    Und außer mir hören auch noch andere auf, sagte Leon wie als Entschuldigung.

    Er hatte das erfahren, als er sich im Sekretariat abgemeldet hatte. Es ging um das Schauspieltalent mit den dunklen Augen und um das Mädchen mit dem jüdischen Nachnamen und den rabenschwarzen Haaren, das war die, die immer im Schlosspark saß und Gitarre spielte und Protestlieder sang.

    Sie kam sich im Vergleich zu uns anderen vielleicht ein bisschen erwachsen vor, sagte Leon.

    War das die, die mit dem Redakteur zusammen war?, fragte Laila.

    Ja, oder, wenn er kein Redakteur war, dann jedenfalls Journalist. Der hat bei Orientering gearbeitet. Der sozialistischen Zeitung.

    Ein erwachsener Mann. Genau wie mein Philip. Wir vier hatten einmal zusammen in Club 7 ein Konzert von Cornelis Vreeswijk besucht. Nach dem Konzert hatten wir mit dem Künstler zusammengesessen, der Journalist hatte ihn vorher interviewt.

    Du findest unsere Schule doch auch einen Kindergarten, sagte Leon zu mir.

    Die Schule ist ein Kindergarten, sagte Laila. Wir werden behandelt wie Drecksgören.

    Wir lagen eine Weile still da und sonnten uns. Ich dachte an Cornelis Vreeswijk. Eins seiner Lieder handelte von einer gewissen Veronica, wie Mama, und mir fiel ein Stück Text ein: Veronica, Veronica, dein Strumpfband ward gestohlen, von einem Mann, der ohne dich nicht leben kann. Und ich dachte an Philip, mit uns war schon eine ganze Weile Schluss, aber gerade jetzt hätte ich ihn gern hier bei mir gehabt, damit er mir eine warme Hand ins Kreuz legen könnte.

    Summerhill, sagte Laila.

    Sie hatte es schon einmal gesagt, ich erinnerte mich vage; sie hatte es vor zwei Jahren erwähnt, als sie die Schule geschmissen hatte und mit einem Freund in einen Kellerraum gezogen war. Eine Schule in England, das wusste ich, wo die Schüler ernstgenommen wurden.

    Das weißt du doch, Agathe?, fragte Laila.

    Was denn?

    Dass Summerhill nach Norwegen gekommen ist?

    Norwegisches Summerhill?

    Das Versuchsgymnasium, sagte Laila.

    Mir schoss alles durch den Kopf, was ich über Schulen gedacht hatte. Dass wir dorthin gingen, um uns anzupassen. Um den Umgang mit anderen Menschen zu lernen. Während Lernen etwas anderes war, etwas, das später kam, auf der Universität.

    Meine französische Kusine ging auf die Universität. Madeleine studierte Weltliteratur, und das war phantastisch, das hatte sie gesagt. Wir waren gleich alt, trotzdem studierte sie bereits, und ich würde es ihr erst in zwei Jahren gleichtun können, weil das französische Schulsystem anders war als unseres. Und sie hatte mir geschrieben, wie phantastisch es sei, stundenlang einfach nur lesen zu können. Die Sprache ist viel jünger als Höhlenmalereien und Musik, hatte sie geschrieben. Sprachliche Äußerungen sind erst seit fünftausend Jahren belegt. Was die wohl gesagt haben, fragte sie und dichtete: Ich habe eine Sternschnuppe gesehen.

    Schülerdemokratie, sagte Laila. Auf dem Versuchsgymnasium. gibt es Vollversammlungen, bei denen Lehrer und Schüler auf Augenhöhe miteinander reden.

    Unglaublich, sagte ich. Gehst du dahin?

    Klar doch.

    Ich will auch, sagte Inger.

    Jetzt im Herbst?, fragte ich verwirrt. Inger hatte doch nur den Abschluss von der Grundschule.

    Ich muss ja zuerst das Realschulexamen machen. Felix hilft mir.

    Und ich, sagte Leon. Ich helfe ihr bei Mathe.

    Er fasste sie an, als er das sagte. Legte eine Hand auf ihre leicht sonnverbrannte Schulter, nicht lange, nur einen Moment, und sie schob ihn nicht weg, und dabei konnte sie es doch nicht ertragen, wenn Männer oder Jungen sie berührten.

    Sie war weitergekommen, das ging mir jetzt auf, durch die Stunden beim Psychologen und durch Leons behutsame Berührung. Wie weit wohl?

    Nächstes Jahr, sagte Inger. Dann bin ich bereit fürs Gymnasium. Dann kann ich die Aufnahmeprüfung als Externe machen.

    Wie schön, sagte ich.

    Schön – schön, dass sie lernte, dass Leon sie anfassen konnte.

    Alles kam mir traurig vor, als ich sie verließ. Einsam. Die Schule ohne Leon. Der spürbare Zusammenhalt auf Nesodden, von dem ich ausgeschlossen war.

    Und Mama, die verschwunden war.

    Ich hätte es erzählt, wenn Leon allein gewesen wäre. Oder Inger. So hatte ich den Mund gehalten.

    Mama brach durch meine Gedanken auf der Fahrt zurück zum Rathauskai. Sie stand auf einem Hocker und schaute durch kleine bunte Bleiglasfenster zum Mond hoch. Sie öffnete das Fenster, und ich nahm einen schwachen Luftzug wahr, als ich dort auf der Fähre saß, und der graue Schleier einer Gardine berührte meine Wange.

    Ich hatte sie nie besucht, sie und Lennart; sie hatte uns nie eingeladen. Was für eine Frau macht denn sowas, hatte Ingers Mutter getadelt. Sie selbst war eine, die ohne Umschweife sagen konnte, was sie meinte, sie konnte schimpfen und fluchen und mit Gegenständen werfen, nach ihren Kindern und ihrem trunksüchtigen Mann. Aber sie blieb bei ihnen. Sie brannte niemals durch.

    Mama verließ uns mit einem tomatenroten Koffer und einer gelben Handtasche. Ihre restlichen Habseligkeiten musste ich in graubraune Pappkartons packen. Lennart und Philip saßen im Wohnzimmer, während ich packte; Lennart drehte sich die eine bleistiftdünne Zigarette nach der anderen, zündete sie an und rauchte mit nervösen Bewegungen und nervösem Atem.

    Was für eine Mutter lässt ihre Kinder im Stich?

    Ihr Rücken, ich sah ihren Rücken vor mir, an jenem Tag. Der war steif. Sie war gegangen, ohne sich umzuschauen. Hatte sie geweint? Das glaubte ich nicht.

    Sollte ich mir Sorgen machen, weil sie weg war? Hatte sie das verdient? Sie hatte versprochen, zu meiner Konfirmationsfeier zu kommen, das war einer der Gründe, aus denen ich mich konfirmieren ließ. Dass Mama gesagt hatte, sie werde kommen. Wir hatten jeden Abend nach dem Essen zusammengesessen und geplant, Oma und Opa und ich, hatten die Gästeliste aufgestellt, hatten die Tischordnung festgelegt, ich sollte zwischen Mama und Isak sitzen.

    Dann rief sie an und sagte ab, das sagte sie zu Opa, nicht zu mir.

    Ich war in Bekkelaget gewesen, weil Oma mein Kleid nähte, es war wunderbar und meerblau, sagte Oma, nein, seegrün, sagte Opa, und wir hatten gelacht, denn es war nicht wichtig, und als ich das Kleid zum letzten Mal anprobiert hatte, war Opa um mich herumgeschlichen und hatte tanzen wollen, fast, als ob er beschwipst sei. Gerade da hatte Mama angerufen. Als Opa hörte, wer es war, fragte er, ob sie nicht lieber mit mir sprechen wollte. Aber das wollte sie nicht, sie wollte nur sagen, dass sie doch nicht kommen werde.

    Dann hatte sie aufgelegt.

    Und deshalb hatte ich an der Festtafel zwischen Opa und Isak gesessen, ich hatte Isak und Oma vorgeschlagen, aber Opa hatte darauf bestanden. Ich hatte kaum eine der Reden gehört. Ich weiß, dass Morten für mich Posaune gespielt hat, aber ich habe keine Ahnung, welche Stücke.

    Was Mama wohl gesagt hätte, wenn sie das von Philip und mir wüsste?

    Wir waren zum ersten Mal zusammen gewesen, als ich sechzehn war und er zweiunddreißig, Oma und Opa waren entsetzt. Ob Mama uns ausgelacht hätte, wenn sie es gewusst hätte?

    Spielte das für mich eine Rolle?

    Sie liebte Mondschein. Das wusste ich noch von ganz früher her. Wir hatten manchmal bei Oma und Opa auf der Dachterrasse gestanden, nur Mama und ich, ehe ich fünf wurde und wir ins Reihenhaus zogen, wir waren auf dem Dach über dem Musikzimmer gewesen, und sie hatte mich an sich gedrückt, fest, warm, und wir hatten zu den funkelnden Punkten in der Dunkelheit hochgeschaut, in der blauschwarzen Nacht, die keine Decke war, sondern eine Tiefe.

    Aber als wir dann in Lilleberg wohnten, hatte sie mich nie mehr an sich gedrückt und die Sterne als kleine Diamanten bezeichnet, die zu Schmuckstücken auf einem Samtkleid werden konnten.

    Ihre Wohnung liege im Erdgeschoss, hatte Lennart gesagt, dort in Kopenhagen; ein alter Milchladen, hatte er außerdem erzählt. Und ihr Nachthemd hing noch im Badezimmer. Mama hatte sich angezogen und war durch

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